"Das ist ein großer Effekt"Forscher errechnen halbierte Zuwachsrate

Mit drastischen Mitteln versucht die Bundesregierung in der Corona-Krise, den Anstieg der Infektionszahlen zu bremsen - offenbar mit Erfolg. Wissenschaftler aus Regensburg und Mainz haben herausgefunden, dass sich das Wachstum bei den Neuansteckungen seit einer Woche deutlich verlangsamt hat.
Seit knapp zwei Wochen liegt das öffentliche Leben in Deutschland auf Eis. Um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, wählte die Bundesregierung drastische Mittel. Die Frage ist seither, ob die Maßnahmen auch Wirkung zeigen. Eine Modellrechnung von Wissenschaftlern der Universitäten Regensburg und Mainz macht nun Hoffnung: Demnach hat sich die Zuwachsrate der Covid-19-Erkrankungen seit dem vergangenen Freitag fast halbiert. Hatte der Anstieg in den Tagen zuvor noch bei durchschnittlich 27 Prozent gelegen, pegelt er sich seit einer Woche bei im Schnitt 14 Prozent ein. "Diese Veränderung kann mit fast vollständiger Sicherheit als systematisch bezeichnet werden", erklärt der Regensburger Wirtschaftswissenschaftler Enzo Weber ntv.de. "Das ist ein großer Effekt."
Datawrapper Grundlage der Berechnung sind nicht die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI), sondern Daten der Johns-Hopkins-Universität in den USA. Letztere sind den Statistikern zufolge weniger starken Verzögerungen unterworfen. Um den Verlauf der Neuinfektionen darzustellen, nutzten die Wissenschaftler statistische Methoden aus der empirischen Volkswirtschaft. Zwar sei es laut Weber immer möglich, dass die zur Verfügung stehenden Daten aufgrund von Zufallseinflüssen schwankten - etwa dadurch, dass sich bei gutem Wetter mehr Menschen infizieren als bei schlechtem. Aber aufgrund der dauerhaft starken Abnahme der Zuwachsrate betrage die statistische Sicherheit der Ergebnisse 99,9 Prozent.
Dass der Bruch im Wachstumstrend erst ab dem 20. März sichtbar wird, erklärt sich Weber mit der Inkubationszeit und Verzögerungen durch die Diagnostik. Weber nennt ein Beispiel: "Am 16. März wurden die Schulen geschlossen. Bei den Kindern, die sich an diesem Tag infiziert hätten, wären erst Tage später Symptome aufgetreten. Dann wären sie getestet worden und danach hätte man die Testergebnisse erfahren." Überall gebe es Verzögerungen, die dazu führten, dass ein Effekt erst nach einer gewissen Zeit auftritt. Dennoch sind sich die Wissenschaftler sicher, dass die Ausgangsbeschränkungen für die gesunkene Zuwachsrate ursächlich sind.
Kein Grund zur Entwarnung
Weber hält einen zusätzlichen Effekt durch die am 22. März beschlossene Kontaktsperre sowie die bundesweiten Restaurantschließungen für möglich. Das werde sich aber erst in den kommenden Tagen zeigen. Eine Prognose darüber, wie stark der Rückgang durch diese Maßnahmen ausfallen könnte, wagen die Forscher nicht. "Das hängt auch von der Dunkelziffer bei den Infektionen und den Übertragungsraten ab", erklärt Weber. Nach Informationen der Nachrichtenagentur Reuters ist der weniger starke Anstieg bei den Neuinfektionen auch schon in einem internen Lagebericht des Bundeswirtschaftsministeriums thematisiert worden.
Entwarnung wollen die Wissenschaftler aber trotz des positiven Trends noch nicht geben. "Auch 14 Prozent mehr Infizierte pro Tag sind 14 Prozent mehr", sagt Weber. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte zuletzt eine Lockerung der Ausgangsbeschränkungen ausgeschlossen - zumindest so lange, bis die Zuwachsrate bei den Neuinfektionen nicht mindestens noch einmal halbiert ist. Das würde bedeuten, dass erst bei einem Wachstum von nur noch sieben bis neun Prozent mit einer Aufhebung der Verbote zu rechnen wäre. Ob die seit Montag geltende Kontaktsperre eine derart starke Wirkung entfaltet, wird sich frühestens in ein paar Tagen zeigen.
Sollte die Zahl der Neuinfektionen nicht wie erwünscht sinken, hat die Bundesregierung nach Ansicht von Weber aber längst nicht alle Mittel ausgeschöpft. "Wir haben noch keine Ausgangssperren", so Weber. "Und wir haben noch nicht wie in Italien die gesamte Industrie stillgelegt. Wollen wir es nicht hoffen, aber vorstellbar ist noch einiges."