Panorama

Marcel Mayers "dunkelste Nacht" Flutnacht im Ahrtal sorgt bis heute für Angst

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Marcel Mayer hat die Flut erlebt, aufgeräumt und fotografiert.

(Foto: Marcel Mayer)

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Der Fotograf Marcel Mayer ist an der Ahr geboren und aufgewachsen. Er erlebt das Hochwasser im Juli 2021 in seinem Elternhaus mit und fotografiert in den Tagen, Wochen und Monaten danach die Menschen im Flutgebiet. Seitdem sieht er seine Heimat mit anderen Augen.

"Die dunkelste Nacht", das ist für Marcel Mayer die vom 14. auf den 15. Juli 2021. Er ist bei seinen Eltern, im Haus seiner Kindheit in Ahrweiler, ein wenig außerhalb der Stadtmauer. Weil es so sehr regnet, ist er etwas früher nach Hause gekommen. Mayer ist beunruhigt. "Auf dem Weg waren Feuerwehren mit Booten auf den Anhängern unterwegs", erzählt er ntv.de. "Da wusste ich, es ist etwas anders als sonst."

Mayer ist an der Ahr aufgewachsen - mit dem Hochwasser. "Das letzte war 2016. Dann laufen halt die Keller voll." Die Erfahrungen eines Lebens. Am 14. Juli 2021 abends um acht fällt der Strom aus und Mayer bittet seine Eltern, in obere Stockwerk zu gehen. "Mein Vater hat mich ausgelacht, hat es aber gemacht." Danach verschwimmen die Ereignisse.

Viel Schlaf bekommt Mayer in dieser Nacht nicht. "Es war stockdunkel und es gab schreckliche Geräusche." Als er am nächsten Morgen um fünf aus der Tür tritt, ist nichts mehr wie vorher. "Auf der anderen Straßenseite stand das Wasser bei den Häusern bis zum Untergeschoss. In den Gärten, die etwas tiefer liegen, lagen Autos, Container, Brückenteile, Müll."

Geschichten von Menschen

In den nächsten sechs Monaten kommt Mayer kaum zur Ruhe. "Wir hatten ja keinen Strom, kein Wasser, kein gar nichts. Ich habe erstmal in der Nachbarschaft geholfen, Dreck wegzuräumen, Wasser zu bringen, bin nach Bonn gefahren, um Medikamente zu holen." Doch Mayer ist Fotograf und irgendwann holt er die Kameras wieder raus. Seine Idee ist, nicht noch mehr Trümmer- oder Katastrophenbilder zu produzieren, sondern die Geschichten dahinter aus der Sicht der Menschen zu erzählen.

In den Tagen voller Verzweiflung und Sorgen hat niemand Zeit und Nerven, sich mit Fotomotiven zu beschäftigen. Immer wieder erklärt er, was er macht. "Es war ja schon so, dass man da Fotografen und Reporter nicht unbedingt haben wollte. Aber ich habe einen guten Zugang gefunden und über Monate hinweg viele Tage mit den Menschen verbracht, habe mit ihnen gegessen, getrunken, gelacht, geweint." Das Ergebnis ist die Fotoserie "The darkest night", die die Schicksale von vier Familien vom 15. Juli 2021 bis Ende Februar 2022 erzählt.

Da ist Familie Krämer - ein junges Paar mit vier Kindern aus Laach. Björn Krämer rettet sich in der Nacht in die Weinberge, sieht mit an, wie ein Haus samt seiner Bewohner vom Wasser mitgerissen wird. Ihr eigenes Haus muss nach dem Hochwasser abgerissen werden. Auch die Ergotherapiepraxis von Krämer in Ahrweiler wird zerstört. Bis heute führen sie ein provisorisches Leben in einer Ferienwohnung. Die kurdische Familie Haji hat nach ihrer Flucht aus dem Irak in Bad Neuenahr eine neue Heimat gefunden. Mit ihrem schwerbehinderten, an den Rollstuhl gebundenen Sohn Dler und ihrem Sohn Aras entkommen sie im letzten Moment, als das Wasser in die kleine Erdgeschosswohnung eindringt. Ein Jahr danach leben sie noch immer zu viert auf 20 Quadratmetern in einem der Tiny Houses auf dem Parkplatz gegenüber dem Schwimmbad in Bad Neuenahr.

Ein Gefühl von Weltuntergang

Arianit und Stefanie Haxhiu-Juchem haben sich im Neubaugebiet Heppingen den Traum vom eigenen Haus erfüllt. Ein Jahr vor der Flut können sie einziehen, auch wenn sie noch keine Versicherung haben. Nach der Flutnacht ist ihr Haus bis in den ersten Stock zerstört. Weil die Ersparnisse aufgebraucht sind, bauen sie alles in Eigenleistung wieder auf.

Und dann sind da noch Mayers Eltern, Renate und Rainer, beide Kriegskinder in ihren 80ern. Ihr Haus bleibt nahezu unversehrt und trotzdem ist in ihrem Leben kaum noch etwas, wie es war. "Mein Vater ist 82, meine Mutter 80, sie können da kaum noch leben. Es gibt in der Stadt keine Geschäfte oder Cafés mehr, es gibt ein paar Container, wo man etwas kaufen kann, und einen Supermarkt. Für meine Eltern ist das der Weltuntergang", sagt Mayer. Seine Mutter erleidet zwei Schlaganfälle.

Mayers Fotos haben eine verstörende Atmosphäre, wie aus einer verlorenen Welt. "Das ist auch das, was ich gefühlt und gesehen habe." Mayer fotografiert in Farbe, aber was er durch den Sucher wahrgenommen habe, "spiegelt schwarz-weiß am ehesten wider". Auch in den jüngeren Bildern ist die apokalyptische Stimmung der Katastrophennacht immer noch präsent, genauso wie die Verzweiflung der Menschen. "Am Anfang standen alle unter Schock, der Schlamm musste weg, es musste aufgeräumt werden. Der Estrich musste raus, der Putz runter. Im Winter musste das alles trocknen." Bis heute ist die Dankbarkeit für die überwältigende Hilfe groß. Doch inzwischen fehlt es an Baugenehmigungen und vielen auch an Geld. "Die Menschen sind wirklich angeschlagen", beobachtet Mayer. Das Gefühl mache sich breit, man werde vergessen.

Kein singuläres Ereignis

Wer heute durch die Orte an der Ahr fährt, wird überall mit den Flutschäden konfrontiert. Die Menschen benutzen die Behelfsbrücken, die das Technische Hilfswerk errichtet hatte. Einige Straßen sind saniert, andere noch sehr provisorisch. Viele Geschäfte sind noch immer geschlossen, ganze Straßenzüge werden von Bauarbeiten dominiert. "Es gibt Orte wie in Laach, da ist fast nichts passiert. Da fehlt jedes dritte, vierte Haus", erzählt Mayer. "Als ich dort Fotos mit der Drohne gemacht habe, wusste ich nicht, wo ich bin. Und ich kenne dort jeden Zentimeter."

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Viele fürchten, dass es bis zu zehn Jahre dauern könnte, bis die Schäden wirklich beseitigt sind. "Die Hoffnungslosigkeit und die Angst sind vielleicht größer als je zuvor." Wenn es heute mehr als zwei Stunden regnet, wird den Menschen bang. "Dann breitet sich so eine bedrückte Stimmung aus und diese Angst verbindet sich jetzt mit dem Fluss. Wir waren ja stolz auf das enge Tal und dass alles so nah am Wasser gebaut war." Heute sieht Mayer das anders.

"Wenn ich heute diese kurvigen Straßen und die Häuser an der Ahr entlang sehe, wo die Menschen auch wieder hinwollen, wird mir angst." Die Veränderungen durch den Klimawandel, an der Ahr sind sie konkret geworden. Mayer kann die Menschen verstehen, die an ihrer Heimat hängen. Er hofft auch, dass sie im Ahrtal bleiben. "Aber ich finde es mutig, wieder an dieselbe Stelle zu gehen." Zu präsent sind bei ihm die Erlebnisse aus der "dunkelsten Nacht" und zu eindeutig die Expertenstimmen. "Jahrhunderthochwasser heißt ja nicht, das kommt nur alle Hundert Jahre. Es kann morgen passieren, in 10 Jahren oder 50." Für ihn ist die Flut, die er erlebt hat, kein singuläres Ereignis, genauso wenig wie die Geschichten der Menschen auf seinen Fotos Einzelschicksale sind. "Durch die Veränderung des Klimas ist klar, das wird wieder passieren."

Quelle: ntv.de

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