Jetzt zuschlagen? Aktien ja - aber nicht wegen sinkender Inflation


Kapitalmarktanalyst Halver empfiehlt Hightech-Werte aus den USA und konjunkturabhängige Werte aus Europa.
(Foto: picture alliance / Ulrich Baumgarten)
Der Finanzmarkt hofft angesichts des überraschend großen Rückgangs der Inflationsraten auf sinkende Zinsen. Aktien erscheinen da mehr denn je als sinnvolle Geldanlage. Dafür gibt es allerdings noch günstigere Zeitpunkte als jetzt.
Der bekannteste Wall-Street-Index Dow Jones Industrial hat am Vorabend den höchsten Stand seit rund zwei Jahren erklommen, der DAX am Morgen die Marke von 16.300 Punkten übersprungen. Treiber ist die Hoffnung auf bald sinkende Zinsen, nachdem die Inflationsraten deutlich zurückgegangen sind. In Deutschland erreichte die Preissteigerung im November mit 3,2 Prozent den niedrigsten Stand seit rund zweieinhalb Jahren, in der Euro-Zone legten die Verbraucherpreise sogar nur noch um 2,4 Prozent zu. Der italienische Leitindex markierte am Donnerstag ein 15-Jahres-Hoch, der spanische Index stieg auf ein Fünf-Jahres-Hoch. Stehen für Anleger nun alle Zeichen auf Aktienkauf?
"Die sinkende Inflation könnte zu Zinssenkungen führen, das ist grundsätzlich gut für Aktien", sagt Stefan Riße, Kapitalmarktstratege des Vermögensverwalters Acatis, im Gespräch mit ntv.de. Robert Halver, der die Kapitalmarktanalyse der Baader Bank leitet, drückt es gegenüber ntv.de so aus: "Zinsen sind der klassische Feind der Aktien - wenn sie sinken, ist das für die Aktienmärkte positiv." Am Finanzmarkt wird mit dem Beginn der Zinssenkungsphase bereits im zweiten Quartal 2024 gerechnet. Auch Halver erwartet ab dem Frühjahr drei bis vier, wenn nicht mehr Zinssenkungen, sowohl in den USA als auch im Euroraum.
Riße hingegen rechnet im ersten Halbjahr 2024 noch nicht mit Zinssenkungen. Denn "erstmals in der Geschichte ist der Wirtschaftsabschwung nicht gepaart mit starken Entlassungen, im Gegenteil herrscht in vielen Bereichen ein Arbeitskräftemangel". Aufgabe der Notenbanken ist die Preisstabilität - um die Inflation zu bekämpfen, halten sie die Zinsen hoch. Ihr übergeordnetes Ziel sei die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, so Risse. Bei einem robusten Arbeitsmarkt können die Notenbanker mit Zinssenkungen noch warten.
Bei steigender Inflation sinnvoller
Riße erwartet, dass sich die aktuelle Konjunkturschwäche erst einmal weiter verschärft, die zahlreichen Pleiten in der Baubranche werden seiner Einschätzung nach auch in anderen Sektoren folgen. Die Zinsen werden nach seiner Prognose dann erst im zweiten Halbjahr 2024 sinken.
"Ist das Anlass, jetzt Aktien zu kaufen? Nein", findet der Kapitalmarktstratege. Denn bei Rezessionen fällt der Aktienmarkt ebenfalls. Riße erinnert an die Finanzkrise, die im Sommer 2007 begann. "Direkt im Anschluss sahen wir die ersten Zinssenkungen, die letzten Ende 2008 - und das Börsen-Tief war im März 2009. Zu meinen, mit einer ersten Zinssenkung dreht sich alles, ist also falsch." Der Marktkenner erwartet deshalb nicht, dass der Aktienmarkt seine jüngste Aufwärtsbewegung noch verstärken kann. In seinen Augen hat der Markt nur abgebildet, dass der Zinshöhepunkt erreicht sei. "Dass er jetzt weitergetragen wird von Zinssenkungen, das sehe ich nicht."
Langfristig sollten Anleger auf jeden Fall in Aktien investieren, stellt Riße klar. Allerdings noch umso mehr bei steigenden Inflationsraten als bei Preisstabilität oder sinkenden Inflationsraten. "Denn Aktien sind der beste Inflationsschutz, wie sich gezeigt hat." Immobilien hingegen verloren angesichts der gestiegenen Zinsen an Wert, ebenso unverzinstes Gold. "Nur die Aktien haben sich echt gut geschlagen, wir sind ja annähernd beim Rekordniveau." Der Grund: Mit der Inflation steigen nominal auch die Umsätze und Gewinne der Unternehmen, zumindest bei stabilen Gewinnmargen. "Und das haben wir zuletzt beobachtet", sagt der Marktexperte. "Mit Vorprodukten - die deutschen Erzeugerpreise stiegen im September 2022 um 45 Prozent - verdienten sich Unternehmen sogar eine goldene Nase."
Nun kommt es auf die EZB an
Halver sieht den richtigen Zeitpunkt für den Aktienkauf längst gekommen. Er rechnet mit einer Konjunkturstabilisierung infolge der Zinssenkungen, die die Wirtschaft ankurbeln. Die folglich höheren Unternehmensgewinne kämen dem Aktienmarkt zugute. Seine Empfehlung lautet ohnehin, Aktien regelmäßig in Form von Sparplänen zu kaufen. Auf Branchenebene empfiehlt er vor allem zwei: Hightech-Werte aus den USA, weil deren Geschäftsmodelle intakt seien und Zinssenkungsfantasien die hohen Unternehmensbewertungen rechtfertigten. In Europa sollten Anleger Halver zufolge auf die zyklischen, also konjunkturabhängigen Werte setzen, denen die allmähliche Stabilisierung der Weltkonjunktur im kommenden Jahr zugutekomme. "Da die Werte sehr günstig sind, sollte man unter anderem in Maschinenbau, Elektrotechnik, Chemie investieren."
Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte ihren Zinserhöhungskurs nach zehn Anhebungen in Serie im Oktober vorerst gestoppt. Der am Finanzmarkt maßgebliche Einlagensatz, den Geldhäuser für das Parken überschüssiger Gelder von der Notenbank erhalten, liegt aktuell bei 4,00 Prozent. Das ist das höchste Niveau seit dem Start der Währungsunion 1999. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hatte unlängst gesagt, in den nächsten paar Quartalen sei keine Änderung zu erwarten. Die letzte Zinssitzung im laufenden Jahr ist am 14. Dezember. Experten gehen davon aus, dass die EZB den Zinssatz dann beibehält. Bundesbank-Präsident Joachim Nagel sagte in dieser Woche, es erscheine ihm "deutlich zu früh, über eine mögliche Senkung der Leitzinsen überhaupt auch nur nachzudenken".
Deglobalisierung dürfte Inflation treiben
Die Interpretation, dass die Inflationsraten aufgrund der Geldpolitik der EZB gesunken seien, hält Kapitalmarktstratege Riße für "Blödsinn". Grund für den Inflationsrückgang seien stattdessen die Basiseffekte: Im vergangenen Jahr waren die Preise infolge des Ukraine-Kriegs so drastisch gestiegen, dass sie jetzt im Vergleich dazu nicht mehr stark steigen. Inflationsraten bilden die Teuerung im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ab. Im Vergleich zum Vorjahr sinken die Erzeuger- und Importpreise zurzeit sogar, was die Erhöhung der Verbraucherpreise dämpft.
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Für die Zukunft rechnet Riße mit höheren Inflationsraten als in den vergangenen Jahrzehnten. Aus drei Gründen: wegen des Umbaus der Wirtschaft Richtung Klimaneutralität, der Demografie sowie wegen einer Deglobalisierung, also der Rückholung von Teilen der Produktion aus Billiglohnländern als geopolitische Strategie. In den vergangenen 30 Jahren sorgten etwa günstige Arbeitskräfte in China für stabile Preise in Deutschland. "Massenprodukte sind ja sogar billiger geworden", stellt Riße fest. "Ein Fernseher kostet heute im Verhältnis zum Einkommen etwa ein Fünftel dessen, was er vor 40 Jahren gekostet hat." Vor allem dieser Globalisierungseffekt falle nun weg, da die arbeitsfähige Bevölkerung in China schrumpft und die Löhne dort inzwischen - im Gegensatz zu früher - stärker steigen als die Produktivität. "Wie sich die Inflation in einem Jahr weiterentwickelt, wird man also sehen müssen."
Quelle: ntv.de, mit rts und dpa