Angeklagte vorerst frei Berliner Gericht legt Verfahren in Hände der Zeugin
15.02.2024, 17:27 Uhr Artikel anhören
Das Verfahren um die mutmaßliche Vergewaltigung im Görlitzer Park wird ausgesetzt.
(Foto: IMAGO/Jürgen Held)
Im Juni sollen drei Männer eine Frau im Görlitzer Park vergewaltigt haben. Die Vorwürfe wiegen schwer, schnell entbrennt eine politische Debatte. Aus Mangel an Beweisen lässt das Gericht die Angeschuldigten nun frei. Doch das mutmaßliche Opfer möchte erneut aussagen. Damit könnte das Verfahren von vorn beginnen.
In Saal 700 des Berliner Landgerichts sitzen am Donnerstagmorgen beinahe so viele Pressevertreter wie Prozessbeteiligte. Auch am fünften Verhandlungstag ist das Interesse um die mutmaßliche Vergewaltigung im Görlitzer Park ungebrochen. Denn seit Beginn des Prozesses reicht die Bedeutung des Falls weit über die Vorwürfe der Anklage hinaus.
Die drei Angeklagten stammen aus Somalia und Guinea, sind unter anderem wegen mehrerer Drogendelikte vorbestraft und verfügen über keinen gültigen Aufenthaltstitel. Umstände, die sich nahtlos in das verrohte Image des Görlitzer Parks zu fügen scheinen, dem Tatort der mutmaßlichen Vergewaltigung. Seit mehr als einem Jahrzehnt ist der Park regelmäßig Mittelpunkt von Debatten um Gewalt und Kriminalität. Er zählt zu den größten Drogenumschlagplätzen Berlins und wird oft als Sinnbild für misslungene Migrationspolitik genutzt.
Noch vor Prozessbeginn gewann der Fall daher auch an politischer Dimension. Der Görlitzer Park bekommt einen Zaun, hatte der Regierende Bürgermeister Kai Wegner nach Bekanntwerden der Vorwürfe und einem eigens deshalb einberufenen "Sicherheitsgipfel" verkündet. 435 Drogendelikte, 314 Körperverletzungen sowie 241 Raubdelikte zählte die Berliner Innenverwaltung allein im vergangenen Jahr in und um den Park.
Der schlechte Zustand der Anlage bleibt unumstritten. Die Frage nach der Bedeutung des aktuellen Prozesses in der Debatte indes nicht. Denn vieles von dem, was so offensichtlich schien, könnte doch ganz anders gewesen sein. Widersprüchliche Aussagen hatten dem Prozess zuletzt mehrere Wendungen verliehen und das Gericht mit ungeklärten Fragen konfrontiert.
"Die Zeugin ist ein Phantom"
Auch am heutigen Donnerstag ist der Platz neben Nebenklägervertreter Roland Weber leer. Emser T. ist nicht erschienen. Bereits am 8. Februar hätte die 27-Jährige für eine erneute Stellungnahme von Georgien nach Berlin reisen sollen. Doch T. hatte ihr Kommen aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig abgesagt. "Die spannende Frage ist heute: Hat die Zeugin T. auf die Kontaktversuche reagiert?", fragt der Vorsitzende Richter Bartl zu Beginn der Verhandlung. Hat sie. Gegenüber Roland Weber habe sie "klipp und klar" gesagt, sich über die deutsche Botschaft in Tiflis befragen lassen zu wollen, so Bartl. Momentan befinde sie sich in einer Rehabilitationsklinik. Man werde ein entsprechendes Rechtshilfeersuchen an die georgischen Behörden senden, sagt Bartl. Ob ein solches erfolgreich sein wird, liege an der georgischen Justiz und koste viel Zeit.
Es ist Aufgabe des Gerichts, alle in Betracht kommenden Beweismittel auszuschöpfen. Emser T. ist Nebenklägerin und als mutmaßlich Geschädigte wichtigste Zeugin in dem Verfahren, dessen Anklage größtenteils auf ihren Angaben beruht. Über das deutliche Bestreben, erneut aussagen zu wollen, kann sich das Gericht nicht hinwegsetzen. Ob es dazu tatsächlich kommen wird, bleibt jedoch ungewiss.
"Die Zeugin ist ein Phantom", sagt Strafverteidiger Christian Zimmer an Richter Bartl gewandt. Die Kammer müsse zudem die Frage des Haftbefehls erörtern, an einem dringenden Tatverdacht fehle es schon lange. Auch Verteidiger Eckart Fleischmann gibt zu bedenken, dass der Prozess nicht vollständig in die Hände der Zeugin fallen dürfe. "Das Verfahren sollte beendet werden", so Fleischmann. Richter Thilo Bartl blickt auf die Uhr. "Wir machen 30 Minuten Pause".
Seit mehr als sechs Monaten befinden sich Osman B., Boubacar B. und Mountaga D. in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, Emser T. im Görlitzer Park mehrfach vergewaltigt, ihren Ehemann verprügelt und bestohlen zu haben. Ein kurzes Video vom Tatmorgen hatte dem Fall zuletzt eine neue Wendung verliehen. Der Angeklagte Mountaga D. hatte einen Teil der sexuellen Handlungen mit seinem Handy gefilmt. Laut Verteidigung sei in der Aufnahme Einvernehmlichkeit zu erkennen.
Das kurze Video hatte viele Fragen aufgeworfen, für deren Klärung eine Stellungnahme T.s unverzichtbar ist. Zudem ist das Video nur sieben Sekunden lang. Selbst die Verteidigung schloss nicht aus, dass im Anschluss etwas aus dem Ruder gelaufen sein könnte.
Gericht hebt Haftbefehle auf
10:45 Uhr. Zurück in Saal 700 bittet Thilo Bartl alle Anwesenden, Platz zu nehmen. Dann verkündet er die Entscheidung der Kammer: "Das Hauptverfahren wird ausgesetzt, die drei Haftbefehle aufgehoben." Ohne T. könne nicht weiterverhandelt werden, lautet die Begründung. "Es ist ungewöhnlich, dass eine Zeugin das Verfahren in der Hand hat", sagt Bartl. Doch das Rechtshilfeersuchen in Georgien könnte Erfolg haben. "Also warten wir ab." Das Warten könne bis zu sechs Monate in Anspruch nehmen.
Der zeitliche Aspekt sei einer der Gründe, weshalb die Kammer auch die Voraussetzungen für einen Haftbefehl nicht länger erfüllt sieht. Des Weiteren seien bisherige Aussagen T.s nicht widerspruchsfrei. Zunächst habe sie nur von einem Täter gesprochen, später von mehreren, auch einige Beschreibungen der sexuellen Handlungen passten nicht zu den gefundenen DNA-Spuren.
Nach vorläufiger Würdigung des Gerichts sei in dem kurzen Handy-Video zudem kein Zwang zu erkennen. Auch gehe man davon aus, dass es sich bei der Frau in der Aufnahme um Emser T. handele. Dass ihr Ehemann danebenstehe, sei "gut möglich". Ob Emser T. tatsächlich aussagen wird, werde man sehen, so Bartl. Die Bereitschaft der Zeugin sei in der Vergangenheit mehr als wechselhaft gewesen. Immer wieder habe sie Termine abgesagt oder unterbrochen. Kein einziges Mal habe eine polizeiliche Vernehmung erfolgreich beendet werden können.
"Der Rechtsstaat hat sich bewährt"
Wann der nächste Termin in der Sache stattfinden wird, steht laut Thilo Bartl "in den Sternen". Bis dahin kann zumindest die Rolle, die der Fall in der Sicherheitsdebatte um den Görlitzer Park spielt, vorsichtig hinterfragt werden. "Der Rechtsstaat hat sich bewährt, die Politikkarawane zieht weiter", sagte Strafverteidiger Mirko Röder nach der Verhandlung und mit Blick auf eine womöglich vorschnelle politische Instrumentalisierung der Vorwürfe.
Das Recht auf ein faires Verfahren zählt zu den Grundpfeilern des deutschen Rechtsstaatsprinzips. Dass Medien und öffentlicher Druck Entscheidungen von Richterinnen oder Schöffen beeinflussen, widerspricht dieser Maxime - kommt aber vor. In Berlin hat das Landgericht trotz des großen medialen und politischen Aufsehens Fingerspitzengefühl bewiesen. Im Rahmen des Rechtsaufklärungsgrundsatzes werden weiterhin alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um Emser T. als Zeugin Gehör zu verschaffen. Bis dahin bleibt die Beweislage jedoch dünn. Unabhängig von politischen Debatten und manch unvorsichtiger Schlagzeile gilt der Grundsatz "in dubio pro reo" für jeden Strafprozess. Die Prämisse der Unschuldsvermutung bleibt somit bis zuletzt die tragende Säule eines fairen Verfahrens. Und in einem Rechtsstaat überragt diese Säule jeden Zaun.
Quelle: ntv.de