Panorama

Langer Kampf gegen Missbrauch Leid interessierte die Odenwaldschule "einen Scheißdreck"

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Die Schule wurde 2015 geschlossen.

Die Schule wurde 2015 geschlossen.

(Foto: imago/Gutschalk)

Vor 25 Jahren schreiben zwei ehemalige Schüler an die Odenwaldschule. Sie wollen den sexuellen Missbrauch aufdecken, der ihnen dort widerfahren ist. Doch die Schule weiß längst Bescheid und setzt alles daran, ihren guten Ruf zu retten. Erst Jahre später kommt das ganze Ausmaß der Taten heraus.

Als sich Andreas Huckele zusammen mit einem früheren Mitschüler am 10. Juni 1998 an die Leitung der Odenwaldschule wendet, sind keine nostalgischen Gefühle an die dort verbrachte Schulzeit im Spiel. Vielmehr haben sie erfahren, dass der frühere Direktor Gerold Becker wieder aushilfsweise an der OSO, wie die Odenwaldschule von vielen nur genannt wird, unterrichtet. Huckele lebte in Ober-Hambach drei seiner sieben Schuljahre in der sogenannten Familie von Becker und hat "ein paar Hundert sexuelle Übergriffe durch Becker erlebt", wie er ntv.de erzählt.

Andreas Huckele hat nicht aufgegeben.

Andreas Huckele hat nicht aufgegeben.

(Foto: imago/Horst Galuschka)

Huckele und sein Mitstreiter schreiben Schulleiter Wolfgang Harder und dem gesamten Lehrerkollegium, berichten, was ihnen widerfahren ist. "Wir dachten, wir bieten dem Schulleiter und allen Lehrerinnen und Lehrern des Kollegiums der Odenwaldschule eine Information an, die sie noch nicht hatten. Und wir dachten, dass sie dann mit uns gemeinsam Becker begrenzen und diesen Fall von sexualisierter Gewalt aufdecken", sagt Huckele über ihre Motivation. "Wir wollten die nächste Schülergeneration vor dem bewahren, was wir selbst erlebt haben." 29 Jahre ist Huckele damals, zehn Jahre sind vergangen, seit er an der OSO Abitur gemacht hat.

Doch die Schule und damit auch die Lehrkräfte, die für Huckele und viele andere Schülerinnen und Schüler fast etwas wie Elternersatz waren, reagieren ganz anders als erwartet. "Wir waren die Nestbeschmutzer", sagt Huckele. Es hätten ja längst alle gewusst, dass Becker sexualisierte Gewalt gegen Kinder ausübt. "Sie hatten auch überhaupt kein Interesse daran, uns zu helfen, wollten uns beruhigen und beschwichtigen." Ein Jahr lang werden die ehemaligen Schüler hingehalten, ohne, dass etwas von den Vorwürfen öffentlich gemacht wird. "Es hat sie einen Scheißdreck interessiert", sagt Huckele. "Unsere ehemaligen Lehrer und Erzieher standen auf der Seite des Täters und wollten lediglich die Schule und ihren guten Ruf retten."

"Erweiterte Mitwisser- und Täterschaft"

Ein Jahr lang gibt es immer wieder Hinhaltemanöver, dann gehen die beiden früheren Odenwaldschüler zur "Frankfurter Rundschau". Unter dem Pseudonym Jürgen Dehmers spricht Huckele erneut gemeinsam mit seinem Mitschüler über den systematischen Missbrauch an der Schule. Doch der Bericht wird kaum aufgegriffen, "alle machten weiter wie bisher". Huckele, der inzwischen selbst Lehrer ist, erlebt das als "erweiterte Mitwisser- und Täterschaft von Gesellschaft, Sozial- und Kultusministerium des Landes Hessen und der pädagogischen Zunft".

Sehr viel später spricht der Rostocker Erziehungswissenschaftler Jens Brachmann in seiner Untersuchung "Tatort Odenwaldschule" von einem Systemversagen. Neben dem früheren Schulleiter Becker hat es demnach mindestens vier weitere Haupttäter an der OSO gegeben. Allein Becker habe sich bis Mitte der 80er-Jahre mutmaßlich an mehr als 100 Kindern und Jugendlichen vergangen. Bei rund zwei Dutzend Mitarbeitern seien die Grenzen zwischen passiver Tatunterstützung und aktiver Täterschaft zudem fließend. Das Missbrauchssystem an der Odenwaldschule, zu dem auch Frauen gehörten, durchdrang demnach alle Hierarchieebenen. Bekannt gewordene Übergriffe wurden vertuscht, zutage getretene Defizite nicht behoben. Lehrer und frühere Schulleiter seien Pädophile gewesen. Brachmann prägt den Ausdruck, es bedürfe "eines 'ganzen Dorfes', um ein Kind zu missbrauchen".

Doch bis das ganze Ausmaß des systematischen Missbrauchs offenbar wird, ist es ein langer Weg. Ausgerechnet die geplanten Feierlichkeiten zum 100-jährigen Bestehen im Jahr 2010 liefern Huckele die Motivation für einen erneuten Anlauf gegen die Mauer des Schweigens. Als er erfährt, "dass die Odenwaldschule 100-jähriges Bestehen feiert und sich selber toll finden will, habe ich für mich entschieden, das werde ich verhindern". Anfang des Jahres sind die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius Kolleg öffentlich geworden. Im März 2010 spricht Huckele erneut über die unfassbaren Schrecken, die er und andere während ihrer Schulzeit erlebt haben. Und diesmal findet er Gehör. "Plötzlich haben alle Zeitungen über das geschrieben, was in der Odenwaldschule passiert ist. Und das war exakt das Gegenteil von dem, was ich 1999 erlebt habe."

Moment der Genugtuung

Seitdem hat Huckele inzwischen auch unter seinem richtigen Namen unzählige Male über die sexuellen Übergriffe an der Odenwaldschule gesprochen und geschrieben. 2011 erscheint sein Buch "Wie laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch", für das er später den Geschwister-Scholl-Preis bekommt. "Ich wollte diese ganze Geschichte selbst aufschreiben und publizieren, um dadurch die Deutungshoheit meiner eigenen Geschichte behalten zu können." Die Dokumentarverfilmung seines Buches ist aktuell im Streamingdienst von RTL+ zu sehen. Den 80-minütigen Film hat Huckele in Kooperation mit dem Berliner Dokumentarfilmer Nils Bökamp in den vergangenen zwei Jahren gedreht.

Seit 2015 ist die Schule geschlossen, es gab immer weniger Anmeldungen, die Finanzierung der Privatschule brach schließlich zusammen. Huckele erinnert sich, wie er 2016 nach Heppenheim fuhr. "Ich habe gesehen, wie das Gras zwischen den Kopfsteinpflastersteinen wächst, weil dort einfach keine Autos mehr fahren und keine Menschen mehr drüberlaufen. Das war ein großer Moment von Genugtuung und vor allem auch Entspannung. Ich hatte das Gefühl, jetzt ist es endlich vorbei. An diesem Ort wird kein Kind mehr misshandelt."

25 Jahre, nachdem er und sein Mitschüler den ersten Brief schrieben, ist Huckele, der inzwischen als Berater in seiner Praxis für Sexualität, Trauma und Partnerschaft arbeitet, trotzdem desillusioniert. Vor 25 Jahren habe man noch sagen können, man wisse nicht so genau, in welchen Dimensionen es sexuellen Missbrauch an Kindern gebe. "Heute wissen wir, wie Täter agieren." 90 Prozent der Täter kennen die Kinder, die oft genau diesen Lehrer, Trainer oder Chorleiter mögen. Das sei die Täter-Strategie. "Wenn die Bindung hergestellt ist, dann kommt der Übergriff." Die Täterschaft von Frauen sei immer noch zu wenig bekannt und stark tabuisiert, dabei sei inzwischen gesichert, dass Frauen genauso Kinder missbrauchen wie Männer oder Gleichaltrige. "Überall, wo es Kinder gibt, wird sexualisierte Gewalt gegen sie ausgeübt. Und eine ganze Gesellschaft schaut dabei zu", so Huckele.

Waren Tätern "völlig gleichgültig"

Aber es interessiere die Gesellschaft nicht, keine Partei mache Wahlkampf mit dem Thema, Eltern erkundigten sich nicht, ob ihre Kinder in der Schule sicher seien, es gebe kaum Geld für Beratungsstellen, Aufklärung oder die Behandlung traumatisierter Kinder. "Das Thema ist so groß und heftig, dass niemand etwas davon hören will", sagt Huckele.

Er selbst ist verheiratet, hat erwachsene Kinder und kann auf ein gelungenes Leben schauen. Das ist für Opfer sexueller Gewalt mit all den erlittenen Verletzungen keine Selbstverständlichkeit. Immer wieder begleitet er in seiner Praxis unter anderem Aufdeckungsprozesse für Missbrauchstaten und spricht mit den Opfern auch über deren Wünsche, Täter zu konfrontieren. "Dann sage ich, wenn du dir das zutraust, kannst du das genau einmal machen. Aber mach dir klar, was diese Konfrontation bringen soll. Beziehungsklärung? Zorn ausdrücken? Bevor du das nicht weißt, lass es." Von langen Auseinandersetzungen mit Tätern und Täterorganisationen rät er ab, es führe einfach zu nichts, die katholische Kirche sei hierfür ein gutes Beispiel. Jahrelange Diskussionen hätten der Kirche Zeit geschaffen, Abwehrmechanismen zu entwickeln und die Betroffenen zermürbt. So seien Opfer noch ein zweites Mal zu Opfern geworden.

Auch er würde es heute vermutlich anders machen. "Ich würde mir heute vermutlich raten: Verschwende deine Zeit nicht, mit diesen kriminellen Idioten zu reden, geh' direkt zur Presse und such dir einen guten Anwalt." Trotzdem will der heute 54-Jährige seinen eigenen Aufarbeitungsweg nicht missen. Für ihn sei das eine Beziehungsklärung mit seinen früheren Lehrern gewesen, die er fast wie Eltern empfand. In einem extrem schmerzhaften Prozess habe er sich schließlich eingestehen müssen, "dass wir den Menschen, von denen wir dachten, sie meinen es gut mit uns, einfach völlig gleichgültig waren".

Quelle: ntv.de

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