Jurist über Aiwanger-Berichte "Dann hätte man den Uralt-Vorwurf nicht drucken dürfen"
02.09.2023, 13:40 Uhr Artikel anhören
Der bayerische Vizeministerpräsident spricht von einer "Schmutzkampagne" gegen ihn.
(Foto: picture alliance/dpa)
Nach den Berichten über ein antisemitisches Flugblatt, das 1987 bei Hubert Aiwanger gefunden wurde, steht auch die "Süddeutsche Zeitung" in der Kritik. Ihr wird vorgeworfen, die journalistischen Standards missachtet und Rechte des Politikers verletzt zu haben. Karl-Nikolaus Peifer, Leiter des Instituts für Medien- und Kommunikationsrecht an der Universität Köln, hält die Berichterstattung hingegen für zulässig. Das öffentliche Interesse an der Berichterstattung habe überwogen - vor allem vor dem Hintergrund von Aiwangers jüngsten Wahlkampfauftritten.
ntv.de: Die "Süddeutsche Zeitung" hat berichtet, dass 1987 bei dem damals 17-jährigen Hubert Aiwanger ein antisemitisches Flugblatt gefunden wurde. Nun wird den Journalisten unzulässige Verdachtsberichterstattung vorgeworfen. Ist da was dran?
Karl-Nikolaus Peifer: Im juristischen Sinne handelt es sich in diesem Fall nicht um Verdachtsberichterstattung. Die Voraussetzungen, die daran geknüpft sind, dienen dem Schutz der Unschuldsvermutung in einem laufenden Strafverfahren. In dem Komplex Aiwanger besteht allerdings nicht einmal die Möglichkeit für ein Ermittlungs- oder Strafverfahren - der Vorwurf ist längst verjährt. Damit sind die Maßstäbe für den Verlag etwas niedriger. Aber natürlich muss die Berichterstattung trotzdem kritisch betrachtet werden, immerhin ist sie für Aiwanger immens reputationsschädlich.
Hat sich die Zeitung im Fall Aiwanger an die journalistischen Grundsätze gehalten?
Der Pressekodex sieht etwa eine sorgfältige Recherche vor. Gerade bei diesem schwerwiegenden Vorwurf müssten mehrere Menschen befragt worden sein. Die Äußerung einer einzigen Person reicht nicht. Demzufolge, was im Ausgangsbericht zu lesen war, hat die SZ das getan. In der weiteren Berichterstattung merkt man zudem, dass es tatsächlich sehr viele Menschen gibt, die etwas zu dem Thema zu sagen haben. Diejenigen, die die Informationen lieferten, müssten besonders kritisch und nachdrücklich befragt worden sein. Sich auf Gerüchte oder nebenher Gesagtes zu verlassen, wäre fahrlässig gewesen. Besonders wichtig ist es auch, dass Herr Aiwanger vor der Veröffentlichung die Möglichkeit zur Stellungnahme hatte. Das ist hier geschehen, denn das führte ja zu seinem ersten Dementi. Bei der Recherche kann ich bisher also keine grobe Verletzung erkennen.
Die SZ spricht zwar von "rund zwei Dutzend Personen", mit denen sie gesprochen hat, nennt jedoch keine Namen. Kann man ihr das vorwerfen?
Nein, kann man nicht. Die Presse darf ihre Informanten schützen. Wenn diese auf Anonymisierung bestehen, muss man das grundsätzlich respektieren. Das ist auch Teil der Pressefreiheit.
Wie steht es bei der Berichterstattung um den Schutz von Aiwangers Persönlichkeitsrechten?
Die Journalisten müssten vor der Veröffentlichung eine Abwägung vorgenommen haben - das Interesse der Öffentlichkeit, von dem Vorwurf zu erfahren, gegen die Persönlichkeitsrechte Aiwangers. Das scheint mir erfolgt zu sein. Für die Öffentlichkeit ist der Vorwurf gegen Aiwanger auch durchaus von großem Interesse. So werden dem Politiker populistische und rechtsextreme Äußerungen bei seinen Wahlkampfauftritten vorgeworfen. Noch dazu ist er in der Regierung und steht kurz vor der Wahl. Das kann gerade Anlass sein, über den Fund eines antisemitischen Flugblattes bei ihm in der Vergangenheit zu berichten. Sei es nur, um herauszufinden, ob das eine Jugendsünde war oder sich eine rote Linie durchzieht. Das ist die Aufgabe der Presse.
Allerdings ist der Fund des Flugblattes bei ihm 35 Jahre her und er war damals ein Jugendlicher. Gibt es kein Recht auf Vergessen?
Doch, das gibt es. Allerdings gilt es vor allem für nicht öffentliche Personen. Bei ihnen überwiegt in aller Regel das Interesse daran, nicht mehr mit Fehlern von vor 30 Jahren konfrontiert zu werden. Das ist bei Personen der Öffentlichkeit anders, denn da geht es auch um Funktionsinteressen. Die Frage, wie vertrauenswürdig diese Person als Politikerin oder Politiker ist, ist für viele Menschen von großer Bedeutung. Daher darf man das gegenwärtige Verhalten auch mit Vorgängen aus der Vergangenheit konfrontieren. Wenn Aiwanger also nicht bei mehreren Auftritten sprachlich ins populistische, teils sogar rechtsextreme Lager gewechselt wäre, dann hätte man den Uralt-Vorwurf nicht drucken dürfen. Die Berichterstattung hilft bei der Einschätzung, ob seine Auftritte Ausdruck der Zeit sind oder zu seiner Grundeinstellung als Politiker gehören. In diesem Fall gibt es kein Recht auf Vergessen.
Der Zeitung wird auch vorgeworfen, in ihrer Aiwanger-Berichterstattung zu wertend gewesen zu sein.
An diesem Punkt ist etwas dran. Die Berichterstattung enthält ein bestimmtes Framing, die Haltung der Autoren wird sehr deutlich. Auf der "Seite Drei" halte ich solche Meinungsäußerungen für verzeihlich, denn dafür ist die Seite bekannt. Problematischer ist das allerdings auf der Titelseite. Auch dort hat die Zeitung ihren Beitrag zu Aiwanger nicht auf Tatsachen beschränkt, sondern Meinung einfließen lassen. Juristisch ist das zwar in Ordnung, journalistisch könnte es allerdings ein Vergehen sein. Das muss der Presserat entscheiden.
Aiwanger selbst spricht von "Schmutzkampagnen" gegen ihn, Mitglieder der Freien Wähler unterstellen der Zeitung "Diffamierungsversuche und Spekulationen". Könnte der Politiker gegen die Berichterstattung vorgehen?
Zunächst einmal ist es völlig verständlich, dass er anderer Auffassung ist und seine Reputation verbal verteidigt. Natürlich könnte er auch versuchen, das auf Basis seines Persönlichkeitsrechts juristisch zu tun. Er müsste vorbringen, dass es hier um eine unwahre Tatsachenbehauptung geht. Noch wissen wir es nicht endgültig, wir haben nur Ansatzpunkte und Indizien. Möglicherweise kommen in einem Gerichtsprozess noch andere Tatsachen ans Licht. Allerdings würden viele Gerichte zum jetzigen Zeitpunkt die gleiche Abwägung vornehmen, die ich vorgenommen habe. Zu diesem Zeitpunkt glaube ich nicht, dass Herr Aiwanger vor Gericht eine Chance hätte, zu gewinnen.
Mit Karl-Nikolaus Peifer sprach Sarah Platz
Quelle: ntv.de