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Integrieren statt abschieben "Migrationshintergrund macht überdurchschnittlich erfolgreich"

Jeder und jede vierte Deutsche haben einen Migrationshintergrund.

Jeder und jede vierte Deutsche haben einen Migrationshintergrund.

(Foto: picture alliance / Panama Pictures)

In Deutschland leben 23 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Auch in der Startup-Szene nehmen sie eine wichtige Rolle ein: Ein Fünftel der Beschäftigten kommt nicht aus Europa. Doch beim Gründen fühlt sich eine Mehrheit der migrantischen Unternehmer (57 Prozent) laut einer aktuellen Studie des Startup Verbandes benachteiligt. Sie geben komplizierte Behördengänge, fehlende Finanzierungen und Netzwerke als Hürden an. Ihr beruflicher Erfolg hätte für Deutschland gleich zwei Vorteile: Fast zwei Drittel der jungen Unternehmen, die eine Milliarde Euro oder mehr wert sind, hätten einen Gründer mit Migrationshintergrund, sagt Unternehmerin Gülsah Wilke im ntv-Podcast "Startup - Jetzt ganz ehrlich!". Außerdem sei Arbeit ein entscheidender Schlüssel zur Integration und zum Ankommen.

ntv.de: Welchen Einfluss hat die Herkunft auf den beruflichen Erfolg?

Gülsah Wilke: Menschen mit zwei Herzen, also mit zwei Kulturen und vielleicht zwei Heimatländern, werden in ganz frühen Jahren mit ihrem Anderssein konfrontiert. Das beginnt bei der Sprache. Meine Eltern kommen aus der Türkei. Ich habe Deutsch erst in der Kita und der Grundschule richtig gelernt. Genauso ist es bei anderen Dingen. Kinder mit zwei Herzen sind deswegen schon in jungem Alter resilienter und lernen, mit Rückschlägen umzugehen. Das ist ein Skill. Gerade der Umgang mit Unsicherheit kann später beim Gründen helfen. Zwei Herzen sind kein Nachteil, sondern eine große Bereicherung auf allen Ebenen. Sowohl für die Wirtschaft als auch für die Gesellschaft und für unser Land.

Gülsah Wilke hat 2020 den gemeinnützigen Verein 2hearts gegründet. Ihre Mission: Studierende, Job- Anfänger sowie Gründerinnen und Gründer mit Migrationshintergrund zu fördern und zu vernetzen.

Gülsah Wilke hat 2020 den gemeinnützigen Verein 2hearts gegründet. Ihre Mission: Studierende, Job- Anfänger sowie Gründerinnen und Gründer mit Migrationshintergrund zu fördern und zu vernetzen.

(Foto: Gülsah Wilke möchte die deutsche Tech-Szene diverser machen. Deshalb gründete sie 2020 den gemeinnützigen Verein 2hearts: Studierende, Job-Anfänger sowie Gründerinnen und Gründer mit Migrationshintergrund werden gefördert und vernetzt.)

Das scheint nicht jeder in Deutschland so zu sehen. Hat Sie der Correctiv-Bericht über das geheime Treffen von Rechtsextremen in Potsdam, bei dem die Vertreibung von Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland diskutiert wurde, überrascht?

Wenn ich ehrlich bin, nein. Jeder von uns hat eine Veränderung in der Gesellschaft in der Meinung zu Menschen mit zwei Herzen gemerkt. Die Recherche von Correctiv konfrontiert uns allerdings mit Tatsachen, die wir als nicht existent wahrgenommen haben. Ich bin Deutsche. Ich bin hier geboren. Ich lebe hier seit fast 37 Jahren. Ich habe mich nie als etwas anderes gesehen. Wenn man von solchen Plänen erfährt, fragt man sich schon: Bin ich deutsch genug? Und was, wenn das wirklich passiert?

Macht Ihnen das Angst?

Angst ist ein großes Wort, es bereitet mir Sorgen. Ich würde zu den 23 Millionen Menschen gehören, die abgeschoben werden würden. Das ist fast jeder vierte Deutsche. Und ich bin sehr privilegiert, aber es gibt sehr viele Menschen, die nicht so ein Netzwerk haben wie ich. Was wird aus denen? Das sind viele tolle Menschen, die dieses Land mit aufgebaut haben und weiter aufbauen.

Warum werden Menschen mit "zwei Herzen" in einigen Teilen der Gesellschaft eher als Belastung statt als Bereicherung wahrgenommen?

Das ist in meinen Augen ein Vorwand. Es gibt gerade eine große Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Landesweit in unterschiedlichsten Schichten, nicht nur im Osten. Das müssen wir ernst nehmen. Nicht alle, die eine bestimmte Partei wählen, sind Rassisten. Das möchte ich einfach nicht glauben. Der Ausländerhass ist Vorwand, um Frust abzubauen über vieles, was in den letzten Jahren schiefgegangen ist.

Ihre Großeltern sind als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. In einem Interview haben Sie gesagt, dass die Arbeit für Ihren Großvater damals identitätsstiftend war. Wie wichtig ist es, einem Beruf nachgehen zu können? Gerade als Migrant, wenn man neu in ein Land kommt?

Meine Großeltern sind in den 60er Jahren nach Deutschland gekommen. Sie haben alles zurückgelassen, ihre Familie, sogar ihre Kinder, ihre Existenz. Sie sind ohne Geld, Sprache oder Kontakte in ein komplett fremdes Land gegangen. Mein Opa hat damals bei den Ford-Werken in Köln am Fließband gearbeitet, seine Kollegen waren dadurch seine neue Familie. Nicht nur Kollegen mit Migrationsgeschichte, sondern auch ohne. Dieser Aspekt der Integration ist extrem wichtig. Wir müssen als Land anerkennen, dass Arbeit ein entscheidender Schlüssel zur Integration und zum Ankommen ist.

Sie selbst haben sich zum Ziel gesetzt, die deutsche Tech-Szene diverser zu machen und deshalb 2020 den gemeinnützigen Verein 2hearts gegründet. Worum geht es dabei?

Wenn man auf meinen Lebenslauf schaut, das Bild und meinen Namen zudeckt, würde man denken, ich heiße Max Mustermann. Ich habe durch Glück, aber auch viele tolle Mentoren und natürlich harte Arbeit Sachen gemacht, die für Menschen mit Migrationsgeschichte nicht selbstverständlich waren. Es gibt noch immer eine gläserne Decke. Deshalb wollen wir als Unternehmer und Investoren unsere Erlebnisse, Erfahrungen, Expertise, unsere Netzwerke öffnen für junge Menschen, um Chancengleichheit in der Technologieszene für ein erfolgreiches Deutschland zu schaffen.

Man darf auch nicht vergessen: Das erste Investment eines Startups kommt oftmals von der eigenen Familie. Viele Gründer gehen auf teure Universitäten. Es findet ein Ausleseprozess statt, der viel mit Geld zu tun hat. Dieses Vitamin B fehlt vielen unserer Mitglieder, weil sie oftmals aus sozial benachteiligten Schichten kommen.

Die Startup-Szene stellt sich gerne als modern, offen und divers dar. Dabei fließt nur 0,7 Prozent des Risikokapitals in Gründerinnen und Gründer mit Migrationshintergrund.

Die Technologieszene ist jung, man kann noch sehr viel gestalten. Es ist eine Industrie, die viele Menschen mit Migrationsgeschichte beschäftigt. Wenn es aber ums Gründen geht und darum, Kapital zu bekommen, sind Gründer mit Migrationsgeschichte schlechter gestellt. Gleichzeitig haben mehr als 60 Prozent der Unicorns, also Startups mit einer Bewertung von einer Milliarde Dollar oder mehr, einen Gründer mit Migrationshintergrund. Das zeigt, dass sie überdurchschnittlich erfolgreich sind. Deswegen sage ich immer: Menschen mit Migrationsgeschichte zu unterstützen, ist keine Charity, sondern ein Business-Case. Wir als Land brauchen Menschen mit zwei Herzen. Hier geht es um unsere Zukunft, um unseren Wohlstand.

Mit Gülsah Wilke sprach Janna Linke. Das vollständige Gespräch können Sie sich im ntv-Podcast "Startup - jetzt ganz ehrlich" anhören.

Startup - Jetzt ganz ehrlich

Was verbirgt sich hinter der schillernden Fassade der Startup-Szene? Janna Linke weiß es. Im Podcast "Startup - Jetzt ganz ehrlich" wirft sie jede Woche einen Blick hinter die Kulissen der Gründerszene und spricht über Themen, die gerade Schlagzeilen machen. Sie ordnet ein, hakt nach. Persönlich, ehrlich und mit einem echten Mehrwert. Dafür spricht sie mit Persönlichkeiten der Szene, Expertinnen und Experten und gibt euch den absoluten Rundumblick. Gemeinsam taucht ihr tief ein in die Startup-Welt.

"Startup - jetzt ganz ehrlich" - der Podcast mit Janna Linke. Auf RTL+ und überall, wo es Podcasts gibt: Amazon Music, Apple Podcasts, Spotify, RSS-Feed

Quelle: ntv.de

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