Interview mit Escobars Sohn "Er lehrte mich: Das Telefon ist der Tod"
19.03.2017, 10:52 Uhr
Juan Pablo Escobar Henao, alias Sebastián Marroquín.
(Foto: AP)
Der kolumbianische Drogenbaron Pablo Escobar war in den 1980er-Jahren ein skrupelloser Volksheld, der einen Teil seines Reichtums mit den Armen teilte, aber das Land zugleich mit Terror überzog. n-tv.de hat mit seinem Sohn gesprochen, über eine Jugend zwischen Gewalt und Liebe, Korruption in seiner Heimat - und seine versuchte Flucht nach Deutschland.
n-tv.de: Herr Escobar, ist Ihre Familie derzeit in Gefahr?
Juan Pablo Escobar Henao: Es ist jetzt 23 Jahre her, seit mein Vater gestorben ist. Seine großen Feinde sind tot, haben sich gegenseitig ausgeschaltet, manche sitzen im Gefängnis, andere sind verschwunden. Die, die uns noch immer hassen, tun das nicht, weil wir etwas getan hätten, sondern weil sie die Verantwortung der Taten meines Vaters auf die Familie übertragen haben. Aber wenn wir in Gefahr wären, würden wir das aus den Nachrichten erfahren.
Warum lehnten Sie ein persönliches Gespräch hier in Buenos Aires ab und wir führen es nun per Videochat?
Es ist schwierig, einen passenden Ort zu finden. Ich bin aus Gewohnheit vorsichtig und gebe nicht preis, wo ich mich befinde. Ich war für mein neues Buch etwa in Kolumbien, um über meinen Vater zu recherchieren. Ich habe mich dabei auch mit den schlimmsten seiner Feinde getroffen. In diesem Moment wusste ich nicht, ob mein Leben bedroht war oder nicht. Es war gefährlich.
Welche Sicherheitsvorkehrungen hatten Sie getroffen? Hatten Sie wenigstens das Innenministerium oder die Polizei informiert?
Nein, das hätte mich sicher in noch größere Gefahr gebracht. In Kolumbien haben schon zu Zeiten meines Vaters viele Dinge genau andersherum funktioniert: Die Personen, die einen beschützen sollten, waren zugleich die schlimmsten Mörder.
Mit wem haben Sie sich getroffen?
Ich habe Ramón Isaza besucht, den Ex-Kommandeur der Paramilitärs. Mein Vater pflegte eine grausame Feindschaft zu diesem Mann (Isaza war auch Drogenschmuggler, Anm. d. Red.). Mehr als achtmal hat er versucht, Ramón umbringen zu lassen. Eines seiner Kinder verlor sein Leben. Ramón saß lange im Gefängnis, weil er seine Taten zugegeben hatte (als Kommandeur der Paramilitärischen Dachorganisation "Autodefensas Unidades de Colombia" [AUC] entwaffnete er sich im Jahr 2006 und kam Anfang 2016 wieder frei, Anm. d. Red.). Mich mit ihm zu treffen, war ein großes Risiko. Ich habe sehr offen und direkt mit ihm und einem seiner Söhne gesprochen. Ich fühlte, dass beide ebenso wie ich ein Verlangen danach haben, die Gewalt in der Vergangenheit zu belassen.
Also sind die Feinde Ihres Vaters nicht auch Ihre Feinde.
Nur deshalb haben die beiden zugestimmt, mich zu treffen. Sie wissen, dass ich die Geschäfte meines Vaters nicht fortführen will, dass ich keine Verbindung mehr zu dieser Vergangenheit habe. Keine Frage, ich hätte Pablo Escobar 2.0 sein können. Aber ich habe gewählt und jeden Tag entscheide ich mich neu dagegen.

Juan mit seinem Vater vor dem Weißen Haus in der US-Hauptstadt Washington. Das Foto ist undatiert, aber vermutlich aus den frühen 1980er-Jahren.
(Foto: picture alliance / Editorial Pla)
Gehen wir ein paar Jahrzehnte zurück. Welches Gefühl dominiert, wenn Sie sich in Ihr damaliges Leben als Jugendlicher an der Seite eines der reichsten und meistgesuchten Männer der Welt zurückversetzen?
Die große Liebe meines Vaters zu mir, die für mich noch immer sehr präsent ist. Mir ist zudem bewusst, dass auch diese Liebe mich zu einem friedfertigen Menschen gemacht hat. Unsere Leben waren in permanenter Gefahr. Unsere ganze Familie wurde behandelt und verfolgt, als wären wir keine Individuen, sondern als wären wir alle Pablo Escobar. Die Behörden haben da keinen Unterschied gemacht. Einer der besten Belege dafür ist die uns verweigerte Einreise nach Deutschland.
Das war 1993, kurz vor dem Tod ihres Vaters in Kolumbien. Aber lassen Sie uns später darüber reden. Sie sind 1977 geboren, Sie waren ein Kind, als er Anfang der 1980er-Jahre auf den Höhepunkt seiner Macht stand. Das muss ein Traum für Sie gewesen sein: die Angestellten, das riesige Anwesen der Hacienda Nápoles, die Tiere. Wie hat das Ihren Charakter beeinflusst?
Es begann wie ein Traum, aber endete als Albtraum. Es schien so schön zu sein, als lebten wir in einem Disney-Märchen. Aber das war der kleinste Teil des Traums. Ich erinnere mich nicht zuvorderst an den Luxus, den wir hatten, sondern an die Gewalt, die danach kam.
Wie erklärt sich ein Kind solche zwei gegensätzlichen Seiten seines Vaters? Die Liebe und zugleich die Gewalt?
Es gab keine Erklärung, weil Liebe blind ist. Die gesamte Zeit, die wir zusammen lebten, war er immer liebevoll zu mir. Außerhalb sah ich dann das, was er gegen andere einsetzte. Zu Hause war er sehr einfühlsam, respektvoll und anständig. Das ist ein großer Widerspruch seines Lebens. Seine vorrangigen Familienwerte waren die, die er uns Kindern vermittelte, nicht die gegensätzlichen, die er sonst anlegte.
Sie betrachten Ihren Vater also aus verschiedenen Perspektiven. Wie sehen Sie seine kriminelle Seite?
In den 1980er-Jahren hatte die Welt den Drogenhandel noch nicht so verteufelt wie heute, noch weniger den Schmuggel, der als relativ geringe Straftat gesehen wurde. Aber wegen der Drogenprohibition hat sich beides zu einem großen Geschäft entwickelt. Das hat sich mein Vater zunutze gemacht. Er ist zu 100 Prozent für seine Taten verantwortlich, aber dass er damit so reich geworden ist, daran sind auch die CIA und die US-Antidrogenbehörde DEA schuld.
Neben seinen Drogengeschäften war Ihr Vater im Jahr 1982 gewählter Abgeordneter seiner Heimatprovinz Antioquia im kolumbianischen Kongress. Wurde über seine politischen Aktivitäten in der Familie gesprochen?
Schon als ich klein war, habe ich meinen Vater oft zu öffentlich Veranstaltungen in Medellín begleitet, wo er Reden hielt. Ich war sehr nah an ihm dran, auch bei seinen politischen Kampagnen. Die Bevölkerung Medellíns schätzte ihn sehr wegen seiner Taten und Solidarität mit ihr (Escobar finanzierte viele soziale und infrastrukturelle Projekte in Armenvierteln, Anm. d. Red.). Dies alles änderte sich aber, als der Justizminister und die Zeitung "El Espectador" Beweise vorlegten, dass mein Vater ein Drogenhändler war. Daraufhin kam es zur Konfrontation mit den korrupten Eliten, die zuvor ermöglicht hatten, dass er so weit gekommen war.
Das klingt, als bedauerten Sie sein Scheitern?

Auch heute noch wird Pablo Escobar von Teilen der kolumbianischen Bevölkerung verehrt.
(Foto: picture alliance / dpa)
Niemand kommt ganz allein so weit. Das soll seine Taten nicht entschuldigen, aber natürlich ist es bequem, die komplette Verantwortung an Gewalt und Tod im Land einer einzelnen Person zu geben. Es lässt aber die korrupten Politiker außen vor, ebenso die Polizei und die geheimen Auftragskiller, die ihr permanent halfen. Sie alle haben Geld von ihm genommen, und er führte seine Geschäfte weiter. Augenscheinlich verfolgten sie ihn aber. Es war ein einstudiertes Theaterstück, um Legalität in einem extrem korrupten Land vorzutäuschen. Die Behörden boten Kopfgeld für ihn, und er bot Kopfgeld für Polizisten (der sogenannte "Plan Pistola", Anm. d. Red.). Ende der 1980er-Jahre starben in Medellín rund 500 Polizisten innerhalb eines Monats. Sie brachten sich zum Teil gegenseitig um, es gab ja Geld dafür.
Und die Verantwortung dafür lag aus Ihrer Sicht bei wem?
Nicht allein bei meinem Vater, das ist eine Legende der politischen Klasse.
Eine Legende mit Langzeitwirkung? Die kriminellen Strukturen sind noch überall. Der Bürgerkrieg ist trotz Friedensvertrages mit der Farc-Guerilla nicht beendet, es gibt zudem aktive Paramilitärs. Auch ohne Ihren Vater ist das Land der größte Kokainproduzent der Welt, auch weil Organisationen wie der Clan Úsuga überaus mächtig geworden sind.
Die Korruption erledigte sich mit dem Ende meines Vaters ja nicht. Vor allem die rechtsgerichteten Paramilitärs hatten ihre Leute im Parlament. Das ist die sogenannte Parapolitik. Während der Regierung Uribes (Vorgänger des jetzigen Präsidenten Juan Manuel Santos, Anm. d. Red.) saßen über die Hälfte der in den Kongress gewählten Abgeordneten im Gefängnis. Pablo Escobar war ein Bandit, aber unter vielen anderen Banditen. Es schien eher so, als sei in Wahrheit die Politik die organisierte Kriminalität. Und die besser organisierte noch dazu. Es gibt auch Verbindungen zwischen Farc und Politik, das wird Farc-Politik genannt.
Und wie werden diejenigen genannt, die sich von Ihrem Vater bezahlen ließen?

Mit Escobar wird Politik gemacht: Ein Plakat in Kolumbien zeigt den Drogenboss gemeinsam mit Farc-Anführer Iván Márquez und der Anweisung: "Raten Sie, wer mehr Polizisten getötet hat."
(Foto: REUTERS)
Von einer Pablo-Politik habe ich komischerweise noch nie gehört. Warum? Weil es tabu ist, darüber zu reden, weil niemand ein Interesse daran hat, die Verbindungen von Pablo Escobar mit den Mächtigen aufzudecken. Es ist bequemer, Geschichten zu erfinden, bis zu Extremen wie 'Pablo Escobar, el Patrón del Mal' (kolumbianische Telenovela mit fiktiver Handlung, Anm. d. Red.), um die Verbrechen des Establishments zu verstecken. Die wiegen ebenso schwer wie die meines Vaters.
Haben Sie mit Ihrem Vater darüber gesprochen, was er als Politiker erreichen wollte? Dachte er ernsthaft, er könnte seine Taten so im Dunkeln halten?
Der große Unterschied zwischen Pablo Escobar und den anderen Politikern ist, dass die anderen in die politische Arena gekommen sind, um zu stehlen und sich zu bereichern. Mein Vater war bereits extrem reich und militärisch mächtig, als er in die Politik ging. Er hatte keine Interesse daran, irgendjemand etwas wegzunehmen. Tatsache ist, dass er glaubte, er könne das Geschäft des Drogenhandels der kolumbianischen Bevölkerung zugute kommen lassen. Das mag eine verrückte Idee sein, aber er tat es: Er ließ mit dem Geld Straßen und Brücken, Schulen und Universitäten, Gesundheitszentren und Krankenhäuser bauen. Er wurde dadurch sehr schnell enorm populär. Er hätte eine Chance gehabt, kolumbianischer Präsident zu werden. Das machte ihn zum Feind der anderen Politiker.
Aber er war ja nicht selbstlos. Nehmen wir an, Ihr Vater wäre Präsident Kolumbiens geworden, also auch politisch so mächtig, wie er es bereits militärisch und ökonomisch war. Dann hätte er seine Befugnisse höchstwahrscheinlich auch im Eigeninteresse eingesetzt. Etwa, um seine Familie zu schützen.
Hätte er sich nicht in die Politik begeben, wäre es viel einfacher gewesen, uns zu beschützen. Die Politik war eine riesige Mafiaorganisation. Ich schätze, dass auch heute in Kolumbien etwa 3 Prozent der Bevölkerung 98 Prozent des Eigentums besitzen. Mein Vater wurde zu dieser Zeit "Robin Hood" genannt. In einem von Armut und Ungleichheit gezeichneten Land brachten ihm seine Taten sehr viel Zuspruch ein. Zudem war er der Sohn eines Bauern, und der stand mit seinem Reichtum plötzlich auf Augenhöhe mit den reichen Familien Kolumbiens. Das hat vielen nicht gefallen.
Später ging er sehr brutal vor, er ließ viele Bombenattentate verüben.
Pablo Escobar erfand den Narco-Terror nicht allein. Das erste Opfer dieses Konflikts war seine Familie: meine Mutter, meine Schwester und ich. Das macht seine Entscheidung für Außenstehende womöglich etwas menschlicher. Am 13. Januar 1988 explodierte die erste Autobombe in der Geschichte Kolumbiens, gelegt vom Cali-Kartell. Von diesem Moment an verwandelte sich mein Vater in einen Terroristen.
Fühlten Sie sich dadurch beschützt?
Ich bat meinen Vater, keine Bomben zu legen. Seine Antwort war: Vergiss nicht, dass die erste Bombe euch töten sollte. Durch seine Racheakte gab es aber auch die größere Gefahr weiterer Attentate auf uns. Meine Mutter bat Pablo darum, dass wir einen friedlichen Weg finden sollten, um die Situation nicht zu verschlimmern. Mein Vater war anderer Meinung. Dies waren die Diskussionen innerhalb der Familie.
Auch über das Attentat auf Avianca 203 mit 110 toten Zivilisten? Der spätere kolumbianische Präsident César Gaviria Trujillo kam an diesem Tag im November 1989 nur mit dem Leben davon, weil er die Maschine nicht bestiegen hatte.

Kolumbiens Präsident César Gaviria Trujillo entging dem Anschlag auf sein Leben - in seiner Amtszeit (1990 bis 1994) starb Pablo Escobar.
(Foto: AP)
Mein Vater hatte die Entscheidung getroffen. Am Tag danach erfuhren wir davon aus den Nachrichten. Er hatte nie ein Problem damit zu sagen: Ja, diese Bombe habe ich gelegt, und dieses Flugzeug habe ich abstürzen lassen, diese Person habe ich entführen oder töten lassen. Das war Teil des täglichen Lebens im Untergrund, denn wir hatten zu der Zeit kein Zuhause. Mein Vater lebte versteckt. Manchmal schickte er seine Leute vorbei, und dann fuhren wir ihn besuchen. Wir blieben aber nicht bei ihm.
Wie reagierten Sie darauf?
Wir waren traurig, weil wir auch wussten, dass das Attentat uns in Gefahr bringen würde. Unsere Feinde verstanden irgendwann, dass meinem Vater der Verlust seiner Besitztümer wie seiner Landgüter nicht viel ausmachte. Das einzige, was ihm Schmerzen zufügen konnte, war, wenn seine Familie in Gefahr war. Unsere Feinde wussten auch ganz genau, wie sehr mein Vater mich liebte. So wurde ich zu einem Hauptziel. Manchmal wurde ich mehr beschützt als er.
Der Krieg tobte über Jahre. Trotzdem floh Ihre Familie erst zum Ende des Jahres 1993 aus Kolumbien. Gab es einen Schlüsselmoment für die Entscheidung, Ihren Vater zurückzulassen?
Wir flohen aus einem ganz einfachen Grund. Die Drogenkartelle hatten uns gefunden und wir niemanden, der uns verteidigt hätte. Die Behörden waren praktisch ein weiteres Kartell. Sie unterschieden nicht, ob wir selbst Kriminelle waren oder nicht. Uns blieb nur das Exil. Das klappte zunächst nicht, weil uns alle Länder ihre Türen wegen unseres Nachnamens verschlossen. Doch um zu überleben, mussten wir vor der Gewalt fliehen, wohin auch immer.
Sie flogen dann nach Frankfurt. Warum hofften Sie auf Unterschlupf in Deutschland?
Ein Cousin von mir, Nicolás Escobar, war ein paar Monate zuvor ohne jegliches Problem über die Grenze gekommen. Wir dachten also, es gäbe keine Vorurteile wegen unseres Nachnamens und die Behörden würden uns einreisen lassen. Was wir nicht wussten, war, dass Roberto Escobar, mein Onkel und damit der Vater von Nicolás, ein Informant der DEA war. Den Deutschen war also bekannt, dass die beiden auf der anderen Seite standen. Wir hingegen wurden am Frankfurter Flughafen nicht ins Land gelassen.
Wie kam das? Ihr Vater versteckte sich in Kolumbien, er war doch gar nicht bei Ihnen.
Wir wurden auf Druck der kolumbianischen und der US-Regierung abgewiesen. Wir sagten den deutschen Behörden, dass uns die kolumbianische Polizei töten wolle und wir unsere Rückkehr garantiert mit unserem Leben bezahlen würden. Wir hatten dort kaum Möglichkeiten, zu überleben. Die Regierung hatte Söldner beauftragt, uns zu suchen und gegebenenfalls zu töten, um meinen Vater unter Druck zu setzen. Sie wollten, dass er sein Versteckspiel beendet. (Paramilitärische Organisation "Perseguidos por Pablo Escobar" alias "Los Pepes"; auch finanziert vom verfeindeten Cali-Kartell, unter anderen unterstützt von der kolumbianischen Polizei, Anm. d. Red.)
Das war am 28. November 1993. Was haben Sie dann getan?
Uns wurde verweigert, ein neues Ziel zu wählen. Wir wurden mit Gewalt auf die Heimreise geschickt. Obwohl wir eine harmlose Gruppe waren: meine neunjährige Schwester, meine Mutter, meine Freundin und ich mit meinen 16 Jahren. Die Welt war also nicht nur gegen Pablo Escobar, sondern gegen seine ganze Familie. Und wir hatten nichts getan, wir waren nur Beobachter.
Sie waren also wieder in Kolumbien und in Lebensgefahr. Er rief Sie mehrfach an. Was war so wichtig, dass er sein Leben aufs Spiel setzte, um mit Ihnen zu sprechen?
Mein ganzes Leben lang hatte er mich gelehrt: Das Telefon ist der Tod. Das hatte er wörtlich gesagt. Zehn Jahre lang war er der meistgesuchte Mann der Welt und zehn Jahre lang benutzte er das Telefon nicht. Aber nach unserer Rückkehr nahm er es allein siebenmal in die Hand, um uns zu erreichen. Er verwendete seinen eigenen Apparat unter seinem eigenen Namen, etwas, was er niemals in seinem Leben getan hatte. Er fragte einfach immer wieder, wie es uns ginge. Ich konnte das nicht glauben. Er hätte ja jemand anderes darum bitten können, uns zu fragen.
War er vielleicht einfach leichtsinnig?
Es war klar, dass mein Vater sein Leben beenden wollte. Ich wollte ihn beschützen und bat ihn, nicht mehr anzurufen. Aber er tat es immer wieder. Und jedes Mal sagte er, wenn er zu unserem Hotelzimmer in Bogotá durchgestellt werden wollte: Mein Name ist Pablo Emilio Escobar Gaviria, meine Telefonnummer lautet soundso, und ich möchte mit meiner Familie sprechen. Logischerweise wusste er, dass sie ihn so finden und erschießen würden, er war ja nicht dumm. Und bevor das geschehen konnte, tötete er sich selbst.
Was dachten Sie, als Ihnen seine Absicht klar wurde?
Für mich war das der größte Liebesbeweis für uns. Nachdem wir in Deutschland abgewiesen worden waren, war klar, dass es so lange keinen sicheren Platz auf der Welt für uns geben konnte, bis er tot war. Wir waren Gefangene, umzingelt von den Los Pepes, die ihn zur Strecke bringen sollten (Andere Familienmitglieder waren zu diesem Zeitpunkt von der Organisation bereits getötet worden, Anm. d. Red.). Der Welt sagten die kolumbianische Regierung und die Behörden, dass sie uns schützen würden. Aber so war es nicht. Mein Vater beendete sein Leben, damit wir endlich frei sein konnten.
Inzwischen tragen Sie einen anderen Namen. Das ging aber nur, weil Ihr Vater schon tot war.
Ja, das war 1994. Mehr als sechs Monate lang hatten wir zuvor versucht, irgendwo Asyl zu bekommen. Wir waren bei allen Botschaften in Bogotá und baten um Aufnahme. Bei der UN beriefen wir uns auf die Kinderrechtskonvention, aber ohne Erfolg. Alle wiesen uns ab, sogar der Vatikan. Unser Glück war, dass es in Kolumbien ein Gesetz gab, dass Bürgern erlaubte, ihren Namen zu ändern, wann und wie sie wollten.
Trotzdem haben Sie Kolumbien danach verlassen.
Als wir unseren Namen geändert hatten, gab es ein Asylangebot der Regierung von Mosambik. Wir reisten dorthin, aber als wir dort ankamen, sahen wir, dass es dort keine Zukunft geben würde. Das Land war zerstört vom Bürgerkrieg. Der Hunger war überall. Unabhängig vom Geld waren keine Lebensmittel aufzutreiben. Die Situation in der Hauptstadt Maputo war extrem, für uns noch schlimmer als in Kolumbien. Wir waren gekommen, um zehn Jahre dort zu verbringen – blieben aber nur vier Tage. Also reisten wir nach Argentinien und dachten, wir würden ein paar Monate bleiben. Jetzt sind es 23 Jahre.
All das ist ja nicht gratis. Sie hatten also noch das Drogengeld Ihres Vaters.
Wir hatten noch einen Teil. Viel wurde uns weggenommen, konfisziert: die Anwesen, die Autos, die Kunstwerke. Was wir noch übrig hatten, haben wir der Regierung von Mosambik überlassen. In Kolumbien hatten wir fast nur Feinde, inklusive meiner Großmutter väterlicherseits. Als wir nach Argentinien kamen, konnten wir nur dank fremder Hilfe überleben.
Im Konflikt der Drogenkartelle und des Staates hat es viele Opfer gegeben, manche tot, andere sind Angehörige, die zurückgelassen wurden. Wie stehen Sie ihnen gegenüber?
Es wäre das Beste gewesen, den Leidtragenden mit dem Geld zu helfen, das mein Vater hinterlassen hatte. Aber es gibt keine offizielle Liste der Opfer. So gibt es keine Ansprüche auf Entschädigungen. Das ist also sehr bequem. Der Staat, die korrupten Politiker, die Polizei und die anderen Kartelle haben sich die Besitztümer meines Vaters angeeignet. Die wahren Opfer des Krieges sind leer ausgegangen. Sie haben keinen einzigen Peso gesehen. Manches wurde auch für einen Spottpreis verhökert und selbst dieses Geld ging nicht an die Opfer. Im Stadtgebiet von Medellín wurden etwa 15 Hektar Bauland an ein Privatunternehmen für zwei Millionen US-Dollar verkauft. Der tatsächliche Wert lag bei mindestens 20 Millionen Dollar.
Haben sich Ihre Ansichten über die Geschehnisse Ihrer Jugend in all den Jahren seit dem Tod Ihres Vaters geändert?
Dort wo wir lebten, war ein Kolumbien, wo Polizisten andere Polizisten töteten. Sie arbeiteten für meinen Vater, obwohl sie ihn suchen sollten. Die Politiker verfolgten ihn, machten aber zugleich Drogengeschäfte mit ihm. Es war eine Farce. Er zeigte mir die dunkle, korrupte Realität. Ich wusste als Kind nicht, wer schlimmer war. Er oder die, die das Recht vertreten sollten und meine Familie töten wollten. Und sie haben es nicht nur gewollt, sie haben wirklich meine Verwandten und Freunde getötet. Andere sind verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Das war mein Leben.
Hegen Sie Groll oder sogar Hass gegen ihn?
Es gibt keine unausgesprochenen Dinge, nichts, was mir noch nachhinge. Als ich die Möglichkeit hatte, habe ich mich ihm gegenüber klar ausgedrückt. Ich bat ihn bis zum Gehtnichtmehr, die Gewalt zu beenden. Und obwohl ich völlig dagegen war, habe ich ihm immer gesagt, dass ich ihn liebe und trotz seiner Entscheidungen bis zum Ende seiner Tage bei ihm sein würde. Und ja, ich würde ihm auch heute die Dinge ins Gesicht sagen, wie ich sie sehe.
Und wie?
Ich erkenne restlos die Verbrechen an, in die er verwickelt war. Ich unterscheide für mich ganz klar zwischen seinen guten und seinen schlechten Taten. Es ist sicher, dass er schlecht war. Aber ebenso sicher ist, dass er ein guter Mensch war. Mit diesen beiden Realitäten muss ich leben.
Mit Juan Pablo Escobar Henao alias Sebastián Marroquín sprach Roland Peters
Quelle: ntv.de