Panorama

Vom Mobbing-Opfer zum Täter Der "Drachenlord" bekommt nie eine Chance

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Rainer Winkler alias "Drachenlord" bei seiner Gerichtsverhandlung.

(Foto: picture alliance/dpa)

Rainer Winkler muss nicht ins Gefängnis, erhält eine Bewährungsstrafe. Dabei sind viele der Meinung, dass er das eigentlich verdient. Der Fall "Drachenlord" erscheint klar, da viele Dinge nicht mehr erzählt werden. Bei genauer Betrachtung tut sich jedoch ein Abgrund auf.

Liest man dieser Tage Artikel rund um den Prozess gegen Rainer Winkler, bekommt man den Eindruck, da ist ein Sonderling auf der einen Seite und eine große Gruppe von Mobbern auf der anderen, die sich über Jahre einen Kampf liefern. Beide Seiten machen Fehler, begehen Straftaten. Eigentlich sind beide gleichermaßen schuld an der Eskalation. Nur wenige scheinen sich die Mühe zu machen, den Fall "Drachenlord" aufzuarbeiten, zu zeigen, was über Jahre geschehen ist, zunächst online, später auch in der realen Welt. Und so entsteht ein verzerrter Blick auf das Geschehen. Dies bringt den Blogger Sascha Lobo im letzten Jahr bereits zu einer lesenswerten Wutrede. Auch Lars Wienand, das Y-Kollektiv und die "Vice"-Journalisten Dennis Kogel und Max Hoppenstedt geben Einblicke in den Fall. Aber ihre Arbeiten bilden Ausnahmen, liegen teils Jahre zurück. Dabei handelt es sich beim Fall "Drachenlord" um einen der schlimmsten Fälle von Mobbing, die es in Deutschland je gegeben hat. Eine Aufarbeitung.

Wer ist Rainer Winkler alias "Drachenlord"?

Winkler ist mittlerweile 32 Jahre alt. Er lebt von Geburt an auf dem elterlichen Hof in einem kleinen mittelfränkischen Dorf mit 40 Einwohnern. Er ist übergewichtig und hat eine Sonderschule besucht, in einem Video soll er gesagt haben, dass er Legastheniker sei. Vieles, was man über Rainer Winkler erfährt, stammt aus Videos. Vor Gericht bescheinigt ihm ein Gutachten eine verminderte Intelligenz und eine narzisstische Störung. In einem Interview mit einer Youtuberin soll Winkler beschrieben haben, dass er bereits während seiner gesamten Schulzeit gemobbt worden wäre. Seiner Meinung nach liege das an zwei Dingen: Zum einen besäße er viel Fantasie - er labere Blödsinn, erfinde Geschichten. Zum anderen sei er ein sehr emotionaler Mensch, er schäme sich nicht, zu weinen, zeige aber auch Wut ganz offen.

Nach der Schule findet Winkler zunächst keine Arbeit. Als er dann für eine Zeitarbeitsfirma tätig ist, stirbt zunächst seine Großmutter, kurz darauf sein Vater. Die väterliche Firma geht pleite. Seine Mutter und seine Schwester verlassen den Hof und ziehen weg. Viele Schicksalsschläge binnen kurzer Zeit. Winkler setzt sich in den Kopf, Youtube-Star zu werden, nennt sich fortan "Drachenlord". Er startet 2011 mit harmlosen, amateurhaften Videos, in denen er zu Metal oder Elektro tanzt. Er filmt sich auch beim Zocken von Videospielen, beim Spazierengehen oder dem Anprobieren neuer Klamotten. Die Videos erreichen ein paar hundert Klicks.

Der "Drachenlord" nennt 2014 seine Adresse in einem Video

Ab 2013 sehen ihm mehr Menschen zu, Winkler verdient ein wenig Geld mit den Videos. Es kommt zu ersten Konflikten, da sich User über Rechtschreibfehler in den Texten zu seinen Videos, sein Aussehen und seine Sprache lustig machen. Winkler reagiert auf die Kritik. 2014 ruft einer der Kritiker mit verzerrter Stimme bei Winklers Schwester an und droht ihr. Als Winkler das erfährt, wütet und droht er in einem Video. Er fordert denjenigen auf, zu ihm zu kommen. Er nennt dabei seine Adresse. Kurze Zeit später ist das Video gelöscht, aber die Adresse ist in der Welt.

Das "Drachengame" - eine nie dagewesene Form von Mobbing

Nun beginnt das Spiel mit dem Drachenlord, das "Drachengame", wie es Winklers Gegner nennen. Sie selbst heißen fortan "Hater" - Menschen, die ihren Hass über ihn ausbreiten. Sie kommentieren seine Videos, stellen ihm doppeldeutige Fragen in Livechats, beleidigen ihn, drohen. Das reicht dann bis zu Aussagen, er solle doch "ins Gas" oder nach "Buchenwald" gehen. Letzte Anspielung versteht Winkler erst nach Hinweisen anderer Nutzer. Und die Hater gehen weiter. Sie fangen an, Sachen auf seinen Namen zu bestellen: Sexspielzeug, Schweine-Innereien, ein Nachtsichtgerät, Landwirtschaftsgeräte, Chemikalien, die IS-Terroristen für den Bau von Bomben benutzen sollen. Auf dem Adressaufkleber soll ein arabisch klingender "Kampfname" stehen. Das machen sie nicht nur ein paarmal, es kommen Bestellwerte von mehreren Zehntausend Euro zusammen. Winkler muss sich um die Rückabwicklung kümmern.

Die Hater belassen es nicht dabei. Sie filmen das Grab seines verstorbenen Vaters, verhöhnen diesen und Winkler. Später drohen einige sogar, die Leiche des Vaters auszugraben. Winkler wird in seinen Videos immer wütender. Die Hater sollten nur zu ihm kommen. Und das tun sie, in großer Zahl. Vor Ort rütteln sie am Zaun, beschmieren die Gebäude, werfen Böller und Müll auf das Gelände, bewerfen Winkler mit Eiern, einige tragen dabei Masken mit dem Gesicht seines Vaters. Ein Hater soll in das Haus eingestiegen sein und eine Katze, die Winkler zugelaufen ist, gestohlen und auf Ebay zum Verkauf angeboten haben. Belegen lässt sich das nicht, vorstellbar klingt es allemal. Die Situation schaukelt sich immer weiter hoch. An Wochenenden stehen bis zu 150 Hater vor dem Haus und fordern Winkler heraus, sie filmen ihn, wie er ausrastet, und laden die Videos im Netz hoch - sie sammeln sie wie Trophäen. Einige versuchen ganz bewusst, ihn zu Straftaten zu provozieren. Es kursieren Anleitungen im Netz, womit man ihn besonders gut auf die Palme bringt. Einige sollen die Hoffnung äußern, dass er sich irgendwann unter dem Druck das Leben nimmt.

Die lokale Polizei zählt allein zwischen 2015 und 2017 Hunderte Einsätze. An manchen Tagen soll sie ein Dutzend Mal an Winklers Hof auftauchen, um die Situation zu deeskalieren. Ein Cybercrime-Beamter kümmert sich fast ausschließlich um Fälle rund um den "Drachenlord", berichten die "Vice"-Journalisten. Denn online wird ebenfalls weiter gegen ihn gehetzt. Es wird eine Chronik seiner Ausraster erstellt, im Forum lachschon.de sollen sich mittlerweile mehr als 100.000 Beiträge mit ihm befassen - dort wird beleidigt, gepöbelt, es werden aber auch konzertierte Aktionen gegen Winkler geplant. 2015 gibt jemand eine Todesanzeige für den angeblich verstorbenen Winkler auf. Hater erstatten über die Jahre viele Anzeigen gegen ihn, unter anderem wegen Körperverletzung. Denn irgendwann schlägt Rainer Winkler zu, mit der Faust, mit einer Taschenlampe, er zertrümmert eine Autoscheibe und verletzt den Beifahrer leicht mit Splittern.

"Erdbeerchen-Hochzeit", Swatting und "Schanzenfest"

Unter den kaum zählbaren Mobbingattacken stechen drei Aktionen dennoch hervor. Zunächst die "Erdbeerchen-Hochzeit". Eine Userin namens "Erdbeerchen" baut online ein Vertrauensverhältnis zu Winkler auf. Er verliebt sich in sie und macht ihr online live einen Heiratsantrag. Sie beleidigt ihn und es wird klar, dass alles ein Fake war. Winkler weint, 5000 Menschen sehen dabei zu.

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An Wochenenden stehen schon mal bis zu 150 Hater vor Rainer Winklers Hof.

(Foto: picture alliance/dpa/NEWS5)

Winkler wird zudem Opfer des ersten Swattings in Deutschland. Beim Swatting rufen Hater in der Regel Spezialkräfte der Polizei (SWAT-Einheiten) unter falschem Vorwand an und hoffen, dass sie in die Wohnung platzen, während das Opfer gerade in einem Livestream ist - alle können dabei zusehen. In den USA hat es dabei bereits Todesfälle gegeben. In Winklers Fall kommen keine Polizisten, sondern Feuerwehrleute - 110 von ihnen, aus fünf Feuerwachen. Ein Hater hat einen angeblichen Brand gemeldet. Und, na klar, Winkler ist dabei natürlich live im Netz.

Die dritte große Aktion ist das sogenannte "Schanzenfest" im Jahr 2018. Als "Drachenschanze" bezeichnen Hater Winklers Hof. 10.000 Hater wollen Winkler besuchen. Die Polizei bekommt Wind von der Aktion, erlässt ein Versammlungsverbot. Trotzdem kommen 800 Menschen aus ganz Deutschland. Die Polizei erteilt 150 Platzverweise. Die Aktion ruft Landtagsabgeordnete auf den Plan, die sich sogar an den bayerischen Innenminister wenden.

Wer sind die Hater von Rainer Winkler?

Das bleibt weitgehend nebulös, fast alle bleiben anonym. Was Fakt ist: Es sind vorwiegend Männer. Sie sind jung und kommen aus dem gesamten Bundesgebiet. Sie betreiben teils enormen Aufwand, um Winkler einen Besuch abzustatten. Einige stehen in aller Früh auf, fahren Hunderte Kilometer, nur um einmal vor der "Drachenschanze" zu stehen. Viele von ihnen sind wie Winkler internetaffin, auf Youtube oder Social Media aktiv. Die meisten, die online gegen den "Drachenlord" hetzen, seien normale Menschen, sagt Experte Luca Hammer im Dokumentarfilm des Journalisten Dennis Leiffels. Es seien Schüler, Studenten und Berufstätige, eher selten Arbeitslose oder Kriminelle. Aber auch Letztere gibt es. Derjenige, der für das Swatting verantwortlich ist, hat eine lange Vorstrafenliste, ist jahrelang als Cyberkrimineller aktiv. Unter anderem für das Swatting kommt er fast dreieinhalb Jahre in Haft. Auch einige weitere Hater erhalten Strafen für Beleidigungen oder Hausfriedensbruch. Tausende andere bleiben jedoch unbehelligt.

Was ist die Motivation der "Drachenlord-Hater"?

Auch das ist schwer zu beantworten. Viele haben sicher nur Spaß daran, das "leichte Opfer" Rainer Winkler zu ärgern. Dass der dann ausrastet, stachelt einige an, weiter an der Eskalationsschraube zu drehen. Einige unterstellen Winkler Sexismus, einige gar Antisemitismus. Sie wollten da "gesellschaftlich Druck machen", weil so etwas ja nicht ginge. Das mag bei einigen stimmen, aber viele Aussagen Winklers sollen aus dem Kontext gerissen sein. Oft ist gar nicht sicher, dass er weiß, wovon er redet, etwa wenn er den Holocaust auf Nachfrage eine "nice Sache" nennt. Mit (dem Konzentrationslager) Buchenwald konnte er ja beispielsweise nichts anfangen. Andere Aussagen werden Winkler in den Mund gelegt, Videos gefälscht.

Von den meisten ist zu hören, sie wollten dem "Drachenlord" damit nur zeigen, dass sie seine Videos schlecht finden, sie wollen zudem seinen Pöbeleien ein Ende setzen. Viele sprechen von einem "Arschtritt", den sie ihm geben wollten, damit er sein Leben endlich auf die Reihe bekomme und arbeiten gehe. Er solle die Videos sein lassen, die würden ihn nur daran hindern. Er solle aufhören, sich einzureden, ein Youtube-Star zu sein. Es gibt Angaben, dass Winkler mit den Videos zwischen 3000 und 5000 Euro im Monat verdiene.

Nur wenige sind ehrlich und sagen, dass sie es amüsant finden, wenn Winkler ausrastet. Lars Wienand zitiert etwa einen Hater, der bei Winklers Prozess im Gerichtssaal sitzt, mit den Worten: "Ich will nicht, dass er ins Gefängnis kommt, ich will, dass das Spiel weitergeht". Und viele machen weiter. Obwohl Winkler wegzieht, in seinem Auto und in Hotels wohnt, lassen sie nicht von ihm ab. Er macht Videos, sie fahren ihm hinterher, tauschen sich aus, wo sein Auto gesehen wurde, in welchem Hotel er abgestiegen sein könnte. Sie nennen es nun "Drachenschnitzeljagd". Bei einigen hat man das Gefühl, sie können gar nicht mehr ohne die Hatz auf den "Drachenlord" leben.

Wer unterstützt den "Drachenlord"?

Fast niemand. Winkler ist nicht nur familiär isoliert, auch in seinem Heimatdorf Altschauerberg in Nordbayern schwindet schnell der Rückhalt, Polizei und Behörden sind ihm keine Hilfe. Anfangs habe man im Dorf Mitleid mit ihm, sagen Anwohner in Leiffels Dokumentarfilm, aber das schlägt schnell um. Denn die Hater ziehen die Dorfbewohner in Mitleidenschaft. Hater nutzen Nachbargrundstücke, um zu Winklers Hof zu gelangen - Nachbarn müssen zusätzliche Zäune aufstellen. Sie bekommen den Krach mit - eine Nachbarin erzählt den "Vice"-Journalisten: "Wenn Rainer brüllt, hört es das ganze Dorf". Aber auch nächtliche Böller sorgen für Unruhe, 150 Hater am Wochenende sowieso. Die bringen im angrenzenden Wald Kameras an, filmen den "Drachenlord", aber auch Nachbarn. Sie vergeben sogar Rollen, die die Nachbarn in ihren Videos spielen - einer ist der Hinterwäldler, der andere ein Massenmörder.

Als ein Nachbar es wagt, auf Facebook seiner Wut über die Aktionen Luft zu machen, kontaktieren Hater dessen Arbeitgeber. Der Besitzer von Winklers Lieblingsrestaurant erhält Hunderte Anrufe, in denen Essen zu Winklers Hof bestellt wird. Der Gastronom bleibt auf den Kosten sitzen. Es gibt sogar Überlegungen, die Zufahrt zum Dorf einzuschränken, sie nur für Anlieger zuzulassen. Und so hat Winkler im Dorf ganz schnell keine Freunde mehr. Eine Nachbarin hält zu ihm, informiert ihn, wenn sie online etwas über Aktionen der Hater liest. Auch sie wird unter Druck gesetzt. Der Rest will nur, dass Winkler mit seinen Videos aufhört, damit endlich wieder Ruhe herrscht, wie sie sagen.

Die Polizei hilft Rainer Winkler nicht

Die lokale Polizei in Altschauerberg hilft Winkler nicht. Sie macht aus dem Opfer den Hauptschuldigen an der Eskalation und redet vielen Hatern damit das Wort. Winkler isoliere sich ja bewusst, er wolle keine Kontakte haben und lebe nur im Internet. Wenn er dies einfach einstelle, würde sich die Sache sofort erledigen. Das habe man ihm mehrfach nahegelegt. Dass der "Drachenlord" mit den Videos seinen Lebensunterhalt bestreitet, wird oft ausgeklammert. Als Leiffels vor Winklers Grundstück zwei Hater danach fragt, sagt einer zunächst, dass die Aktionen nach drei Monaten vorbei wären, wenn der "Drachenlord" die Videos beendet. Der andere entgegnet, "Naja, ich glaube, dass es ein wenig länger dauert. Also, wenn er überhaupt jemals Ruhe bekommt". Das "Drachengame" könnte also auch ohne Videos von Rainer Winkler ewig weitergehen.

(Dieser Artikel wurde am Samstag, 26. März 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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