"The Curvy Way of Life" Mehrgewichtige sind sexy, klug und begehrenswert
30.10.2022, 10:13 Uhr
Die Autorin und Chefredakteurin Carola Niemann will gegen die Stigmatisierung von Mehrgewichtigen vorgehen.
Carola Niemann, Chefredakteurin von "The Curvy Magazine", hat ein Buch geschrieben. Es geht um unser Gewicht und wie wir damit umgehen. Sie räumt vehement auf mit Vorurteilen gegenüber mehrgewichtigen Menschen und ruft dazu auf, sich nicht gegenseitig auf Grund von Äußerlichkeiten bewerten. Ein Gespräch über Kurven, Sichtbarkeit und Trends, die keine bleiben dürfen.
ntv.de: Es scheint sich etwas zu ändern: Alle Formen, Farben, jedes Alter - in der Werbung zumindest und auf einigen Fashion-Shows. Sehe ich das richtig, passiert da was?
Carola Niemann: Ja, da passiert was, aber um ganz ehrlich zu sein: Es ist toll, dass du das siehst - das sieht nicht jeder - aber wir müssen immer noch um Sichtbarkeit kämpfen. Es ist besser geworden, ganz klar, aber es ist noch nicht genug. Ich sage mal so: Es ist eher eine Art Trend.
Und wir wissen, was mit Trends passiert - sie verschwinden wieder.
Genau. Noch läuft das unter "Wir müssen das machen, wenn wir korrekt und hip sein wollen", ich weiß aber nicht, ob das Thema "Curvy" wirklich schon angekommen ist im echten Leben. Es fühlt sich für mich noch zu sehr nach Alibi an. Schön wäre es, wenn dieser "Trend" gelebt werden kann. Und auch, wenn dieser Trend noch mehr in den Geschäften ankäme. Denn es nützt ja nichts, wenn ich das auf dem Catwalk sehe, es diese Dinge dann aber gar nicht zu kaufen gibt. Ein normschöner Körper hat es einfach beim Shoppen - in dem Moment, wo du mehrgewichtig bist, wird es schwierig.
Kaufen ist das eine, aber was ist mit dem Alltag mehrgewichtiger Menschen? Müssen sich dicke Frauen immer noch anhören, zum Beispiel wenn sie einen dünnen Mann haben: "Der könnte ja auch 'ne Dünne haben?"
Es ist nicht einfach, als mehrgewichtiger Mensch durch die Welt zu laufen. Als dicke Frau ist es tatsächlich noch problematischer. Ein dicker Mann kann durchaus mit einer schlanken Frau zusammen sein, ohne sich Kommentare anhören zu müssen, andersherum ist es ein Hingucker. Genauso wie ein alter Mann eine junge Frau haben kann - andersherum ist es noch immer nicht akzeptiert. Dahinter steht, dass eine dicke Frau es nicht wert ist, von einem schlanken Mann geliebt zu werden. Und warum sollte sie nicht geliebt werden? Weil sie ein Manko hat. Und welches Manko könnte das sein? Kann ja nur das Fett sein.
Geht das im Kindesalter bereits los?
Ja. Bis jetzt wurden Frauen überwiegend dazu erzogen, sich als Konkurrenz zu sehen: Die eine hat längere Beine, schönere Haare, weißere Zähne als die andere. Und natürlich hat die Schönere immer gewonnen, wie wir es in den Neunzigerjahren zum Beispiel in jedem Film, in jeder Romcom sehen konnten. Wir Frauen müssen uns mehr solidarisieren, zu gemeinsamem Empowerment.
Auch die Love Interests sollten sich demnach weiterentwickeln.
Wenn man bedenkt, was für eine Aufregung es gab, als die erste schwarze Frau und ein weißer Mann sich küssten! Das war in einer Episode von "Star Trek", da küsst Kaptain Kirk (William Shatner) Lieutenant Uhura (Nichelle Nichols). Noch immer ein Skandal in den USA von 1968, da gemischtrassige Beziehungen ein Tabuthema waren. Es wäre also schön, wenn auch dicke Frauen mal das Love Interest von einem normalgewichtigen Mann sein könnten, im Film und im echten Leben. Dass das thematisiert wird, das wäre toll. Jahre nach Bridget Jones, die sich aus Kummer ihren Speck anfuttert, wäre es wirklich mal an der Zeit, dicken Frauen normale Rollen zu geben.
Ich spüre das Verlangen danach, Rollen aufzuweichen, Barrieren abzubauen: Körper, Alter, Hautfarbe. Thelma Buabeng zum Beispiel würde gern mal eine Anwältin oder Geliebte spielen und nicht immer nur die Putzfrau oder Geflüchtete.
Es ist alles in Bewegung, das ist richtig, aber es ist eben noch nicht genug. Deswegen habe ich dieses Buch jetzt geschrieben, deswegen gebe ich das "The Curvy Magazine" heraus. Deswegen gibt es jetzt BloggerInnen und InfluencerInnen, weil wir vorankommen möchten. Und deswegen müssen mehrgewichtige Menschen auch noch viel mehr in den Medien gezeigt werden. Es muss einfach normal sein, dass dicke Menschen auch sexy sein können, raffiniert, lustig, dass sie liebens- und begehrenswert sind. Ohne damit einen Fetisch bedienen zu müssen.
Männer sind da lockerer: Der einzige Mann in deinem Buch findet sich cool und sexy, obwohl er dick ist.
Das ist der Unterschied: Frauen wurden dazu erzogen, sich optimieren zu müssen. Wir leben in einer sehr männlichen Gesellschaft, in der es schlicht gesagt darum geht, "fuckable" zu sein. Beispiel Klamotten: Ein Mann probiert etwas an, sieht sich im Spiegel der Umkleidekabine und sagt: "Die sind zu dämlich, mir eine passende Hose zu schneidern." Eine Frau in derselben Situation geht frustriert nach Hause und beginnt eine Diät. Wir müssen dahin kommen, zu sagen: "Die sind zu dämlich, mir was auf meinen geilen Körper zu schneidern." (lacht) Ab Größe 40 wird es eine Herausforderung, passende Sachen zu finden.
Thema Übergewicht und Gesundheit ...
Das ist eines der zentralen Themen bei mehrgewichtigen Frauen: Wenn eine dicke Frau zum Arzt geht und sagt, ihre Schulter tut weh oder ihre Hüfte oder ihre Nieren, dann wird ein Arzt oder eine Ärztin überwiegend erst einmal dazu raten, abzunehmen. Als ob sich ein Nierenproblem dann in Luft auflösen würde. Aber erstmal sollen die Leute abnehmen, bevor weiter geschaut wird, was da los sein könnte. Welche Diagnose würde eine schlanke Frau bekommen, wenn sie Kopfschmerzen hätte? Dass sie abnehmen soll?
Das hieße ja, wenn ich abnehme, gehen alle meine Probleme weg.
Ja (lacht), das ist ein Riesenproblem! Da gibt es in der Szene schon viele Diskussionen. Da werden Adressen von Ärzten weitergereicht, die einen nicht schikanieren, einfach weil es ein Marathon sein kann, als dicker Mensch zum Arzt zu gehen. Viele werden so dargestellt, als wären sie undiszipliniert oder ungesund, aber das stimmt einfach nicht.
Thema Sport ...
Auch da passiert etwas: Sport für Übergewichtige ist nicht mehr nur zum Abnehmen oder Optimieren gedacht, sondern zum Ausgleich, für ein Wohlgefühl. Es gibt Curvy Yoga und andere curvy Sportarten, und da soll man am Ende des Tages nicht zwingend bei abnehmen und normschön sein, sondern sich wohl fühlen. Sind denn schlanke Menschen immer gesund? Auch nicht. Also, es stimmt nicht, dass wer dick ist, auch ungesund ist.
Oder selbst schuld.
Ja, das ist auch etwas, was ich anprangere: Dicke Menschen werden unaufgefordert über ihre Gesundheit angesprochen. Das macht man bei schlanken Menschen ja auch nicht, bloß weil sie mal ein bisschen blasser sind als sonst ... Dicke Menschen müssen sich sehr viel anhören über ihren Körper, ihre Gesundheit, ihr Wesen. Dick heißt undiszipliniert, faul, nicht leistungsfähig - es ist, als hätte man kein Schutzschild. Es ist unverschämt. Menschen, die hungern oder sich das Essen ständig verbieten, die sind mental auch krank oder zumindest angeschlagen.
Dabei ist es für alle so wichtig, sich mental gut zu fühlen.
Ja, das ist auch so ein Thema. Jemand, der sich akzeptiert, auch wenn er runder ist, ist oftmals besser drauf als jemand, der sich kasteit oder magersüchtig ist oder unter einem Kontrollzwang leidet, was das Essen angeht. Wir müssen lernen, dass unser Körper nicht unser Feind ist, wir müssen etwas dafür tun, dass er uns zusammenhält, dass er uns lachen lässt, dass er leistungsfähig ist, aber das muss nicht zwanghaft in einer Größe 36 oder 38 sein. Wir müssen lernen, auf unseren Körper zu hören, uns vernünftig zu ernähren, genug zu bewegen und dann mit uns selbst Frieden zu schließen. Manchmal sind rundere Menschen glücklicher als dünne Menschen, aber das stellt die Gesellschaft immer infrage.
Es fängt ja bereits bei pubertierenden Mädchen oder früher an, dass sie unzufrieden sind mit ihrem Körper ...
Sie machen sich mental kaputt, weil sie glauben, sie sind nicht gut genug für die Gesellschaft, sie seien nicht normschön. Wir müssen uns antrainieren, dass wir uns nicht gegenseitig aufgrund von Äußerlichkeiten bewerten. Also: "Hey, du hast abgenommen" bedeutet "toll", und "Hey, du hast zugenommen" bedeutet "Nicht so toll". Wissen wir denn, ob die Person, die abgenommen hat, nicht vielleicht krank ist oder Kummer hat? Wissen wir nicht. Aber schlank bedeutet eben gut, dick bedeutet schlecht. Das müssen wir uns und unseren Kindern abgewöhnen! Das ist auch nicht zeitgemäß! Und Komplimente kann man auch anders machen ...
Kommen wir zum Buch - so viele schöne mehrgewichtige Menschen!
(lacht) Ja, ich wollte viele Facetten zeigen! Muslima, Postbotin, Schauspieler - ja, einen Mann wollte ich mit hineinnehmen - Schwarze, Verheiratete und Ledige, mit oder ohne Kind, mit Mann - dick oder dünn - Sextherapeutin, Sängerin und so weiter.
Was ist die Absicht dahinter?
Ich präsentiere die Leute in dem Buch so, dass andere sich vielleicht inspiriert fühlen können. Ich wollte Leute zeigen, die nicht in der Warteschleife sind, also Menschen, die nicht darauf warten, dass sie endlich dünner werden und dann wird ihr Leben schön. Nein, ich wollte Leute zeigen, die dicker sind und trotzdem ein schönes Leben haben. Es sind Leute in dem Buch, die sagen, ich habe alles erreicht, was ich wollte: Ein Mann, Kinder, ein Beruf, der mich erfüllt. Um rückblickend festzustellen, dass das alles nichts mit der Kleidergröße zu tun hatte.
Das ist doch sehr beruhigend.
Ja, aber das muss auch endlich ankommen in den Köpfen, zum Beispiel auch in der Industrie. Selbst Parfüm oder Lippenstift wird mit gertenschlanken Frauen beworben, dabei tragen das nun auf jeden Fall auch mehrgewichtige Frauen. Die Industrie könnte weniger Zucker verarbeiten und weniger das unrealistische Schönheitsideal verbreiten, das viele Frauen - und Männer - unglaublich frustriert. Das sind gesellschaftliche Mechanismen, die man sich als Frau immer wieder vorführen muss: Warum brauche ich eine Lippen-OP, eine Fettabsaugung, warum habe ich diesen Druck eigentlich? Wie lange kann ein normaler Mensch dem denn standhalten? Wir müssen den Druck rausnehmen. Und Konsumenten sollten sich ganz genau überlegen, wem sie ihr hart verdientes Geld anvertrauen.
Mit Carola Niemann sprach Sabine Oelmann
Quelle: ntv.de