Panorama

Eine für alle Beim Eid des Hippokrates - Nazis raus, Habibi!

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Ein billiges Vorurteil besagt, dass bunte Polohemden Pflicht sind auf Sylt. Ein anderes, dass Schläge manchmal helfen. Beides stimmt nach Ansicht der Autorin nicht. (Foto: "Reunion", Sean Faris, Season 1, 2005)

Ein billiges Vorurteil besagt, dass bunte Polohemden Pflicht sind auf Sylt. Ein anderes, dass Schläge manchmal helfen. Beides stimmt nach Ansicht der Autorin nicht. (Foto: "Reunion", Sean Faris, Season 1, 2005)

(Foto: imago images/Everett Collection)

Ja, ein paar von denen, die zu Pfingsten auf Sylt dumme Parolen gegrölt haben, haben sich entschuldigt. Meinen die das ernst? Ist das nachhaltig? Und, was sich die Kolumnistin vor allen Dingen fragt: Kann man die umkehren? Zurückholen in den Schoß der Gesellschaft?

Ich habe heute mit einem Freund gesprochen, über Sylt, und dabei ging es nicht um unseren nächsten Urlaub, ist schon klar, oder? Ja, alles Scheiße, fast alles wurde gesagt. Aber wie geht es nun weiter? Wird #sylt jemals wieder frei und unbelastet genutzt werden können? Und warum hauen alle so auf Sylt drauf, wo es doch auf Fehmarn oder Usedom, in Vechta, Düsseldorf und an so vielen anderen Orten Deutschlands (und dieser Welt!) zu ähnlichen Szenen kommt oder kommen könnte?

Mein Freund, selbst oft und gern seit seiner Kindheit und mit den eigenen Kindern auf der Insel der sogenannten Schönen und Reichen, möchte mit mir "laut nachdenken". Er überlegt, wie man den piekfeinen Pöblern eine Chance geben könnte. "Wie bitte", denke ich zuerst, und doch, es ist ihm ernst. Der Mann ist keine Labertasche, sondern ein Macher. Er ist primär und vor allem Arzt, er hat den Eid des Hippokrates abgelegt, der besagt, dass er den Patienten möglichst wieder zum Leben erwecken will: "Die Gesundheit und das Wohlergehen meiner Patientin oder meines Patienten wird mein oberstes Anliegen sein. Ich werde die Autonomie und die Würde meiner Patientin oder meines Patienten respektieren. Ich werde den höchsten Respekt vor menschlichem Leben wahren", hat er geschworen. Denn Patienten kann sich ein Arzt meist (es sei denn, er rechnet nur privat ab) nicht aussuchen.

Der Patient heißt in unserem akuten Fall Deutschland, umfasst 80 Millionen, und alle, die bisher nicht bereits ausgewandert sind, sollten mithelfen, den Patienten wiederzubeleben. Oder anders ausgedrückt - mein Freund will den Menschen im (ehemaligen?) Land der Dichter und Denker eine Chance geben. Und wenn Sie jetzt denken: "Hat die Frau keine anderen Sorgen", dann würde ich gern mit: "Nein!" antworten, stimmt aber nicht. Dennoch finde ich, dass das Thema #sylt und alles, was damit einhergeht, LEIDER nicht vom Tisch ist, bloß weil nun zwei Wochen ins Land gegangen sind. Das Thema ist erst vom Tisch, wenn wir keine Nazi-Parolen mehr hören müssen, wenn Integration klappt und wenn an Hochschulen nicht mehr vollkommen dämlich randaliert wird (das ist nämlich gar kein Protest, keine Demonstration, da ist viel zu viel Zerstörungswut mit im Spiel). So, hätte ich das also auch gesagt.

Nazis raus, Habibi

Mein Freund denkt nun über Folgendes nach: Und zwar, die Polohemd- und Porsche-Prolls unter seine Fittiche zu nehmen, um ihnen den Einstieg zurück in die Gesellschaft zu ermöglichen. "Schon aus eigenem Interesse", sagt er, "ich hab' keinen Bock darauf, dass die Nummer sich auf meiner wunderschönen Insel wiederholt." Sicherlich ein frommer Wunsch, denke ich, aber wenn man nicht an das Gute glaubt, dann kann man sich auch gleich erschießen. "Eine gute Idee", sage ich, schon deswegen, weil er mich als moralische Instanz in Betracht zieht. Schließlich möchte er auf keinen Fall als "Nazi-Versteher" in die falsche Ecke gedrängt werden.

Dafür würde ich meine rechte Hand (ich bin allerdings Linkshänderin) ins Feuer legen, dass mein Freund kein Nazi-Versteher oder gar Nazi-Freund ist. "Ich versteh' dich", sage ich, "ich habe auch gerade darüber nachgedacht, dass das so nicht weitergehen kann." Mal abgesehen davon, dass Kinderschänder oder Typen, die ihre Frauen verprügeln - oder eine Universitäts-Präsidentin, die Beiträge auf X mit "Gefällt mir" markiert, in denen Israel-Hass und Antisemitismus verbreitet werden - in unserem Land ja tatsächlich mehr Rechte und Pixel zur Verfügung haben, als die Cashmere-Faschos von Sylts Whiskymeile.

Die können eigentlich nur auswandern, dachte ich, nachdem das Video seinen Weg aus den Sozialen Medien in sämtliche Nachrichtensendungen gefunden hatte. Während ich noch hoffte, dass ich niemanden auf dem Video erkennen würde, kam die Nachricht, dass der Sohn von Freunden einen Kollegen dort erkannt hatte. Wie bekannt ist, wurde einigen Mitarbeitern gekündigt, aber der Sohn kann es nicht fassen, dass er mit einem solchen Volldeppen zusammengearbeitet hatte. "Er wusste nicht, dass der so tickt", erzähle ich meinem Freund. "Es war ihm nicht anzumerken, das ist doch gruselig." "Genau, und die, die müssen wir uns schnappen, denen klarmachen, dass das alles kein Witz ist, besoffen oder nicht." Mein Freund findet, man müsse "die" in unsere Mitte holen, "wir haben doch eh schon zu viel Zeit vergeudet".

Leider sind wir uns einig, dass Sylt nur die Spitze des Eisbergs ist, dass die Fascho-Feten-Hits längst landesweit und überall geträllert, geschunkelt, gegrölt werden. Und da bisher Mamis und Papis Haus- und Hofanwalt die lieben Kleinen aus sämtlichen unangenehmen Lagen, in die man sich als junger Mensch, der glaubt, er oder sie kann sich alles erlauben, rausgebufft hat, jetzt nicht mehr ausreicht, müssen andere Maßnahmen her. Klar ist - super sympathisch sind die jungen Schnösel wahrscheinlich so oder so nicht, diese Parolen-Schwinger (die im echten Leben vermutlich sogar ein oder zwei ausländische Freunde haben), mit oder ohne Nazi-Gegröle.

Menschen dieser Art meinen oft, über anderen zu stehen, egal, wo die anderen herkommen. Wenn man den Prinzen von Zamunda zum Freund hat, kann man ja easy behaupten, man hätte wirklich nichts, rein ga-a-a-r nichts, gegen Schwarze. Oder Türken ("Ich li-i-i-i-ebe Döner, Habibi!"). Nur die nicht so Wohlhabenden, egal, welcher Couleur (man spricht Französisch, bien sûr, Studienjahr in Paris, dann Reise durch die Provence, merci, Grandmère, dass wir deinen Porsche nehmen durften), die passen immer schlecht ins Bild.

Entnazifiziert mit Zertifikat und Stempel?

"Das wird nicht einfach", sage ich schließlich, "was willst du denen denn anbieten? Ein Demokratie-Praktikum?" "Ja, so was in der Art. Ich würde mit ihnen sprechen wollen, hören, was sie zu sagen haben, hören, WIE sie sprechen. Ihnen Ausländer vorstellen, die sie kaum als solche wahrnehmen würden. Aber auch solche, die eine andere Hautfarbe oder Religion haben." Dann viel Glück beim Auffinden der Ausländer, die mit den fragwürdigen strammen Burschen und feschen Mädels sprechen wollen, denke ich. "Ich hör' mich mal um", verspreche ich.

Mein Freund möchte ganz einfach wissen, wie es dazu kommen kann, dass man auf der Straße steht und so saudumme Lieder grölt. Fahr' zum Karneval, denke ich, sage aber: "Ja, und dann? Bekommen die dann ein Zertifikat? 'Hiermit bestätige ich, Dr. xy, dass Klein-Adolf an meiner Demokratie-Schulung teilgenommen hat.' Mit dem in Schönschrift geschriebenen Leitsatz: 'Was du nicht willst, was man dir tu', das füg' auch keinem ander'n zu'." Mein Freund lacht. "Dein Bootcamp, wo sollte das sein, kann man auch online teilnehmen?", frag' ich noch. "Nein, das muss schon Face to Face passieren, ich will sehen, wie sie gucken, wenn ich ihnen erklären würde, dass unser Land ohne Ausländer echt bescheiden dastehen würden, dass wir wegschrumpfen, wenn nicht gar aussterben werden."

Forschen nach der einen Zelle

Wie gesagt, er ist Arzt, er kann nicht anders. Auch im stumpfsten aller Aperol-Spritz-Barden vom Pfingstwochenende würde er nach dem Licht forschen, nach der einen Zelle, die menschlich tickt. "Denen müsste doch klar sein", glaubt er, "dass ihre Studienaufenthalte an sogenannten Elite-Internaten, Unis in England oder Praktika in den USA für die Katz waren, wenn sie nicht verstehen, dass SIE dort 'die Ausländer' waren", glaubt er. "Dein Wort in Gottes Gehörgang", sage ich, "aber das sehen die doch völlig anders: gute Ausländer, schlechte Ausländer. Zu mehr Differenzierung sind die meiner Ansicht nach nicht fähig." Aber ich verspreche, ihm zur Seite zu stehen. Ich würde schließlich auch gern mal mit so einem richtig dummen Menschen sprechen und gucken wollen, ob man da noch was anderes rausholen kann als primitives Hordenverhalten.

Ich muss plötzlich an Eliza Doolittle (im Musical "My Fair Lady" von Audrey Hepburn dargestellt) denken, und an "Mein Gott jetzt hat sie's": Das singt Professor Higgins (Rex Harrison), der aus der ungebildeten jungen Frau eine Dame von Welt machen will. Mein Freund, ein moderner Professor Higgins, möchte nun aus theoretisch bereits gut ausgebildeten und aus vermeintlich guten Kreisen stammenden, jungen, verirrten Menschen eine Art Grande Dame machen. Ich finde, es ist eine gute Idee. Bei Eliza hat's ja auch geklappt.

Quelle: ntv.de

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