Panorama

40. Welt-AIDS-Tag Pillen, Pudel und bissiger Humor

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Selbstporträt der Künstlergruppe General Idea.

Selbstporträt der Künstlergruppe General Idea.

(Foto: National Gallery of Canada)

Pudel in provokanten Sexposen, gigantische Pillen und das Wort AIDS als "Imagevirus": Eine Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau begeistert das Publikum mit Werken von General Idea. AA Bronson, den letzten Überlebenden des Künstlertrios, hat ntv.de zum 40. Welt-AIDS-Tag getroffen.

Vier Buchstaben, die Angst, Trauer oder Wut auslösen. Vier Buchstaben, die sich verbreiten, wie ein Virus es nun mal tut. Am 1. Dezember ist Welt-AIDS-Tag und ein trauriger Jahrestag: Vor 40 Jahren wurde das HI-Virus entdeckt. Weltweit leben über 38 Millionen Menschen mit AIDS. Die Zahl der Menschen, die eine HIV-Behandlung benötigen, wächst seit Pandemie und Krieg wieder. "AIDS" ist auch der Titel eines weltweit bekannten Werkes des kanadischen Künstlerkollektivs General Idea. Deren Ideen kann man derzeit in einer 200 Werke starken Retrospektive im Berliner Martin-Gropius-Bau nachspüren.

Mediale Aufmerksamkeit garantiert: Porträt der Künstlergruppe aus dem Gründungsjahr 1969.

Mediale Aufmerksamkeit garantiert: Porträt der Künstlergruppe aus dem Gründungsjahr 1969.

(Foto: Frédéric Sanchez)

"Als wir 1986 nach New York kamen, wurde das Leben plötzlich sehr ernst", erinnert sich AA Bronson im Gespräch mit ntv.de in Berlin. Alles Leichte war abrupt vorbei. Die AIDS-Epidemie wütete in der Stadt, besonders in der Kunstszene. Künstlerkarrieren wie die von Keith Haring - er starb mit 32 Jahren - wurden jäh beendet. Ganze Freundeskreise der queeren Community wurden durch die Immunschwäche eliminiert.

Die drei von General Idea wohnten direkt neben dem St.-Vincent-Krankenhaus im Greenwich Village. Es war die einzige Klinik in der Stadt, in der AIDS-Patienten, die einen qualvollen Tod starben, von Ärzten versorgt wurden. AA Bronson bricht heute noch die Stimme, wenn er sich an die zermürbende Zeit dort erinnert. Die Freunde begleiteten einen ihrer besten Freunde beim Sterben. Sie mussten zudem selbst seine Laken und Handtücher wechseln, weil das Klinikpersonal Angst vor Ansteckung hatte.

1969 gegründet, arbeitete General Idea in Toronto zunächst als fluide Familie mit bis zu acht Mitgliedern. Die Kanadier übten humorvoll Kritik an der damals bereits bilderüberfluteten Welt. Sie nahmen die Mechanismen von Konsumexzess und Kommerz aufs Korn, führten sie mit bissiger Ironie teilweise in Performances vor. Als Museen Mitte der Achtziger den Fokus auf Blockbuster-Ausstellungen legten, fingen sie an, Kunst über Kunst zu machen. Eigneten sich ikonische Werke von Malern wie Piet Mondrian an und ersetzten das Gelb seiner abstrakten Bilder durch Grün. Angeblich hatte Mondrian die Farbe gehasst. "Grün war auch die Farbe, die jeder freitags im College trug, der gay war", erzählt Bronson.

Strategie des Totschweigens

Michael Tims alias AA Bronson, der letzte Überlebende von General Idea, arbeitet ebenso erfolgreich als Solo-Künstler.

Michael Tims alias AA Bronson, der letzte Überlebende von General Idea, arbeitet ebenso erfolgreich als Solo-Künstler.

(Foto: Luca Giardini)

Sich selbst bezeichneten sie als "kulturelle Kriminelle und Medienparasiten", ab 1975 arbeitete das Kollektiv nur noch als Trio. Kanada wurde ihnen Mitte der Achtzigerjahre geografisch zu eng. Alle wichtigen Ausstellungsorte waren abgegrast und so zogen sie zu dritt weiter nach New York. Dort traf sich damals die internationale Kunstszene. Kuratoren aus aller Welt kamen, um hier neue, andere Kunst zu entdecken.

Was sie nicht wussten: Ihnen blieben nur noch acht Jahre für gemeinsame Werke. AA Bronson ist der einzige Überlebende von General Idea. 1994 starben zunächst Jorge Zontal und einige Monate später Felix Partz.

In puncto AIDS fuhr die Regierung der USA lange die Strategie des Totschweigens. Schließlich galt die Seuche als Krankheit der Schwulen, Drogenabhängigen und Prostituierten. Das Virus wird nicht nur durch Sperma und Vaginalsekret, sondern auch durch Blut weitergegeben. Es gab keinerlei Aufklärung, keine Prävention, geschweige denn eine Stop-AIDS- oder Safer-Sex-Kampagne. Aus Angst vor Übertragung wurden mit der Immunschwäche Infizierte von der Mehrheit der Gesellschaft als Bedrohung wahrgenommen und stigmatisiert.

Die gesellschaftliche Herabsetzung und die Ausgrenzung der Homosexuellen befeuert General Idea, die eigene Sexualität und AIDS in das Zentrum ihrer Arbeiten zu rücken. Gut die Hälfte der Kunstwerke, Installationen und Skulpturen im Gropius-Bau beschäftigen sich mit der Gesundheitskatastrophe. Die Künstler stehen für eine Art AIDS-Aktivismus, der trotz farbenfroher Unbekümmertheit und Humor einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Kunst sei ein wirkungsmächtiges Instrument und könne auf vielfältige Weise Bewusstsein für ein Thema wecken, so Bronson.

AIDS als Merch?

Ihr größter Coup: Sie ersetzten die ikonische LOVE-Skulptur des US-amerikanischen Pop-Art Künstlers Robert Indiana durch das Wort AIDS. "Wir hatten schon 1985 darüber nachgedacht LOVE auszutauschen, dachten aber, es sei schlechter Geschmack. Ein Jahr später war der richtige Zeitpunkt", so AA Bronson. Indianas Logo prangte damals bereits auf Schlüsselanhängern und anderem Merchandising-Kram und hatte - wie ein Virus - alles infiziert. Zunächst hatte General Idea nur ein AIDS-Bild für eine Wohltätigkeitsveranstaltung der AIDS-Forschung geschaffen. Das wollte sich allerdings keiner in seine eigenen vier Wände hängen.

Kurz darauf fluteten sie mit AIDS-Plakaten den öffentlichen Raum. Mit ihrer ebenso simplen wie plakativen Intervention "Imagevirus" erreichten die Künstler viel. Ihr Werk brach in den USA das Schweigen und setzt bis heute Gefühle und Diskussionen frei, dabei ist es nicht belehrend. Das Geheimnis sei, fasst Bronson zusammen, dass mit ihrem AIDS-Logo nichts erzählt wird. Es lässt Raum für eigene Interpretation und jeder sehe die für ihn richtige Bedeutung.

Das Intime wird öffentlich

Im Wechselbad der Gefühle. Riesige Pillenskulpturen und das ikonische AIDS-Logo infizieren den Gropius-Bau und begeistern das Publikum.

Im Wechselbad der Gefühle. Riesige Pillenskulpturen und das ikonische AIDS-Logo infizieren den Gropius-Bau und begeistern das Publikum.

(Foto: Luca Giardini)

Die Künstlergruppe war ab 1994 nach 25 Jahren nicht mehr existent. "Eigentlich verlor ich mit Felix' und Jorges Tod auch mein Leben", sagt AA Bronson rückblickend. Er suchte nach einer neuen künstlerischen Identität. "Ich habe fünf Jahre gebraucht, um auf die Beine zu kommen. Als ich schließlich wieder anfing, als Künstler zu arbeiten, schuf ich von Felix und Jorge Totenporträts wie im Mittelalter." Er konfrontierte das Publikum in seiner ersten Einzelausstellung in der Wiener Secession mit den Tabuthemen Sterben und Tod. Dazu inszenierte er Fotos der Sterbenden und arrangierte ihre Lieblingsgegenstände um sie herum. So machte AA Bronson plötzlich das Intime und Private öffentlich.

Acht Monate vor ihrem Tod waren die Männer zurück nach Toronto gezogen. "Das kanadische Gesundheitssystem ist großartig. Wir wussten, dass wir zurückgehen, wenn Jorge und Felix an dem Punkt ankommen, an dem sie in eine Klinik müssen", erinnert sich AA Bronson. Pflegepersonal und Ärzte kamen zu ihnen nach Hause, zunächst einmal die Woche, dann ein-, später zweimal täglich.

Etwas für den zweiten Blick: Das Pudel-Kamasutra verbirgt sich in einer verspiegelten Herzchenbox.

Etwas für den zweiten Blick: Das Pudel-Kamasutra verbirgt sich in einer verspiegelten Herzchenbox.

(Foto: Luca Giardini)

Sie fanden einen produktiven Arbeitsmodus. Kunst und gemeinsames Leben verschmolzen noch einmal. "In diesem knappen Jahr haben wir so viel gearbeitet wie in zehn Jahren. Wir haben endlos geredet, Kaffee getrunken, unsere Traumprojekte besprochen und alles aufgezeichnet. Wir wussten, dass vieles erst später realisiert werden kann." Zwei Assistenten begleiteten die Künstler und produzierten fleißig die Kunstwerke.

Leben mit AIDS ohne Medikamente unmöglich

Die politischen Themen von General Idea, den Wortwitz und das Spiel mit der Kunstgeschichte verstehen Museumsbesucher auf Anhieb. Das erste HIV-Medikament kam 1987 auf den Markt. Neun Jahre später konnten die Wirkstoffe so kombiniert werden, dass die Viren im Körper unterdrückt werden können und AIDS nicht ausbricht. Diese lebensrettende antiretrovirale Therapie ist teuer und in vielen Ländern, wo sie dringend benötigt würde, nicht verfügbar. 150 riesige Pillen an der Wand des Berliner Ausstellungshauses erinnern an die Tablettenmenge, die Felix Partz Monat für Monat nehmen musste. Inzwischen starben mehr als 40 Millionen Menschen an dem Virus. Drei überdimensionale Pillenskulpturen zeigen, dass ein Leben mit AIDS bis heute nicht ohne tägliche Medikamente funktioniert.

"VideoVirus" von General Idea leuchtet Tag und Nacht. Die sehenswerte Installation flimmert am Kurfürstendamm auf dem größten LED-Screen Berlins.

"VideoVirus" von General Idea leuchtet Tag und Nacht. Die sehenswerte Installation flimmert am Kurfürstendamm auf dem größten LED-Screen Berlins.

(Foto: Anna Bauer)

"General Idea" läuft noch bis zum 14. Januar im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin

Der Gropius-Bau und die Kunstplattform CIRCA zeigen noch bis zum 3. Dezember die dreiminütige Intervention "VideoVirus". Immer 23 Minuten nach der vollen Stunde. So soll auf die immer noch aktuelle Krise aufmerksam gemacht werden. Kurfürstendamm, Ecke Joachimsthaler Straße in Berlin plus eine Kurzversion auf 100 Bildschirmen in der Stadt. Zum Video bitte hier

Quelle: ntv.de

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