Leben

Aus der Schmoll-Ecke Es ist wirklich schon wie in der DDR

Wer nie am Intershop angestanden hat, weiß gar nicht, wovon die Rede ist.

Wer nie am Intershop angestanden hat, weiß gar nicht, wovon die Rede ist.

(Foto: picture-alliance / dpa)

Unsere Wohlstandsgesellschaft steht vor größtmöglichen Herausforderungen. Lieferengpässe! Schrecklich! Alarm! Wenigstens gibt es noch Bananen. Doch wie lange noch? Unser Kolumnist macht sich Sorgen.

Narrativ! Geschätzte Leserschaft, wir brauchen ein Narrativ! Oder zwei. Besser drei. Denn nur Narren kommen ohne Narrative aus! Sie denken: Mensch, der Schmoll schreibt wieder Sätze hin, die gehaltvoll klingen, aber in Wahrheit substanzlos sind. Was soll ich dazu sagen? Stimmt. Ich wollte endlich einmal den Begriff "Narrativ" in einem meiner Werke unterbringen. Denn mir ist aufgefallen, dass ich noch nie über ein Narrativ geschrieben habe, obwohl kluge und bedeutende Menschen, zu denen ich mich dank meiner progressiven Haltung zum Leben (und zum Tod) zählen darf, das Wort ständig gebrauchen, um Dinge zu erklären, von denen andere keine Ahnung haben.

In der Rückschau auf die vielen Jahre meines Schaffens, des endlosen Gehackes auf diversen Tastaturen - mal waren sie weiß, mal schwarz, zum Geschlecht kann ich nichts sagen -, weiß ich wirklich nicht, wie ich diesen narrativlosen Zustand ausgehalten habe. Während Kollegen brillante Sätze über "Narrative der Desinformation" - die Rechten sind an allem schuld - für die Ewigkeit hinterließen, war ich an dieser Stelle blank. Narrativ. Narrative. Narrativ. Nun habe ich ein gewisses Nachholbedürfnis. Wäre ich ein Zauberer mit weißem Haar, würde ich rufen: Flieht, ihr Narrative!

Ich stehe vor einem Rätsel, das ich selbst geschaffen habe. Wie konnte ein bravouröser Kolumnist wie ich nie über Narrative schreiben? Wo mich doch neulich ein Vorstandschef wissen ließ: "Sie sind halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschland." Ich gebe zu, es ist nicht korrekt, aus einer privaten Mail zu zitieren. Zumindest mir geht es so, dass ich manches Übertriebene und Unsinnige in einer privaten Unterhaltung sage oder schreibe, mitunter bin ich ironisch. Es ist besser, dass Sie nicht wissen, was ich über Signal und Whatsapp oder in Mails so an politisch Unkorrektem und Schweinekram verschicke, stets ohne zu gendern: Wenn das rauskäme! Vorsicht, es ist nie zu spät, sich nach unten zu vögeln.

Außerdem ist das Zitat oben aus dem Zusammenhang gerissen und verkürzt wiedergegeben. Man nennt so etwas Manipulation. Vollständig hieß der Satz: "Sie sind halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen das Narrativ aufbegehrt, dass alles schlecht ist im neuen DDR-Obrigkeitsstaat." Das tue ich gern, weil ich weiß: Schon früher war nicht alles besser, aber einfacher. Kalter Krieg, zwei Blöcke, dort die Guten, hier die Bösen - das war's. Damals durfte man nicht sagen, was man wollte - was einem Ärger und bisweilen Gefängnis ersparte. Da gab es noch kein Twitter, da hauten sich nicht Betroffene und Nicht-Betroffene die Moralkeulen über die Schädel. Alle waren betroffen, das vereint, schweißt zusammen, verbunden durch das Narrativ, dass alle solidarisch waren. Nur nicht an der Mauer, da wurde man erschossen.

"Nehm Se ersd ma Blatz, störn Se nich"

Sie sollten den Artikel "Ostdeutsche Identität: Zwischen medialen Narrativen und eigenem Erleben" lesen, den die Bundeszentrale für politische Bildung im Internet öffentlich frei zur Verfügung stellt. Dann wissen Sie, warum es so gekommen ist, wie es kommen musste. Da wird gefragt: "Inwieweit erlangen die stark medial geprägten Narrative über Ostdeutschland eine subjektive Relevanz für die Identitätskonstruktion der Ostdeutschen?"

Denken Sie an die Sache mit dem Sänger neulich in meiner Heimatstadt Leipzig. Das glaubte man doch sofort, weil in Sachsen nun mal viele Nazis leben. Auch Antisemiten. Die kein Hochdeutsch können. Das kann zu Missverständnissen führen. Stellen Sie sich vor, ein Hotelangestellter bittet einen Gast um Geduld: "Nehm Se ersd ma Blatz, störn Se nich und haldn Se eens fuffzig Abschdand wie übberall im Land." Wer des Sächsischen nicht mächtig ist, könnte durchaus verstehen: "Nehmen Sie erst einmal Platz und den Stern ab und halten Sie 1,50 Meter Abstand zu Schland."

Das klingt wie die Forderung, eine Kette mit einem Stern abzunehmen und Deutschland zu verlassen, kann zu einem Fall für die Staatsanwaltschaft werden und dazu beitragen, dass stark medial geprägte Narrative über Ostdeutschland eine subjektive Relevanz für die Identitätskonstruktion der Ostdeutschen haben. Ich bin bisher vor so etwas gefeit gewesen, bilde mir meine eigene Meinung. Mich muss niemand aufrufen, Messen zu boykottieren. Ich gehe von selbst nicht hin. Was soll ich auf der Grünen Woche?

Ist das nicht total cringe, was ich hier schreibe? Ich empfinde es so, was mir zu denken geben sollte. Aber gut, ich habe früher auch "Plaste" und nicht "Plastik" gesagt, ohne mich dafür zu schämen. Vielleicht haben medial geprägte Narrative über Ostdeutschland eine subjektive Relevanz auf die Konstruktion meiner Identität. Das kann ich nicht ausschließen. Vielleicht gerate ich in eine Identitätskrise - ausgerechnet jetzt, wo die DDR zurückkehrt und wir Deutschen darben müssen wie seinerzeit im Land des Dauermangels. Sie ist wieder da! Lieferengpässe! Hilfe!

Arme Wohlstandsgesellschaft

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Neulich sah ich in der Glotze einen verzweifelten jungen Mann, der seit Wochen versuchte, die neuste Version der Playstation zu kaufen - vergebens. Bücher können bald nicht mehr gedruckt werden, weil kein Papier da ist. (Nur das fürs Klo.) "Bei einem Viertel der Textil-, Schuh- und Lederwarenhändler fehlen aktuell sogar 20 bis 40 Prozent der Herbst- und Winterware", lässt uns ein Handelsverband neulich wissen, dass wir den Gürtel enger schnallen müssen - wenn es überhaupt noch welche zu kaufen gibt. Man könnte von leeren Läden reden. Da werden unschöne Erinnerungen an die Ostzone wach. Mein Supermarkt verströmt noch BRD-Feeling, Bananen gibt es in Hülle und Fülle. Zonen-Schmoll im Glück! Seine 432.987 Banane.

Man wird doch wohl noch alles einkaufen dürfen, oder? Oh je, arme verwöhnte Wohlstandsgesellschaft, ich bin bei dir - und bei Ihnen, Geknechtete des Konsums. Ich bleibe Ihr wirklich letzter und einziger Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen das Narrativ aufbegehrt, dass nicht alles schlecht ist im neuen DDR-Obrigkeitsstaat. Sie kennen mich. Ich bin Thomas Schmoll und darauf können Sie sich verlassen. Sie wissen doch von der blechernen Hundemarke des Pudels meiner Oma, die sie mir auf dem Sterbebett mit den Worten überreichte: "Schreib den Leuten, sie können dir vertrauen." Ich wäre da vorsichtiger an Ihrer Stelle. Schließlich veröffentliche ich Auszüge aus privaten Mails.

Quelle: ntv.de

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