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"Putin wird total unterschätzt" Klitschko und Kiel kämpfen weiter für Kinder

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Wenn man am heutigen Weltkindertag mit Wladimir Klitschko spricht, dann natürlich über ukrainische Kinder. Zusammen mit Tatjana Kiel stellt er ntv.de die aktuelle Initiative "Kindheit endet, wenn Krieg beginnt" vor. Es geht um psychologische Hilfe für die Kinder, die nicht wissen, wohin mit Ängsten und Gefühlen.

Wenn man Wladimir Klitschko fragt, wie es ihm geht, dann sagt er: "Frag' Tatjana. Wenn du mit ihr sprichst, weißt du auch, wie es mir geht, sie ist mein verlängerter Arm." Wenn man Wladimir Klitschko trifft, ist es in vielen Momenten auch sehr lustig, weil er andere einfach gern zum Lachen bringt. Auch, wenn das Thema ernst ist. Es gibt leider unendlich viele Möglichkeiten, über Kinder am Weltkindertag zu sprechen. Wenn man an diesem Tag mit Wladimir Klitschko spricht, dann natürlich über die ukrainischen Kinder, die verschleppt wurden. Darüber, was in seinem Land passiert.

Wladimir Klitschko: "Wir zeigen unser Gesicht, nicht unseren Rücken."

Wladimir Klitschko: "Wir zeigen unser Gesicht, nicht unseren Rücken."

(Foto: Sascha Ornot)

Klitschko ist gerade in seinem Büro in Kiew. "Mir geht es gut, der Himmel ist blau, 27 Grad", sagt er mit einem Lächeln, und verweist darauf, dass es am Fluss Dnepr Momente gibt, die durchaus an die Riviera erinnern. Denn ja, es ist so, in der Ukraine gehen Menschen ihrer Arbeit nach, sie gehen zur Schule, an die Uni, sie leben, lieben, lachen. An manchen Orten, dort, wo der Krieg gerade nicht ist. Dort, wo man für einen Moment genießen kann, nicht vor einer Drohne weglaufen zu müssen. Das kann sich aber jeden Moment ändern.

Solange der Krieg herrscht, denken wir an folgende Worte von Wladimir: "Je lauter, stürmischer und unkontrollierbarer die Situation wird, desto ruhiger werde ich". Ist das noch immer so? Er nickt vehement und Tatjana Kiel sagt: "Was mich aufregt sind Kleinigkeiten, die machen mich manchmal aggressiv. Aber wenn die großen Probleme auftreten, dann bin ich ruhig, dann fange ich sofort an, einen Plan zu machen."

Wie nehmen wir Kindern die Todesangst?

Und das ist gerade der Fall: Wieder - oder besser gesagt: wie immer, haben sich Klitschko und Kiel zusammengetan, um Kindern zu helfen. Kinder, die verschleppt waren, die zurückkehrten und Entsetzliches erlebt haben, die Kinder, die nur noch Sirenen und Schutzkeller kennen. Und mit den traumatischen Erlebnissen oft alleingelassen sind.

"Während andere Eltern sich überlegen, wo sie ihre Kinder zum Studieren anmelden oder in den nächsten Urlaub fahren, müssen wir uns fragen, wie nehmen wir unseren Kindern in der Ukraine die Todesangst." Klitschko ist aber nicht entmutigt, im Gegenteil, er ist einfach nur realistisch. Und kämpferisch. "In der Ukraine wissen wir eins: Wenn wir nicht die Zähne zeigen, werden wir verlieren."

Wie geht eine Gesellschaft mit gestohlenen, mit verletzten, mit psychisch kranken Kindern, in die Zukunft? "Wenn die Ukraine fallen sollte, dann fällt nach und nach der Rest der westlichen Welt. Mit diesen Auswirkungen werden wir zu tun haben. Und trotzdem arbeiten wir nicht an dem Kern der Sache", sagt Wladimir Klitschko im Gespräch mit ntv.de. Nur wenn die Kinder psychisch stabil sind, ist eine stabile, sichere Zukunft für sie möglich."

Deshalb geht es in der aktuellen Initiative "Kindheit endet, wenn Krieg beginnt" mit ihrer Hilfsorganisation #WeAreAllUkrainians um psychologische Hilfe für die vielen Kinder, die nicht mehr wissen, wohin mit ihren Ängsten und Gefühlen.

Macht die beiden dieser Krieg nicht mürbe? Natürlich, aber nicht so mürbe, als dass nicht beide noch genug Kraft hätten, um dagegen anzukämpfen. "Wir haben allerdings ein Problem", sagt Klitschko, "die freie Welt ist impotent. Wie und ob sie je wieder potent wird, ist die große Frage, und eine weitere Frage wäre dann: Wann kommt dieser Effekt zu uns in die Ukraine?" Ein berechtigter Einwand. "Ich nenne ein Beispiel: Neulich wurde Polen von mehreren Kamikaze-Drohnen attackiert. Raketen! Und was sagt man im Rest der Welt dazu? Es sei ein Versehen gewesen. Aber ich sage dir - so geht es immer weiter. Putin testet seine Macht aus!"

Die Enttäuschung darüber, dass die Reaktionen anderer Staaten doch eher verhalten ausfielen, merkt man Klitschko an: "'Aus Versehen' haben Putins Soldaten auf der Krim auch 'ihre Regierung verloren' und sind da ganz 'aus Versehen' auf der Halbinsel gelandet'?". Das war 2014.

Tatjana Kiel: "Wir fokussieren uns. In unserem Fall auf die Kinder. Und das weltweit."

Tatjana Kiel: "Wir fokussieren uns. In unserem Fall auf die Kinder. Und das weltweit."

(Foto: Sascha Ornot)

"Was sind die Konsequenzen?"

Wenn Wladimir Klitschko erzählt, spricht er ohne Groll, er ist ein Diplomat. Auch, als er sich noch einmal darüber wundert, wie die Regierung Merkel die Atomenergie aufgegeben hat und von Kohle, Öl und Gas aus Russland abhängig wurde: "Ich erinnere mich daran, als Joe Biden sagte: 'Wenn Russland eine gewisse Grenze überschreitet, dann werden sie mit heftigen Konsequenzen zu rechnen haben'. Was sind denn die Konsequenzen", fragt er. "Die Welt hat 2022 dabei zugeschaut, wie Russland den Westen angegriffen hat, und niemand hat reagiert."

Hat das keiner ernst genommen? "Niemand dachte, dass das länger als drei Tage dauern wird. Inzwischen wissen wir, dass die Ukraine sich zu wehren weiß. Selbst ohne übertrieben viele Waffen – nur mit unserem Willen." Er drückt seinen Rücken durch und atmet tief ein. "Ich mache mir große Sorgen darüber, dass der Populismus in der Politik komplett übernimmt. Das und die Krisen der Wirtschaft setzen die Zukunft der nächsten Generation aufs Spiel."

Er wirkt kein bisschen müde, als er sagt: "Die Bösen rücken zusammen, immer mehr. Das Böse war schon immer da, das ist leider wahr, und deswegen hat man auch schon immer gekämpft, das wird so bleiben." Das Gute sei zu schwach, glaubt er, und: "Es gibt anscheinend keinen richtig starken Willen." Keine schöne Perspektive. "Vor allem nicht, wenn wir an die Zukunft denken, an die Kinder. Und das wollen wir. Nicht nur heute, aber heute ganz besonders, am Weltkindertag."

Therapiesitzung in einem Kiewer Hope and Healing Center: Frühe psychologische Hilfe ist elementar.

Therapiesitzung in einem Kiewer Hope and Healing Center: Frühe psychologische Hilfe ist elementar.

(Foto: Save Ukraine)

"Putin wird total unterschätzt"

Reden, diskutieren, abwägen - das alles hilft also gar nicht? "Wir sehen ja, wie um Putin herumgetanzt wird. Friedensgespräche - das klingt so gut, aber er wird total unterschätzt. Es wird total daneben agiert und am Thema vorbeigesprochen."

Seitdem das Buch "Gestohlene Leben – die verschleppten Kinder der Ukraine" im September 2023 erschienen ist, sind zwei Jahre vergangen. "Damals hofften wir noch, alle Kinder zurückbekommen. Das ist nun nicht mehr der Fall, denn viele der Kinder sind bereits russifiziert oder auf russischem Gebiet. Das bedeutet, man kommt überhaupt nicht mehr an sie ran", sagt Tatjana Kiel, die zu Box-Zeiten genauso an der Seite der Klitschko-Brüder Waldimir und Vitali stand wie sie es heute mit der Organisation #WeAreAllUkrainians (#WAAU) tut.

Kinder haben keine Lobby

Was ihr am meisten Sorge bereitet, ist, dass in der großen Weltpolitik die Geschichten der Kinder in den Hintergrund rücken. "Aber Menschen erreicht man vor allem über Geschichten, und ganz besonders über Geschichten von Kindern." Jeder war mal ein Kind, viele Menschen haben selbst Kinder, und die Erzählungen über die Kinder aus der Ukraine sind für die meisten unvorstellbar. "Kinder haben keine richtige Lobby. Wir müssen sie aber in den Fokus rücken, denn ohne sie wird es keine Zukunft geben", drängt Kiel. "Und deswegen wollen wir vor allem erzählen, was wir für sie tun können."

Wenn wir die Ukraine und ihre Kinder nicht unterstützen, sägen wir uns den Ast ab, auf dem wir sitzen – das scheint aber nicht überall angekommen zu sein. Immer noch nicht. Und immer noch ist es nicht genug, was 'wir' tun? "Darf ich das anders formulieren", lächelt Wladimir Klitschko. "Es ist nie genug Hilfe, nie genug Unterstützung. Es geht um Kinder! Und solange der Rashism, also der russische Faschismus, von Putin an der Ukraine ausgeführt wird, solange muss man sich weiterhin fragen, wann etwas genug ist."

Seiner Ansicht nach kann es nicht genug Waffen geben, nicht genug humanitäre Unterstützung - und man kann ihn verstehen: Stellen Sie sich vor, es ginge um Ihr Kind? Um unsere Kinder, die in Frieden aufwachsen, zur Schule gehen, zum Arzt, mit ihren Freunden spielen und mit ihren Vätern Fußball gucken. Und das von einem Tag auf den anderen nicht mehr tun können. Denn im Krieg gehen Kinder in Luftschutzkeller oder U-Bahnschächte oder Bunker. Sie sehen dabei zu, wie ihre Mütter vergewaltigt werden, sie sind hungrig und schlafen nie durch. Sie haben Angst. Todesangst.

Mit einem Aggressor friedlich sprechen?

Putins Propaganda-Maschinerie, seine persönlichen Äußerungen über die aus seiner Sicht größte Tragödie des letzten Jahrhunderts - den Zusammenbruch der Sowjetunion – mündet ja schlicht in dem Wunsch, das sowjetische Imperium wieder herzustellen. "Und wo sind die Grenzen des russischen Imperiums gewesen? Das wissen die Deutschen eigentlich zu gut", so Klitschko. "Dass Leute trotzdem immer noch denken, wir werden Frieden haben, wenn wir am Ende die Ukraine aufgeben, ist naiv. Denn es wäre nur der Anfang eines anderen Krieges." Klitschko sieht als einzigen Ausweg, den Krieg zu stoppen, Putins System und seine Vorstellungen auszulöschen. "Sonst wird er gewinnen. Nur mit aggressiver Handlung kommt man gegen den Aggressor an. Mit einem Aggressor kann man nicht friedlich sprechen."

Es gibt aber auch Positives, findet Klitschko: "Der Krieg hat die Menschen zusammengebracht. Wir bauen auf den anderen, wir helfen uns, auch wenn man sich nicht kennt, es ist ein reines Gefühl. Wir identifizieren uns neu." Made in Ukraine hat einen Wert: "Wir sind qualifiziert, ausgebildet, wir wollen vorankommen. Wir sind 24/7 im Einsatz. Wir sind kreativer geworden. Wir habe keine Armee gehabt, jetzt haben wir eine der stärksten Armeen Europas. Wir haben Wissen, auch in der modernen Kriegsführung. Und das ist wichtig, auch für die Nato-Allianz."

Kinder wieder aufbauen

Aber wie kriegen wir die Kinder zurück? "Das ist schwer. Es geht schon lange nicht mehr um Verhandlungen, es ist alles riskanter geworden. Ja, wir können Kinder identifizieren, aber so, wie wir es anfänglich gemacht haben, klappt es nicht mehr. Nach Russland gehen wir nicht. Außer, die Linie der besetzten Gebiete schwankt, dann können wir Kinder holen", erzählt Klitschko.

Tatjana Kiel: "Wir müssen uns vor allem darum kümmern, dass wir Kinder, die Schlimmstes erlebt und gesehen haben, die gefoltert wurden, die gesehen haben, wie ihre Eltern umgebracht wurden, wie ihre Mutter ans Heizungsrohr gekettet wird, um ihren Willen zu brechen, wieder aufbauen."

"Die Kinder, mit denen ich gesprochen habe, sind alle psychisch verletzt. Sie werden vielleicht jahrelang nicht über ihre Erlebnisse sprechen." Aus eigener Erfahrung weiß Wladimir Klitschko, wie das ist: "Es gibt Dinge, die habe ich meinen Eltern zehn Jahre nicht erzählt. Weil man mir gedroht hat. Ich hatte einfach Angst."

Studie der Charité

Forscher der Berliner Universitätsklinik Charité haben in Studien nachgewiesen: Individuen, die in der Kindheit starken psychischen Belastungen ausgesetzt waren, altern schneller – auf drei Ebenen gleichzeitig. Veränderungen zeigen sich im Blut, in der Hirnstruktur und in den kognitiven Fähigkeiten – ein dreifacher Nachweis, der die Tiefe der Auswirkungen von seelischen Belastungen zeigt. Diese Effekte treten oft schon in jungen Jahren auf und erhöhen das Risiko für Erkrankungen wie Depression, Demenzerkrankungen oder Alzheimer im späteren Leben. Kinder, die unter den anhaltenden Belastungen eines Krieges leben – wie aktuell in der Ukraine – sind in besonders hohem Ausmaß traumatischen Erfahrungen ausgesetzt. Daraus ergibt sich ein klarer Handlungsbedarf: Denn die negativen Folgen sind nicht unvermeidlich. Studien zeigen auch: Mit gezielter psychosozialer Hilfe lassen sich die Auswirkungen frühkindlicher Traumata abmildern. Genau hier setzen Hilfsmaßnahmen für die Kinder in der Ukraine an. Ihre Spende hilft, nachhaltige Unterstützung zu finanzieren – von psychologischer Soforthilfe über Alltagstools bis zu individueller Begleitung.

Aber er will nicht über sich reden, er will erzählen, wie pervers es jetzt ist: "Es gibt einen Kinderkatalog, da kann man sich Haar- und Augenfarben aussuchen, Charaktereigenschaften, was könnten die drauf haben anhand ihrer Herkunft, passen die zu mir. Den Katalog gibt es online." Er macht eine Pause. "Und wenn es nicht darum geht, dass man die Kinder 'adoptieren' kann, dann geht es vielleicht um die Organe der Kinder. Putin möchte schließlich 150 Jahre alt werden."

Wladimir Klitschko sagt: "Sabine, als du damals die Interviews für das Buch geführt hast, das war schon grausam. Aber inzwischen ist es noch unberechenbarer und unvorstellbarer, immer grausamer, geworden." Das tägliche Leben vieler Kinder in der Ukraine besteht aus Stress und Angst. "Über die Spätschäden sind wir uns noch gar nicht vollkommen im Klaren, auch wenn wir wissen, dass Krieg Spuren in der DNA über Generationen hinterlässt", so Kiel. "Im Vorwort des Buches erwähnen wir einen jungen Boxer, der Halt sucht, und ein Mädchen, das einfach an die Hand genommen werden möchte. Diese Kinder waren auf eine gewisse Art bereits alt. Man konnte es an ihren Augen sehen." Eine Charité-Studie zeigt: Kinder die permanenten Traumata ausgesetzt sind, altern schneller, auf jeglichen Ebenen.

"Ich habe manchmal die Möglichkeit, nicht in der Ukraine zu sein. Wer das nicht hat, der hat die Bedrohung ständig im Nacken", sagt Waldimir Klitschko. "Du hörst die Einschläge, das ist der Alltag. Du weißt nicht, wie viele Raketen angreifen, wie oft, in welcher Frequenz - das können vor allem die Kinder nicht aushalten ohne Hilfe."

Quelle: ntv.de

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