Der neue Ernst des Lebens Nora Bossong und "Die Geschmeidigen"
25.02.2022, 18:34 Uhr
Neues Motto, neue Sprache, neue Leute: die Generation 40+ regiert die Welt. Naja, zumindest Deutschland.
(Foto: picture alliance / Goldmann)
Nora Bossong hat eine kurzweilige und doch in die Tiefe gehende Analyse ihrer Generation verfasst, die sich jetzt mit Annalena Baerbock, Christian Lindner und vielen anderen in politischer Verantwortung befindet. Mit ntv.de spricht die Autorin über eine Fortysomething-Generation, die einiges anders - und besser - machen will.
ntv.de: "Die Geschmeidigen" heißt das Buch. Geschmeidig - das hört sich gut an, wenn es auf Shampoo-Flaschen steht. Wenn es um Menschen geht, dann klingt es etwas ausweichend, indifferent. Was war der Auslöser für Ihr Buch?
Nora Bossong: Es fing damit an, dass es einen Freund und mich in der Zeit rund um den Brexit nervte, dass man immer nur hörte - wenn etwas schiefgelaufen war - "ihr" hättet ja mal mehr tun können.
"Ihr" - also Ihre Generation im Allgemeinen, die Generation der Geschmeidigen?
Genau. Wir haben dann in der taz einen Artikel geschrieben, um unserer Wut auf unsere Generation Luft zu machen, und hatten bereits die Idee zu einem Buch, in dem es "pro Parlamentarismus" und um mehr oder überhaupt eine Beteiligung an der Demokratie gehen sollte. Aus dem gemeinsamen Buch wurde dann aus vielen Gründen nichts. In der Zeit des Sturms auf das Kapitol in Washington hatte ich dann aber mit einem Lektor von Ullstein zu tun und der fragte mich, ob ich mir vorstellen könnte, das Buch jetzt allein zu schreiben.
Und Sie fanden das Thema immer noch spannend …
Na klar. Auch wenn in der Zwischenzeit Joe Biden Präsident wurde und man ein wenig aufatmen konnte. Aber die aggressiven Kräfte im Hintergrund wirken ja immer noch und sind anscheinend jederzeit abrufbar. Außerdem habe ich während der Pandemie das Gefühl gehabt, dass ich nicht einfach einen Roman schreiben und mich in die Fiktion verziehen kann. Das heißt nicht, dass ich nie wieder Romane schreiben werde (lacht), aber jetzt hat es mir nicht gereicht.
Und dann haben Sie Ihren Fokus auf die eigene Generation gelegt …
Ich will diejenigen zu Wort kommen lassen, die Entscheidungsträger sind und daher die nächsten 20 Jahre maßgeblich mit beeinflussen. Mit denen, die jetzt die Weichen stellen, wollte ich sprechen. Ich wollte diese Leute kennenlernen - zum Teil kannte ich sie schon - und ich wollte aus ihrem Mund hören, was sie denken, was gerade unsere Probleme sind und wie wir die lösen können. Ich wollte wissen, was die Menschen geprägt hat, die in den Neunzigern Jugendliche waren.
Eine scheinbar recht friedliche Zeit …
Ja, ich habe mir aber von jedem erstmal erzählen lassen, was abseits von "Nine Eleven", dem furchtbarsten Ereignis dieses Jahrzehnts, beim Aufwachsen wichtig war.
Wer hat Sie besonders interessiert?
Mir war klar, dass ich von allen im Bundestag vertretenen Parteien jemanden dabeihaben will - das hat auch geklappt, außer bei der AfD. Alice Weidel hat sich nicht zurückgemeldet. Abseits des politischen Bereichs war es mir wichtig, mit Menschen zu sprechen, die unterschiedliche Biografien haben oder diverse Hintergründe, aus der Wirtschaft sollten Menschen dabei sein, und auch aus den Rechtswissenschaften. Bei der Kultur war ich zurückhaltender, weil ich selbst ja Schriftstellerin bin, und habe mich daher auf Daniel Kehlmann als den bekanntesten Kollegen meiner Generation beschränkt. Naja, und so einige andere spannende Leute sind noch dabei, wie Marie von Manteuffel von "Ärzte ohne Grenzen" zum Beispiel.
Um Gehör zu finden, ist man heute entweder sehr jung oder sehr alt, die Mitte scheint nicht so zu interessieren, habe ich den Eindruck. Ändert sich das gerade?
Man kennt die eigene Generation am besten, die Stärken und Schwächen. Und man weiß, was einen am meisten an sich selbst stört und ärgert. Damit meine ich eine gewisse Haltung. Denn klar, ich kann an Trump oder Brexit jetzt nicht wirklich etwas ändern, aber es ist eben eine bestimme Haltung, die zu lange dominiert hat: Politisch ist man dann, wenn es Spaß macht. Also: wenn man verkatert aus dem Club kommt, warum nicht eben noch auf eine Demo gehen und ein bisschen in der Sonne stehen. Ich überspitze (lacht). Aber wenn es dann regnet oder weniger Seifenblasen und Luftballons dabei sind, dann bleibt man auch gern zu Hause. Ich nehme mich davon nicht aus. Oder man stilisiert das eigene Private zum Politischen. Aber so sehr das Private auch politisch ist, finde ich es zu bequem, zu sagen, ja ich bin gerade auf Wohnungssuche und weil ich nichts finde, schreibe ich jetzt einen Blog darüber und das ist dann mein Beitrag gegen die Gentrifizierung. Ist okay, aber es gehört noch mehr dazu.
Persönliche Geschichten kommen gerade sehr gut an, Sie versuchen aber schon, sich aus dem Buch selbst herauszunehmen …
Ich finde, dass diese Geschichten über uns hinausgehen sollten. Mir fehlte, vor allem in den letzten zwei Jahren, der Blick über den Tellerrand. In Berlin sind Themen wie Gentrifizierung und soziale Ungleichheit total wichtig, aber das reicht mir nicht mehr. Ich möchte einen Blick auf das große politische Parkett werfen.
Beim Lesen darf man an dem Gefühl teilhaben, wie es war, als Gerhard Schröder Helmut Kohl abgelöst hat und Kanzler wurde, aber auch daran, wie schwer es Schröder dann fiel, seine Macht wieder abzugeben. Und dann auch noch an eine Frau, an Angela Merkel. Das war Fremdscham pur und hat sich ins Gedächtnis gebrannt, oder?
Ja, vor allem wenn man wie ich aus einem SPD-Haushalt mit großer Nähe zu den Grünen kommt. Selbst eine mega-linke Freundin von mir hat sich an dem Abend auf die Seite von Angel Merkel begeben, wenn man das so sagen kann. Für CDU-Verhältnisse war Merkel ja nun eh sehr sozialdemokratisch, das heißt, die Sympathien, die Merkel über die Jahre auch aus den linken Lagern bekommen hat, leiten sich nicht nur von diesem einen Wahlabend her. Aber da hat sich eine Art Abgrund aufgetan: Was durfte sich dieser Männerverein denn noch alles herausnehmen? Das, was Schröder gemacht hat, war Sexismus pur. Es war für viele schlicht nicht vorstellbar, dass Macht und Weiblichkeit zusammengehen.
Haben wir - Frauen - zu wenig draus gemacht? Dass wir jahrelang eine Kanzlerin hatten?
Ich glaube, es war gut, dass Merkel diese Karte nicht ausgespielt hat. Das ist Annalena Baerbock jetzt im Wahlkampf gerade auf die Füße gefallen. Eine nigerianische Frauenrechtlerin hat mir neulich gesagt, dass Deutschland sehr wichtig für sie sei, als Frau und als Nigerianerin: "Deutschland hatte eine weibliche Kanzlerin, das war immer das große Ideal." Was ich sagen will: Im Ausland wurde Merkel nochmal ganz anders wahrgenommen als in Deutschland. Und daran feilt jetzt auch Baerbock, sie gibt ein gutes Bild im Ausland ab. Sie legt einen Aufschlag nach dem anderen hin und schafft es, die Medienpräsenz aufrechtzuerhalten. Nach dem verpatzten Wahlkampf fällt das Resümee, für das es sicher zu früh ist, bisher gut aus.
Ist sie die nächste Angela Merkel?
Dafür ist es noch zu früh (lacht), aber sie zeigt eine neue Form von Frau und Macht, ganz sicher sehr viel femininer und auch modischer als Merkel, aber es funktioniert bislang. Und wenn sie dann einen Frontbesuch in der Ukraine absolviert, wirkt sie auch dort glaubwürdig und geerdet.
Im Buch sprechen Sie vom Ende einer Ära - ist das eher traurig oder Aufbruch?
Aufbruch. Aber auch mit einer gewissen Melancholie. Manches sollten wir aber wirklich endlich hinter uns lassen. Was mich an der SPD so wütend macht, ist, dass diese Partei es in ihrer ganzen Geschichte nicht einmal geschafft hat, eine Frau als Kanzlerkandidatin aufzustellen. Im Willy-Brandt-Haus geht man an einer Ahnengalerie voller Männer vorbei und fragt sich, wie es passieren konnte, dass da nie eine Frau dabeigewesen ist.
Wie sehen Sie Deutschlands Zukunft? Ist das Glas halb voll oder halb leer?
Ich glaube, es ist gerade an dem Punkt, wo einer den Wasserhahn aufdreht. Damit das Glas etwas voller wird. Meine Hoffnung ist, dass die jüngere Generation es verstanden hat, dass man Realpolitik wieder mit einer langfristigen Perspektive verknüpfen muss. Es geht manchmal nicht anders als mit Salamitaktik, aber wir müssen den Blick in Richtung der nächsten 20 Jahre werfen und nicht nur bis zum nächsten Wahlkampf denken. Dafür ein Narrativ zu finden ist für die anstehenden Probleme wie die Klimakrise fundamental wichtig. Ich finde es aber ebenso wichtig, Orientierung zu geben und Strömungen entgegenzutreten, in denen antidemokratische Ressentiments geschürt werden. Wir müssen es schaffen, Vertrauen in parlamentarische Prozesse zu stabilisieren.
Woran denken Sie da?
Extremisten überzeugt man nicht so einfach, aber es gibt Ressentiments eben nicht nur an den Rändern der Gesellschaft. Zu viele haben das Vorurteil, dass Politiker eh alle korrupt sind und sich Privilegien zuschustern.
Ich habe Hoffnung, dass die jüngere Generation den sogenannten Schuss gehört hat.
Im ersten Lockdown hatte ich den Eindruck, dass viele aufmerksamer wurden. Aber meine Hoffnung schwindet, ehrlich gesagt. Sobald wir alle wieder ganz locker und günstig hin- und herfliegen können, werden das die meisten auch wieder machen. Für einen Tag nach Argentinien, kein Problem, eine Lesung hier, eine Messe da, machen wir möglich. Ich glaube, der Mensch muss wirklich umdenken. Und lernen. Immer nur Zoom ist nicht die Lösung, schon klar, aber 20 Stunden Flug für zwei Lesungen sind auch Quatsch. Kann man nicht neue Formate suchen? Ich befürchte, die meisten wollen einfach wieder in ihren alten Status quo zurückfallen. Für seine Überzeugungen und Ideale einzustehen, ist viel schwieriger, als man denkt.
Mit Nora Bossong sprach Sabine Oelmann
Quelle: ntv.de