Panorama

Testen, aufklären und impfen Dreiklang gegen die Pandemie der Ungeimpften

Gegen Impfbedenken hilft nur Wissen.

Gegen Impfbedenken hilft nur Wissen.

(Foto: dpa)

Hinterher ist man immer schlauer. Aber im Angesicht der vierten Welle kann man für die Zukunft lernen. Und die Erkenntnisse sind klar: Testen hilft, Infektionsherde zu erkennen, Impfen ist der Gamechanger der Pandemie und ohne Aufklärung und Kommunikation sind wir verloren.

Die vierte Welle nimmt volle Fahrt auf und die aktuellen Debatten wirken wie ein Déjà-vu. Wir fühlen uns zurückkatapultiert an den Beginn des Oktobers 2020. Das Entscheidungsvakuum durch die noch laufenden Koalitionsverhandlungen in Bund und Bundeshauptstadt wirkt zeitlich entrückt. Intensivbettenbelegungen steigen an, Teilschließungen, Lockdowns bis zum kompletten Einfrieren des öffentlichen Lebens werden erneut diskutiert, all diese Nachrichten dringen nur zäh in das öffentliche Bewusstsein.

Es mehren sich Berichte, immer mehr Geimpfte würden auf der Intensivstation landen. Das Narrativ, das nun entsteht: Geimpfte würden ebenso zum Pandemieverlauf beitragen wie Ungeimpfte. Und ausgerechnet in dieser Gemengelage werden Aussagen getroffen, wir hätten keine Pandemie der Ungeimpften. Ein Bärendienst für das öffentliche Gesundheitswesen. Solche Aussagen sind missverständlich und haben zum Fehlinterpretieren eingeladen. Deutschland diskutiert seitdem über die Sinnhaftigkeit der Impfung.

Dabei verkennt die Debatte Ursache und Wirkung. Wir alle kennen die aktuellen Treiber der Pandemie. Fakt ist, wir haben einen zu hohen Anteil an Ungeimpften, die sich potenziell und aktuell leicht und unerkannt anstecken. Das bedeutet, dass es viele Infizierte gibt, die nicht geimpft sind. Und das kann zur Gefahr auch für Geimpfte werden. Ja, auch Geimpfte sind weiter in der Verantwortung. Es ist nun mal so, dass Geimpfte nicht vollkommen vor Ansteckung und Weitergabe des Virus gefeit sind. Das gilt erst recht bei der aktuell hohen Verbreitung des Virus, der hohen Zahl der Ungeimpften und der zeitlich länger zurückliegenden vollständigen Impfung. Impfungen, abhängig vom Impfstoff, verlieren gerade bei Menschen über 60 Jahren ab dem dritten Monat nach dem letzten Piks an Wirkung. Das macht die schnellen Booster Impfungen umso dringlicher.

Gamechanger der Pandemie

Die vierte Welle wird ganz klar gespeist von der hohen Zahl der Ungeimpften und der Zeit. Die argumentative Verwässerung des wissenschaftlichen Konsenses ist insofern gefährlich, als es zu falschen Schlüssen über das Impfen einlädt. Was bei den meisten Menschen hängen bleibt, ist: "Die Impfung taugt doch nix." Und das ist fatal. Wir dürfen den Wert der Impfung nicht kleinreden oder gar den Eindruck erwecken, die Impfung würde nichts bringen. Hier müssen wir - und mit "wir" sind öffentliche Verwaltung, Politik und die Wissenschaft vorrangig gemeint - alle in der Aufklärung besser werden, damit gar nicht erst Raum für Fehlinterpretationen und Missverständnisse entsteht.

Die Impfung ist der Gamechanger in der Pandemie. Auffällig ist, wie stark die hohen Inzidenzen in den Landkreisen mit einer niedrigen Impfquote einhergehen. In Bayern ist in einigen Landkreisen die Inzidenz bei Ungeimpften zehn Mal höher als die Inzidenz bei Geimpften. In bestimmten Altersgruppen klafft die Inzidenz sogar noch stärker auseinander. Der R-Wert, also der Faktor, an wie viele Personen ein Infizierter das Virus weitergibt, würde merkbar mit einer steigenden Impfquote sinken. Die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken, ist bei Geimpften um ein Vielfaches geringer als bei Ungeimpften. Das Immunsystem kennt immerhin schon seinen Feind und kann die Menge des infektiösen Virus schneller und effektiver bekämpfen. Die Zeitspanne, in der Geimpfte ansteckend sind, ist nach aktuellem Stand demnach viel kürzer als bei Ungeimpften.

Ein entscheidender Vorteil der Impfung für das Gesundheitssystem ist, dass sie schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle mit hoher Wahrscheinlichkeit zu verhindern vermag. Etwa 90 Prozent der Covid-19 Patientinnen und -Patienten auf der Intensivstation sind ungeimpft. Und wenn von 1000 ungeimpften Erwachsenen unter 60 Jahren 6 bis 31 ins Krankenhaus kommen, so ist es von 1000 Geimpften nur noch maximal eine Person. Ja, es liegen auch einige Geimpfte in den Krankenhäusern. Hier gilt es allerdings einzuordnen: Die meisten von ihnen gehören zu den sogenannten vulnerablen Gruppen, also jenen mit gravierenden Vorerkrankungen, Ältere oder immunsupprimierte Menschen. Sie würden ohne die Impfung vielleicht Covid-19 nicht überstehen. Bei den Ungeimpften kommen, umgangssprachlich ausgedrückt, auch fittere und jüngere Menschen ins Krankenhaus und bedürfen verhältnismäßig lange einer medizinischen Versorgung. Zur Wahrheit gehört auch: Viele von ihnen hätten sich mit einem Impfschutz ihren Krankenhausaufenthalt sicher ersparen können.

Wunderwirkung der Tests

Die Verunsicherung und die Verwirrung sind groß. Die kostenlosen Bürgertests wurden am 11. Oktober abgeschafft, so sollten vermutlich Ungeimpfte zur Impfung gebracht werden. Die Kostenpflicht hielt nur kurz an. Nun sind die Bürgertests wieder kostenlos. Doch schon wollen erste Stimmen die Kostenpflicht zurück. Oft wird in der Diskussion verkannt, welch segensreiche Schutzwirkung durch das regelmäßige Testen von Personal, Bewohnern und Besuchern in Alten- und Pflegeheimen entstanden ist. Sowohl PCR-Tests als auch Antigenschnelltests haben überhaupt erst eine menschenwürdige "Abschirmung" von Bewohnern in diesen Einrichtungen in der Pandemie umsetzbar gemacht.

Das systematische Reihentesten auf Sars-CoV-2 hat eine Balance zwischen effektivem Infektionsschutz und selbstbestimmtem, würdigen sozialen Leben für jene ermöglicht, die in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen untergebracht sind. So sind Testungen in Bildungseinrichtungen elementar für die Aufrechterhaltung des pädagogischen Betriebes. Auf diese Weise werden sie zu Feststellungsorten von Sars-CoV-2 Infekten. Medial wurde dies allerdings leider lange verwechselt mit dem Übertragungsort der Infektion.

Die vorübergehende Abschaffung der kostenfreien Bürgertests hat neben der niedrigen Impfquote bei Erwachsenen zu den heutigen Infektionszahlen beigetragen. Nicht, weil Infektionen durch Tests verhindert werden, sondern weil durch das Erkennen Infizierter Folgeinfektionen frühzeitiger verhindert werden können. Testungen beeinflussen auch unser Sozialverhalten. Und sie geben den Menschen ein ganz wichtiges Werkzeug an die Hand: Sie können durch Tests ihre Gefährdungslage selbst messen. Diese Erfahrung der Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeit bei einer unsichtbaren Gefahr ist von unschätzbarem Wert. Wir sollten von Kitas und Schulen lernen und in der kalten Jahreszeit bei allen Arbeitsstätten, wo Menschen in Innenräumen zusammenkommen, das gleiche systematische Testkonzept implementieren. So wäre es womöglich erst gar nicht zu diesem Inzidenzanstieg gekommen.

Verantwortung der Erwachsenen

Anders als in den USA liegt noch keine Impfstoffzulassung für Kinder zwischen 5 bis 11 Jahren in Europa vor. Sie wird allen Experten nach bald kommen, die europäische EMA wird wahrscheinlich der US-amerikanischen FDA noch dieses Jahr folgen. Nur wird die Ständige Impfkommission (STIKO) bis dahin keine Empfehlung für diese Alterskohorte aussprechen. Genau das ist das Spannungsfeld, in dem sich Gesundheitsämter befinden.

Wir werden überflutet mit Hilferufen aus der Elternschaft, die sich dringlichst einen Impfschutz ihrer schulpflichtigen Kinder wünschen. Denn in den meisten Fällen werden sie von ihren Kinderärzten ohne STIKO-Empfehlung abgewiesen. Die Forderung nach Schließen von Impflücken darf nicht von dieser jungen Alterskohorte gefordert werden. Erstens haben Kinder (und deren Eltern und Lehrer) bisher die Hauptlast der Pandemie tragen müssen und zweitens stellen ungeimpfte Erwachsene das größte Infektionsrisiko für Kinder dar.

Es ist klar, dass Wissenschaft Zeit braucht. Sie nähert sich der Wirklichkeit bestmöglich an. Impflücken schließen wir nicht, solange das Impfen vornehmlich als autoritärer Akt des Staates wahrgenommen wird. In Berlin-Neukölln haben wir nach der ersten Pandemiewelle gefordert, dass massiv in die zielgruppenspezifische Aufklärung investiert werden muss. Diese Form der "Precision public health"-Kommunikation speist sich aus Experten der Psychologie, Wirtschaftspsychologie, des Marketings und der Soziologie, gepaart mit Menschen aus den jeweiligen Lebensrealitäten mit Einblicken aus den Communitys.

Das Virus hasst Aufklärung

Eine Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wirkt dagegen wie eine aus der Zeit gefallene Muppet Show, nur bei Weitem nicht so unterhaltsam. Hier muss der Kommunikationsturbo in den Kommunen gezündet werden, wenn wir Impflücken merklich schließen wollen. Es bestehen allerdings auch große Lücken bei den Patientenverfügungen: Wenn die individuelle Selbstbestimmung Vorrang vor dem allgemeinen Bevölkerungsschutz bekommen soll, müssen wir auch Sorge für eine selbstbestimmte Patientenverfügung tragen. Das bedeutet Antworten auf die Frage nach der Regelung der medizinischen Maßnahmen in Situationen, in denen man nicht mehr selbst entscheiden kann. Die Erfassung dieser Festlegung in einer Patientenverfügung ist gerade in Pandemiezeiten für die Sicherheit der Gesundheitsversorgung relevant, und das nicht nur für Geimpfte. Dies alles gilt es zu kommunizieren.

Aber im Angesicht der vierten Welle stemmen die Gesundheitsämter die Aufklärung weitestgehend alleine, ohne die entsprechenden Mittel von der Politik an die Hand zu bekommen. Mittel für Kommunikation und Aufklärung des gesamten Spektrums der Bevölkerung - Kinder, Jugendliche, Erwachsene bis zu den Greisen sowie der verschiedenen Glaubens-, Sprach- und Kulturmilieus. Bevölkerungsmedizin ist eben nicht theoretische Medizin, sondern medizinische Sozialwissenschaft im Spannungsfeld von Bundesgesetzen, Landesverordnungen und RKI-Empfehlungen.

Jede Äußerung gerade aus Politik und Wissenschaft sollte gut überlegt sein, schafft sie doch sonst rasch den Nährboden für diejenigen, die nur nach Argumenten für ihre Auffassung suchen, da sie eigentlich keine Argumente haben. Die konfus anmutenden Diskussionen, teils heftig befeuert durch anfangs zögerliche, sodann überhastete politische Entscheidungen und Statements führender Wissenschaftler ohne nähere Erklärung, sind symptomatisch für die Corona-Pandemie. Der gemeinsame Nenner der Debatten ist allzu oft: die mangelnde Aufklärung.

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Ob unser Gesundheitssystem dem Belastungsdruck in der vierten Welle standhält, hängt wesentlich von unseren Impffortschritten ab. Das flächendeckende Testen ergänzt unser Arsenal gegen Corona. Impfen und die präzise zielgruppenspezifische Kommunikation sind unsere effektivsten Waffen gegen das Virus. Dieser Dreiklang wird unsere Wintermusik wesentlich bestimmen.

Nicolai Savaskan ist Vorstandsmitglied des Berlin-Brandenburger Verbandes der ÄrztInnen im öffentlichen Gesundheitsdienst (VÄöGD BB e.V.) und Leiter des Gesundheitsamts Neukölln. Ute Viereck ist als juristische Referentin des Rechtsamts für die rechtlichen Fragen des Gesundheitsamts Neukölln zuständig

Quelle: ntv.de

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