Schicksalsstätte des deutschen Fußballs 90 Jahre Mythos Wembley
25.05.2013, 16:09 Uhr
Seit 1966 ist Wembley, Stätte des Weltfußballs, untrennbar mit Deutschland verbunden.
(Foto: picture alliance / dpa)
Uwe Seeler und Co. beförderte das "Wembley-Tor" einst ins Tal der Tränen. "Krauts kaputt" war fortan ein geflügeltes Wort unter Engländern - bis die Verhältnisse 1972 wieder gerade gerückt wurden. Deutsche Fußballer schrieben in Wembley Geschichte.
Die ersten deutschen Final-Touristen klopfen sich regelmäßig auf die Schenkel, der gemeine Brite findet es gar nicht witzig: "Warum freuen sich die Engländer so sehr auf das Finale der Champions League?", lautet die beliebteste Scherzfrage in den Londoner Pubs. Die Antwort: "Weil sie endlich wieder eine deutsche Mannschaft in Wembley verlieren sehen werden." Kleiner Witz, große Wahrheit: Wembley, jene legendäre Stätte des Weltfußballs, ist untrennbar mit Deutschland verbunden.
Verbunden seit 1966, als Geoff Hurst jenes Tor schoss, oder besser, nicht schoss. Das einzige und wahre "Wembley-Tor", das Uwe Seeler und Co. ins Tal der Tränen beförderte und dem wie als Wiedergutmachung eine nun fast fünf Jahrzehnte währende Liebesgeschichte mit den "Krauts" folgte. Eine Romanze, die Bayern München und Borussia Dortmund nun um ein weiteres denkwürdiges Kapitel bereichern wollen - auch wenn es für einen der beiden Kontrahenten kein Happy-End geben wird.
"Habe den Ball im Netz zappeln sehen"
"Die Kirche, die Hauptstadt, das Herz des Fußballs", nannte einst Pelé jenes Stadion im Nordwesten Londons, dessen 90-jährige Historie kaum hätte absurder beginnen können. 200.000 Zuschauer wollten am 28. April 1923 das erste Spiel nach der Eröffnung miterleben, das Doppelte der Gesamtkapazität. Da das Endspiel um den FA-Cup zwischen West Ham und Bolton erst angepfiffen werden konnte, nachdem Police Constable Scorey samt Schimmel Billie die Zuschauer-Massen hinter die Auslinien gedrängt hatte, ging die Partie als "White Horse Final" in die Annalen ein.

Der von Geoff Hurst geschossene Ball knallt von der Latte auf den Boden. Tor? Oder doch kein Tor?
(Foto: picture alliance / dpa)
Die deutsche Geschichte Wembleys begann 1965, als sich 1860 München eine erste Abfuhr einhandelte: 0:2 vor 97.974 Zuschauern im Europapokal-Finale der Pokalsieger. "Das große Erlebnis, in Wembley in einem Finale gespielt und gut ausgesehen zu haben, nimmt uns niemand mehr", schwärmte Löwen-Legende Petar R adenkovic. Die beiden großen West-Ham-Stars, Kapitän Bobby Moore und Stürmer Hurst, ahnten noch nicht, dass sie zwölf Monate später an gleicher Stelle einen ungleich größeren Titel gegen eine deutsche Mannschaft feiern würden. Im WM-Finale 1966 traf Hurst in der 101. Minute die Unterkante der Latte. Der Rest ist bekannt: Neben Bundespräsident Heinrich Lübke ("Ich habe den Ball im Netz zappeln sehen") sah nur Linienrichter Tofik Bachramow den Ball im Tor, Hursts zweiter von drei Treffern zum 3:2 sorgte für ein deutsches Trauma.
Spiel "aus der Tiefe des Raumes"
"Krauts kaputt" wurde in England zum geflügelten Wort - allerdings nur für sechs Jahre, ehe das wohl beste Spiel einer deutschen Mannschaft die Verhältnisse in Wembley geraderückte: Das 3:1 im EM-Viertelfinale 1972 wurde zur Demonstration deutscher Fußballkunst. Günter Netzer, dessen Spiel "aus der Tiefe des Raumes" seither sprichwörtlich war, sagte: "Der Sieg von Wembley hat den Geist unserer Mannschaft geprägt - davon haben wir jahrelang profitiert."
1996 revanchierte sich die DFB-Elf bei der EM erneut, diesmal gleich doppelt. Die Bilder des in Tränen aufgelösten englischen Stars Paul Gascoigne nach der Halbfinal-Pleite im Elfmeterschießen auf Wembleys heiligem Boden gingen um die Welt, gleichsam jene von Oliver Bierhoffs Jubel nach dem Golden Goal im Finale gegen Tschechien.
Das deutsche Trauma war endgültig überwunden, es wurde zum englischen. "Wenn man in Wembley eine Party feiern will, darf man auf keinen Fall die Deutschen einladen", sagte Alan Shearer. Zum Party-Crasher wurde vor allem Dietmar Hamann: Im August 2000 erzielte der Liverpool-Profi in der WM-Qualifikation das entscheidende 1:0. Es war im letzten Spiel vor der Schließung des alten Wembley-Stadions das letzte Tor.
Kathedrale des Fußballs
Nach der emotionalen Demontage durch den Scharfschützen aus der Oberpfalz blieb Wembley drei Jahre ein stilles Mahnmal, nach finanziellen und politischen Problemen rückten erst 2003 die echten Abrissbirnen an. Vier Jahre und 1,4 Milliarden Euro Aufwand später stand die neue 90.000-Zuschauer-Arena. Die bösen englischen Fußball-Geister blieben allerdings: Am 22. August 2007 traf Christian Pander zum 2:1-Endstand und besiegelte damit die erste Niederlage Englands in Neu-Wembley.
Dort ist die bauliche Eleganz der 20er Jahre mit den berühmten Twin Towers seit dem Neubau protziger Postmoderne gewichen. Dennoch sind Mythos und Legende immer noch greifbar: "Wenn das alte Stadion die Kirche des Fußballs war", sagt Pelé, "dann ist dies seine Kathedrale."
Quelle: ntv.de, Von Christoph Leuchtenberg, SID