Dramatischer Medikamentenmangel Apotheker sieht Versorgung von Krebspatienten in Gefahr


Eine hoch entwickelte Gesellschaft wie unsere sollte es sich nicht leisten, wegen fehlender Wirkstoffe Krebsmedikamente nicht zur Verfügung zu haben, findet Apotheker Christian Wegner.
(Foto: picture alliance / Rolf Vennenbernd/dpa)
Seit Jahren herrschen in Deutschland regelmäßig Engpässe bei Arzneien, so auch aktuell. Medizinunternehmer Christian Wegner erklärt im Gespräch mit ntv.de, wo er dabei den eigentlichen Skandal sieht und wie sich gegensteuern ließe.
Beim derzeitigen Mangel an Medikamenten handelt es sich in den Augen von Apothekern um einen Skandal. "Das eigentliche Problem liegt in der Versorgung von Schwerstkranken", sagt Verbandsmitglied Christian Wegner im Gespräch mit ntv.de. "In der onkologischen Versorgung haben wir im Moment wirklich akute Probleme", berichtet der Apotheker, der auch das Unternehmen Medipolis betreibt, das Schwerstkranke zu Hause mit Medikamenten samt Verabreichung versorgt. Wegen fehlender Wirkstoffe bestehe die Gefahr, dass in den kommenden Wochen Chemotherapien verschoben werden müssen - wie bereits im vergangenen Jahr. "Das sollte sich eine hoch entwickelte Gesellschaft einfach nicht leisten."
Engpässe herrschen Wegner zufolge fast nur bei Generika, also Arzneimitteln, deren Zusammensetzung Markenprodukten gleicht, die nach Ablaufen von deren Patent aber billiger angeboten werden. Die Ursachen des Mangels liegen laut dem Apotheker in der weltweit gestiegenen Nachfrage und vor allem der geringen Wirtschaftlichkeit. So würden heute zum einen mehr Menschen behandelt, weil die Weltbevölkerung wächst und die Sozialsysteme von Schwellenländern leistungsfähiger werden. Zum anderen lasse sich inzwischen so wenig mit Generika verdienen, dass nur noch einzelne Hersteller - vor allem in China und Indien - an der Produktion festhalten. Unternehmen setzten nun mal auf die Märkte, in denen sie am meisten Geld verdienen können.
Wolle man die Wirkstoffproduktion in die westlichen Industrieländer zurückholen, sollte die Gesellschaft mehr Geld für diesen Bereich zur Verfügung stellen, findet Wegner. Aus Unternehmersicht käme dieses Geld idealerweise aus höheren Sozialabgaben, aus Bürgersicht durch eine Umverteilung innerhalb der Pharmabranche. Das zu entscheiden, sei Sache der Politik.
Weitere Verschärfung des Mangels droht
Eine Finanzierung durch die Branche selbst wäre beispielsweise möglich, indem Hersteller verpflichtet würden, ein Mittel auch nach Auslaufen des Patentschutzes in bestimmten Mengen weiterzuproduzieren - zum Preis von Generika. Wegner gibt allerdings die hohen Forschungsausgaben der Pharmaunternehmen zu bedenken.

Apotheker Christian Wegner versorgt mit seinem Unternehmen Schwerstkranke zu Hause.
(Foto: Medipolis)
Die Produktion von Wirkstoffen und Generika in Europa könnte auch gefördert werden, indem Krankenkassen verpflichtet würden, nicht nur auf den Preis, sondern auch auf Lieferkettensicherheit zu achten, schlägt der Unternehmer vor. Die derzeitigen Lieferketten können schnell reißen. Gibt es beispielsweise für ein Medikament nur noch zwei Hersteller weltweit und bei einem der beiden fällt ein Teil der Produktion etwa wegen technischer Probleme oder einer Verunreinigung vorübergehend aus, kann der zweite Hersteller die Nachfrage nicht mehr decken.
Verpflichtungen zu Vorräten bestimmter Medikamente, wie sie zuletzt für Krankenhäuser, Apotheken und Pharmaindustrie verschärft wurden, sieht der Apotheker jedoch kritisch. Werde ein Lieferengpass bekannt oder absehbar, werde dieser durch die Vorratspflicht noch beschleunigt, sagt Wegner. Denn Hersteller begrenzten in dem Fall sofort ihre Auslieferungen. "Ich kann als Apotheker die gesetzliche Pflicht gar nicht erfüllen, weil in dem Moment, wo das bekannt wird, der Markt leergefegt ist."
Der Unternehmer fürchtet, der Mangel an Generika könnte sich bald sogar noch verschärfen, statt gelöst zu werden: wenn die EU ihre Pläne umsetzt, die Pharmabranche an den Kosten der Abwasserreinigung zu beteiligen. Der Großteil problematischer Stoffe in Gewässern stammt demnach aus kosmetischen und pharmazeutischen Produkten, deshalb sollen die Reinigungsstufen von Kläranlagen erhöht werden. Wegner geht davon aus, dass Arzneimittelhersteller bei solchen Zusatzkosten in Milliardenhöhe ihr ganzes Portfolio durchgehen würden und "unwirtschaftliche Produkte völlig emotionslos streichen". Betroffen wären laut dem Apotheker "relativ kleine Produkte, die keine großen Umsätze machen, aber eben für manche Therapie-Situation absolut essenziell sind".
Quelle: ntv.de