Leben

Briefe von Juden an den Papst "Fünf Stellvertreter" im Theater "Berliner Ensemble"

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Nach und nach werden die Archivbestände jetzt von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gesichtet.

(Foto: via REUTERS)

2020 ordnet Papst Franziskus an, dass Briefe und Dokumente von im Nationalsozialismus verfolgten Juden Wissenschaftlern zugänglich gemacht werden. Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf bekommt seitdem Einblicke, die einem den Atem stocken lassen. Auch auf der Bühne.

Manche der Briefe an den Papst beginnen mit "Eure Majestät". Weil die Menschen, die während des Zweiten Weltkrieges dem Papst schreiben und verzweifelt um Hilfe bitten, einfach nicht wissen, wie man ihn anspricht. Aber sie sind ganz sicher, wenn ihnen jemand helfen kann, dann der Papst. Der Stellvertreter Christi auf Erden. Er ist der Einzige, der sie, die Juden, vor der Deportation in die Vernichtungslager und dem sicheren Tod bewahren kann. Welch ein tragischer Irrtum.

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Pius XII. hat vermutlich nicht jeden der verzweifelten Briefe gelesen.

(Foto: imago/UIG)

In den Vatikanischen Archiven lagern bis zu 15.000 Briefe, die Juden während der Zeit des Nationalsozialismus an den Heiligen Stuhl geschrieben haben. An Papst Pius XII. selbst, den Kardinalsstaatssekretär oder nur an die Kurie. In der Hoffnung, dass die katholische Kirche, wenn sie nur von den Plänen der Nazis für die sogenannte "Endlösung" wüsste, ihren Einfluss geltend machen und sie retten würde. Oder wenigstens dieses Unrecht in die Welt hinausschreien. Das ist nicht passiert. Womöglich gab es hier und da mal ein Flüstern, ein leises verstohlenes Wort. Aber einen Aufschrei, den man bis Amerika hätte hören können, den gab es nicht.

Jahrzehntelang hat der Vatikan diese Briefe unter strengstem Verschluss gehalten. Und konnte dennoch nicht verhindern, dass die Öffentlichkeit davon erfuhr. Der Dramatiker Rolf Hochhuth hat schon 1963 in seinem Stück "Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel" die Frage nach der Mitschuld der katholischen Kirche an der Verfolgung und Ermordung der Juden in Nazi-Deutschland gestellt. Papst Pius XII., der "Diplomat" unter den Päpsten, lässt er in seinem Schauspiel sagen: "Ein Diplomat muss manches sehen und schweigen." Hochhuth wirft ihm vor, sich trotz seiner Kenntnis vom Holocaust nicht, ganz sicher aber nicht ausreichend, für die Juden eingesetzt zu haben. Außerdem habe Pius geschwiegen, als er mit seiner Autorität als Oberhaupt der katholischen Kirche die Weltöffentlichkeit hätte informieren und aufrütteln sollen.

"Heiliger Vater, retten Sie uns!"

Nach Hochhuths "Stellvertreter" sollte noch mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen, bis sich die Vatikanischen Archive öffnen würden. Im März 2020 hat Papst Franziskus angeordnet, dass die Briefe und Tausende weiterer Dokumente Wissenschaftlern zugänglich gemacht werden. Einer von ihnen ist Professor Hubert Wolf. Der Kirchenhistoriker von der Westfälischen Wilhelmsuniversität Münster bekommt seitdem Einblicke in Briefe an den Papst. Briefe, die einem den Atem stocken lassen. Briefe wie den eines blutjungen Berliner Juden:

"Heiliger Vater, retten Sie uns! Ich bin ein Rabbinats-Kandidat, 19 Jahre alt. Ich habe noch keinen einzigen guten Tag in meinem Leben gehabt. Meine Wiege stand in Berlin, dann musste ich fliehen, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Zunächst ging ich nach Warschau, dann nach Amsterdam, nach Paris, dann nach Toulouse und nun sitze ich Ende 1942 in Toulouse und die Deportation in ein Vernichtungslager steht bevor. Retten Sie uns! Retten Sie mich und meine Familie! Wir wissen, dass es einen einzigen Schöpfer im Himmel gibt. Er wird es Ihnen danken. Sprechen Sie mit der Schweizer Fremdenverkehrspolizei, damit wir ein Visum bekommen, damit mein Bruder, meine Eltern und ich gerettet werden. Retten Sie uns!"

Forschung hat gerade begonnen

Die Ilse-Holzapfel-Stiftung, benannt nach der Mutter von Rolf Hochhuth, hat am Vorabend des Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz fünf dieser Briefe auf die Bühne gebracht. Iris Berben und Thomas Thieme, zwei der renommiertesten deutschen Schauspieler, haben im "Berliner Ensemble" aus den Originalbriefen gelesen. Kein Theaterabend wie jeder andere, kein Engagement wie jedes andere. Für Iris Berben ist es "eine Möglichkeit, mit meinen eigenen Fragen, mit meiner eigenen Verunsicherung, mit meinem eigenen Suchen nach Antworten daran teilzunehmen, dass das Thema nicht ad acta gelegt wird".

Thomas Thieme, wie Iris Berben ein Star in der Film- und Fernsehwelt, sieht seine Arbeit vor allem darin, sich als Schauspieler zurückzunehmen und die Briefe für sich selbst sprechen zu lassen. "Viel wichtiger ist, dass man authentisch in die Texte reingeht und diese Emotionen, die ja wahnsinnig intensiv aus diesen Briefen hervorkommen, dass man die einfach, ohne sie nochmal zu färben oder aufzublasen, ins Publikum bringt und das Publikum damit auch emotionalisiert."

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Wolf hat Einblick in Briefe, die verfolgte Jüdinnen und Juden in höchster Not schrieben.

(Foto: picture alliance/dpa)

Der Kirchenhistoriker Wolf geht davon aus, dass es noch 10, 15 Jahre dauern könnte, bis man überhaupt eine wissenschaftliche Einschätzung darüber abgeben kann, welche der Briefe überhaupt den Papst oder wenigstens sein enges Umfeld erreicht haben und ob es an der einen oder anderen Stelle vielleicht doch eine Reaktion gab.

Ein eigener Kampf mit der Kirche

Berben hat als Jugendliche einige Jahre in einem katholischen Nonnenkloster verbracht. Diese Zeit, so erzählt sie ntv.de, hat sie geprägt. Ihr eigenes Verhältnis zur katholischen Kirche ist bis heute ambivalent. Als Mädchen, etwa zehn, elf Jahre alt, stand sie mit ihrer Mutter auf dem Petersplatz in Rom und nahm in einer Generalaudienz den Segen des Papstes entgegen. "Ich war fasziniert, beeindruckt. Das war so ein einschneidendes Erlebnis, den Papst so nah zu sehen. Und alles das hat sich ins Gegenteil verwandelt, je älter ich wurde, je mehr Fragen ich hatte und je weniger Antworten ich bekam. Das ist vielleicht die Ausgangssituation, warum ich der Kirche - auch zu Themen wie Frauen, Homosexualität oder der sehr zögerlichen Aufklärung von Missbrauchsfällen - sehr kritisch, sehr skeptisch gegenüberstehe."

Im Sacre-Coeur-Internat wurde von den Schülerinnen unbedingter Gehorsam eingefordert, Fragen wurden nicht gestellt, die Mädchen sollten glauben. Als junge Frau habe sie dann all jene Fragen, die sie nicht stellen durfte, die Antworten, die sie nicht bekommen hat, infrage gestellt. In der Nachkriegszeit, als die Öffentlichkeit von den Gräueltaten der Nazis in den Konzentrationslagern erfuhr und auch die junge Iris das erste Mal mit dem Holocaust konfrontiert wurde, fing sie an, sich zu fragen, wie sich eigentlich die Kirche in dieser Zeit verhalten hat: "Es gab damals zwei Antworten. Es gab die Haltung des Papstes und die habe ich mir sehr schnell zu eigen gemacht, quasi zu meiner eigenen Antwort gemacht. Und es gab natürlich genau das Gegenteil. Es war mein eigener Kampf mit der Kirche, mit dem Glauben, mit einer Institution, die bis dahin ein ganz wichtiger, prägender Teil meiner Entwicklung gewesen ist."

Thomas Thieme, der neben ihr auf der Bühne des "Berliner Ensembles" liest, beschreibt seine Haltung zur Kirche als weit weniger emotional: "Wenn ich ganz ehrlich antworten soll, habe ich überhaupt keine Haltung zur Kirche. Ich bin getauft und konfirmiert in der DDR, da war das schon fast eine kleine Rebellion. Meine Eltern bestanden darauf. Aber dann habe ich das irgendwie schleifen lassen. Die Kirche gehörte nie zu meinem Interessengebiet. Ich habe Kirchenväter gelesen, ich habe Augustin gelesen. Das habe ich sehr gern getan, weil man viel über den Mensch erfährt. Aber die Kirche als Institution? Ich kann noch nicht mal sagen, dass ich sie ablehne. Weil ich sie gar nicht verstehe. Ich sehe es als Theater, da sind die Katholiken Weltmeister, dagegen ist das deutsche Stadttheater eine langweilige Veranstaltung. Kirche, das macht wirklich was her. Das sehe ich alles. Aber letztendlich muss ich zugeben, im tiefsten Innern verstehe ich es nicht."

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Iris Berben und Thomas Thieme während der Lesung.

(Foto: Yvonne de Andrés)

Als Vorbereitung auf die Lesung im "Berliner Ensemble" haben sich beide nochmal in Hochhuths "Stellvertreter" vertieft, in die Anmerkungen und Einwände von Hubert Wolf. Die Empörung sei geblieben, aber sie habe sich verändert. Ist vielleicht nicht mehr so kompromisslos, sagt Berben: "Ich habe versucht zu verstehen, dass mit der Härte, die man hatte, nicht alles beantwortet werden konnte und auch immer noch beantwortet werden kann. Wie war denn nur wirklich die Haltung des Papstes? War es ein Taktieren, weil es der Kirche ermöglicht hat, dann in einem anderen Rahmen zu agieren? War es die Möglichkeit der Kirche, selbst ihre Stellung zu erhalten, in dem der Papst sich nicht in die Angelegenheiten des Staates einbringen wollte? Sind es eigene Erfahrungen, die er hatte? Denn er galt ja ein als wahnsinnig diplomatischer Mensch."

"Ich bin nicht der Klugscheißer"

Auch Thieme hat mehr Fragen als Antworten: "Wenn man den 'Stellvertreter' korrekt liest, steht gar nicht Pius im Mittelpunkt. Im Mittelpunkt stehen Nuntien und so Leute. Ich bin nicht der Typ, der nicht draufhaut, wenn es ekelhaft ist. Hier bin ich durch diesen Text ein bisschen nachdenklicher geworden. Ich dachte, da kommt ein Brief von einem Juden aus Deutschland, auf der Flucht, und der ist an Seine Heiligkeit gerichtet und Seine Heiligkeit wird ja, so wie Franz Beckenbauer auch nicht alle Autogrammbriefe in seinem Leben gesehen hat, diese Briefe wahrscheinlich auch nicht gesehen haben. Und dann kommt es ja sehr darauf an, wie geht man damit um. Wie gehen wir damit um. Und da muss ich Ihnen ehrlich sagen, ich habe zu wenig für die Welt getan in meinem Leben, um mich jetzt als Richter hinzustellen. Ich lese das mit Empathie vor und das wars. Ich bin nicht der Klugscheißer, der weiß, was hätte geschehen können. Natürlich ist es im hohen Maße bedauerlich, dass nichts passiert ist und es wird auch Schuldige geben."

Daran habe er keinen Zweifel und einer der Schuldigen sei mit Sicherheit der Papst. "Aber die ganze Sache scheint mir komplexer als arme, verfolgte Menschen auf der einen Seite und Arschloch Papst auf der anderen. Das würde mir zu kurz greifen. Vielleicht ist das auch schon eine Altersschwäche bei mir. Vor 30 Jahren hätte ich draufgehauen. Jetzt bin ich 74 und verstehe jeden Menschen. Ich finde das schon nicht sonderlich anständig, wie das gelaufen ist. Aber wie das im Einzelnen gelaufen ist und welcher drittklassige Kirchenmann da geantwortet hat, wir können nichts tun, das ist ja nach so vielen Jahren nicht endgültig zu verfolgen." Einigermaßen ratlos steht Thieme vor der Frage, ob der Papst tatsächlich nicht gewusst hat, was in Deutschland los ist, was da mit den Leuten passiert. "Er hätte doch wenigstens eine Kommission einsetzen müssen, die die Briefe liest, sich aktiv damit beschäftigt und den Menschen hilft. Und das hat er ganz offensichtlich versäumt. Was man ihm mit Sicherheit vorwerfen muss, ist eine hohe Instinktlosigkeit."

Monatelange Vorbereitung

Iris Berben und Thomas Thieme sind Schauspieler, die schwierige Stoffe nie gescheut haben. Aber vor dieser Lesung hatten beide Respekt, auch weil das Echo darauf unberechenbar ist. Echte Briefe, keine Fiktion. Auch wenn der Autor Alexander Pfeuffer Zwischentexte beisteuert, bleiben es echte Schicksale. Schon Monate vorher hat sich ein kleines Team um die beiden Schauspieler zusammengesetzt, um zu überlegen, wie dieser Theaterabend aussehen kann. Ein Abend, den Iris Berben als eine "ungewisse Reise" bezeichnet. Sicherheit hat ihr der Mann gegeben, der neben ihr auf der Bühne saß: "Ich habe mit Thomas Thieme so einen tollen Mann an meiner Seite. Ich liebe ihn. Wir haben so viele unterschiedliche Lesungen miteinander gemacht, gern miteinander gearbeitet. Ich würde ihn als meinen Freund bezeichnen und ich bin wirklich extrem vorsichtig mit diesem Wort. Thomas weiß das." Und er gibt das Kompliment gern zurück: "Natürlich freue ich mich darauf. Nicht über das, was damals passiert ist. Aber ich freue mich über die Gelegenheit, mit meiner tollen Kollegin diese ausgegrabenen Texte zu lesen. Es ist ja kein Theaterstück, wie man es kennt. Es sind echte Briefe und die sind einfach so aussagekräftig, so emotional."

Jahrzehntelang waren die Briefe der Juden an den Papst unter Verschluss, bevor Papst Franziskus die Archive für die Forschung öffnen ließ. Für Wissenschaftler wie Professor Wolf aus Münster ein "Eldorado". Kritiker der Kurie glauben, dass dieser Schritt ein Versuch der Kirche ist, sich von der Schuld reinzuwaschen. Zu belegen, dass damals eben doch geholfen wurde. Immerhin wird Stück für Stück immer mehr an die Öffentlichkeit kommen. Und dann? Wenn aus einem Verdacht Gewissheit wird, was dann?

Iris Berben: "Ich habe schon extrem kluge Vertreter der katholischen Kirche kennenlernen dürfen und ich glaube, es ist in der Kirche wie überall in unserer Gesellschaft: Es gibt aufgeschlossene Menschen, die sich stellen und auch Argumente haben. Dafür und dagegen. Und es gibt Menschen, die aus einer Komfortzone nicht herauskommen wollen und die diese Diskussion gar nicht zu einer Diskussion machen wollen. Ich kann mir vorstellen, dass beide Vertreter in dieser Kirche vorhanden sind. Inwieweit die sich dann öffentlich zu dieser Frage äußern, das kann man natürlich überhaupt nicht sagen. Ignorieren ist ja auch etwas, was die katholische Kirche ganz gut drauf hat. Ich bin wirklich gespannt. Ich bin gespannt, macht so ein Abend etwas, stößt er etwas an, womöglich in eine gute Richtung. Für sämtliche Konservative wird es, so wie damals, als Hochhuth mit seinem Stellvertreter rausging, auch weiterhin ein Aufschrei bleiben, und dann wird es ein paar Menschen geben, die vielleicht sagen, es ist gut, wenn wir Dinge mit größter Akribie versuchen zu erkennen."

5 von 15.000 Briefen gaben dem Stück von Alexander Pfeuffer seinen Namen: "Fünf Stellvertreter". Die Nähe zu Hochhuths Schauspiel ist ganz sicher kein Zufall. "Retten Sie uns! Haben Sie Mitleid!" sind die letzten Worte zweier Briefe und die letzten Worte, die Iris Berben und Thomas Thieme lesen. Danach ist es so still im "Berliner Ensemble", man hätte die sprichwörtliche Nadel fallen hören können, bevor Applaus aufbrandet. Ein in jeder Hinsicht beeindruckender und gleichzeitig bedrückender Abend im "Berliner Ensemble".

Quelle: ntv.de

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