Jurist prüft Strafbarkeit "Flugblatt-Verfasser wäre womöglich davongekommen"
31.08.2023, 17:04 Uhr Artikel anhören
"Ich war noch nie Antisemit oder Extremist", verteidigt sich der Chef der Freien Wähler.
(Foto: picture alliance / SvenSimon)
Das Flugblatt, das 1987 in der Tasche des damals 17-jährigen Hubert Aiwanger gefunden wurde, ist an Antisemitismus kaum zu übertreffen. Aber ist der Inhalt auch strafbar? Daran gebe es kaum einen Zweifel, sagt der Strafrechtsprofessor Martin Heger von der Humboldt-Universität in Berlin. Und trotzdem hätte der Fall Ermittler und Justiz damals vor eine Herausforderung gestellt. Möglicherweise wäre der Urheber sogar straffrei davongekommen.
ntv.de: Als der stellvertretende Ministerpräsident in Bayern, Hubert Aiwanger, 1987 in der elften Klasse war, wurde bei ihm ein antisemitisches Flugblatt gefunden. Das kam vor wenigen Tagen an die Öffentlichkeit. Könnte das ein Anlass für strafrechtliche Ermittlungen sein?
Martin Heger: Nein, mögliche Vorwürfe sind nach 35 Jahren längst verjährt. Nur Mord verjährt nie. Die Straftatbestände, die hier in Betracht kommen, haben einen niedrigen Strafrahmen und damit eine kurze Verjährungsfrist. Das heißt natürlich nicht, dass das Flugblatt damals nicht strafrechtlich relevant gewesen wäre.
Wegen welcher Straftatbestände wäre damals ermittelt worden?
In Betracht kommen drei Normen. Zum einen Volksverhetzung nach Paragraf 130 Strafgesetzbuch. Zum anderen könnte ich mir vorstellen, dass die Strafbarkeit wegen Beleidigung und wegen der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener geprüft worden wäre. Viele Passagen setzen die Opfer des Holocausts und ihre Angehörigen massiv herab. Hätte die Staatsanwaltschaft das Flugblatt damals in die Hände bekommen, hätten sie mit großer Wahrscheinlich wegen dieser Paragrafen oder mindestens einem davon ermittelt.
Angenommen, es wäre damals zu einer Verurteilung wegen des Flugblatts gekommen. Wäre das heute noch im Strafregister vermerkt?
Nein. Das kommt auf die Höhe der Strafe an. Die wäre hier nicht besonders hoch gewesen, ein Eintrag wäre damit längst gelöscht worden.
Der Paragraf der Volksverhetzung war 1988 weitaus dünner als heute. Das Verbot der Billigung und der Verharmlosung des Holocausts wurde zum Beispiel erst 1994 aufgenommen. Wäre das Flugblatt damals überhaupt volksverhetzend im strafrechtlichen Sinne gewesen?
Auch damals beinhaltete der Paragraf schon das Verbot, in einer den öffentlichen Frieden störenden Weise die Menschenwürde anderer anzugreifen. Explizit genannt wurden etwa die Tatvarianten, jemanden zu beschimpfen oder öffentlich verächtlich zu machen. Daran gibt es bei dem Inhalt des Flugblatts kaum Zweifel. Das Flugblatt ist durchweg massiv antisemitisch und menschenverachtend. Wenn zum Beispiel vom "Vergnügungsviertel Auschwitz" oder einem "Freiflug durch den Schornstein" die Rede ist, ist das eine besonders perfide Verächtlichmachung der Opfer des Holocausts und ihrer Angehörigen. Noch dazu bedient sich der Verfasser der Terminologie der Nationalsozialisten, wenn er etwa schreibt, die Gewinner dieses Wettbewerbs würden "abgeholt".
Nicht alle Äußerungen, die sich wie eine Verharmlosung des Holocausts anhören, führen zu einer Verurteilung. Wo liegt die Grenze zur Strafbarkeit?
Der Eingriff in die Rechte der Betroffenen ist immer mit der Meinungsfreiheit abzuwägen. Auch Meinungen, die die Mehrheit für nicht akzeptabel hält, können nicht einfach verboten werden. Die Gerichte haben also einen weiten Spielraum. Die Grenze ist allerdings die Menschenwürde. Die ist immer dann tangiert, wenn jemand nicht mehr als Mensch wahrgenommen wird, sondern etwa wie Ungeziefer vernichtet werden soll. Im Fall des Flugblatts ist diese Grenze offensichtlich überschritten, denn der Inhalt fordert eine menschenunwürdige Behandlung und völlig grundlose Ermordung - in einer Art und Weise, wie es Millionen Juden widerfahren ist. Noch dazu kann ich in dem Flugblatt überhaupt keine Meinungsäußerung erkennen. Die Abwägung mit der Meinungsfreiheit hätte einer Strafbarkeit wohl damals nicht im Wege gestanden.
Hätte es für die Strafbarkeit eine Rolle gespielt, dass die Brüder Aiwanger noch minderjährig waren? Möglicherweise handelte es sich schlicht um eine Jugendsünde.
Für die Strafbarkeit hätte das keine Rolle gespielt, denn sowohl Hubert Aiwanger als auch sein Bruder, der offenbar mit in den Fall verwickelt ist, waren über 14 Jahre alt und damit strafmündig. Allerdings wäre das jugendliche Alter für die Strafzumessung entscheidend gewesen, denn bei Minderjährigen kommt zwingend das Jugendstrafrecht zur Anwendung. Da tritt die Frage der Bestrafung etwas zurück, der Erziehungsgedanke steht im Vordergrund. Ich gehe davon aus, die Richter hätten eine Erziehungsmaßregel verhängt, damit der Jugendliche etwas dazu lernt und so etwas nicht wieder macht - auch nicht aus Frust.
Der Bruder von Hubert Aiwanger, Helmut Aiwanger, gab tatsächlich an, das Flugblatt aus Frust über sein Sitzenbleiben in der Schule verfasst zu haben. Hätte das vor Gericht rechtfertigende oder schuldmindernde Wirkung?
Selbst wenn er der Meinung gewesen wäre, ihm sei übel mitgespielt worden, hätte dies das Verfassen dieses Inhalts nicht gerechtfertigt. Außerdem ist nicht zu erkennen, dass sich die Beleidigungen und die Hetze gegen die Schule richten sollen. Auch die Impulshandlung ist zumindest fraglich. Das Blatt nennt den 1. Januar 1988 als "Terminschluss" für den "Wettbewerb", ein Termin relativ spät im Schuljahr. Denn Schulzeugnisse gibt es in Bayern seit jeher im Juli. Sollte das Blatt in zeitlicher Nähe zu dem "Terminschluss" verteilt worden sein, hätten zwischen dem Durchfallen und der Reaktion also Monate gelegen. All diese Details wären damals geprüft worden. Dass sich der Verfasser irgendwie hätte rechtfertigen können, sehe ich nicht. Eine Verurteilung wäre möglicherweise allerdings an einem anderen Punkt gescheitert.
Woran hätte die Verurteilung scheitern können?
Nehmen wir mal an, die Indizienlage hinsichtlich der Urheberschaft wäre wie heute gewesen. Das Flugblatt wurde bei Hubert Aiwanger gefunden und es gibt Indizien, die dafür sprechen, dass er es auch verfasst hat. Dann erklärt allerdings sein Bruder, er sei der Verfasser. Für eine Verurteilung wäre die Kernfrage gewesen, wer genau das Blatt geschrieben hat. Das Gericht kann weder davon ausgehen, dass es schon einer von beiden gewesen sein wird noch, dass es beide Brüder gemeinsam waren. Vor Gericht hätten sich die beiden Brüder wegen des Zeugnisverweigerungsrechts nicht äußern müssen. Es wären also etliche Fallkonstellationen denkbar gewesen: Hubert Aiwanger könnte es verfasst und verteilt haben. Genauso gut könnte er es jedoch auf der Toilette gefunden und mit seinem Bruder in Verbindung gebracht haben. Daraufhin könnte er es lediglich eingesammelt haben. So in etwa erklärt es jetzt sein Bruder. Wenn man nicht gerichtsfest sagen kann, wer es war, folgt zwingend der Grundsatz "in dubio pro reo": ein Freispruch für beide Brüder. Der Flugblatt-Verfasser wäre aus strafrechtlicher Sicht also möglicherweise davongekommen.
Mit Martin Heger sprach Sarah Platz
Quelle: ntv.de