Abgründe einer Familie Welche Rolle spielten Émiles Großeltern bei seinem Verschwinden?


Im Februar nahm die Familie Abschied von Émile.
(Foto: AFP)
Der Fall des verschwundenen Émile erschüttert Frankreich. Am Ort seines Verschwindens gibt es bis heute Verdächtigungen, Gerüchte und Spekulationen. Im Zentrum steht immer wieder Émiles Großvater, der nun gemeinsam mit der Großmutter und zwei weiteren Erwachsenen festgenommen wurde.
Der zweieinhalbjährige Émile verschwindet am 8. Juli 2023. Seine Eltern haben ihn gerade für die Sommerferien zum Zweitwohnsitz seiner Großeltern mütterlicherseits in Haut-Vernet gebracht und sind anschließend wieder abgereist. Knapp zwei Jahre später werden seine Großeltern, eine Tante und ein Onkel festgenommen. Sie stehen im Verdacht, den kleinen Émile getötet und seine Leiche beseitigt zu haben.
Émiles Großvater, Philippe V. , ist Osteopath, Physiotherapeut und das Oberhaupt einer sehr gläubigen katholischen Familie. Mit seiner Frau Anne hat er zehn Kinder, die alle zu Hause unterrichtet wurden. Émiles Mutter Marie ist die Älteste.
Am Abend seines Verschwindens sagen die Großeltern aus, sie hätten den Enkel aus den Augen verloren. Zwei Zeugen wollen gesehen haben, wie der kleine Junge die Straße hinunterlief. Sein Großvater soll zu diesem Zeitpunkt Holz gehackt haben. Zuvor hatte er gemeinsam mit seiner Frau die Kirche Saint-Martin geputzt. An dem Tag sind auch viele andere Verwandte auf dem Hof.
Viele Theorien, keine Antworten
Alle Suchmaßnahmen bleiben ohne Erfolg, Émile ist wie vom Erdboden verschluckt. Die Polizei verfolgt alle möglichen Ermittlungsansätze. Könnte ein Greifvogel oder ein Wolf den Zweieinhalbjährigen verschleppt haben? Ist er mit einem Auto weggebracht worden? Gab es einen Unfall, vielleicht mit einer Erntemaschine? Auch das Haus der Eltern von Émile wird durchsucht. François Balique, der Bürgermeister von Haut-Vernet, schließt in Interviews immer wieder aus, dass die Familie etwas mit dem Verschwinden des Jungen zu tun haben könnte.
Doch im Dorf gibt es Vorbehalte gegen die Familie, vor allem gegen den Großvater, den viele als "harten Mann" beschreiben. In der Vergangenheit war gegen ihn wegen des Verdachts auf Gewalt und sexuellen Missbrauch ermittelt worden. Zu dieser Zeit war V. Erzieher in der religiösen Gemeinschaft Sainte-Croix de Riaumont in Liévin (Pas-de-Calais). Er bestritt die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs, gab aber zu, Schüler geschlagen zu haben. Gegen elf ehemalige Kollegen wurde schließlich Anklage wegen verschiedener Anklagepunkte erhoben.
Nach Émiles Verschwinden kursieren zahlreiche Spekulationen und Gerüchte im Dorf, es heißt, der Großvater habe am Tag von Émiles Verschwinden eine Auseinandersetzung mit einem Nachbarn gehabt. Auch die Ermittler bemerken sein aufbrausendes Temperament. Die Familie wird während der Ermittlungen mehrfach befragt, hüllt sich aber öffentlich in Schweigen.
Im März 2024 findet eine Spaziergängerin schließlich den Schädel und Zähne des Kleinkindes in knapp zwei Kilometern Entfernung vom Haus der Großeltern. Die Ermittler suchen die Gegend erneut ab und finden Émiles Kleidung sowie ein weiteres Knochenstück. Weil das Gelände nach dem Verschwinden extrem sorgfältig durchsucht worden war, wird vermutet, dass die Knochen dorthin zurückgebracht worden sein könnten. Ein solcher Schritt würde der Untersuchung ein sehr beunruhigendes Element hinzufügen, zitiert die britische "Sun" aus Ermittlerkreisen.
Was ist passiert?
Die Todesursache des Kindes bleibt jedoch unklar. "Zwischen einem Sturz des Kindes, fahrlässiger Tötung und Mord können wir noch immer keine These als wahrscheinlicher erachten als die andere, um das Verschwinden und den Tod des Kindes Émile zu erklären", sagt wenige Tage nach dem Fund Staatsanwalt Jean-Luc Blachon.
Émiles Eltern lassen der Frau später über ihren Anwalt einen Brief zukommen, in dem sie ihre tiefe Dankbarkeit ausdrücken. "Ihnen verdanken sie es, dass sie um ihren kleinen Jungen trauern und ihn bestatten konnten", zitieren französische Medien daraus. "Sie sind Ihnen unendlich dankbar und werden Ihnen nie genug danken können."
Zu Verdachtsmomenten über seine mögliche Verantwortung für das Verschwinden seines Enkels erklärt V.s Anwalt vor einem Jahr, sein Mandant hoffe, dass "die Ermittler nicht zu viel Zeit mit ihm verschwenden und so andere Hinweise vernachlässigen würden".
Erst in diesem Jahr findet der kleine Émile seine letzte Ruhe. Am 8. Februar trifft sich die gesamte Familie in der Basilika Saint-Maximin-la-Sainte-Baume (Var) zu einer auf Latein gehaltenen Trauermesse nach dem Ritus des Heiligen Pius V. Hunderte Menschen sind ebenfalls anwesend. Nur wenige Stunden nach der Zeremonie geben Émiles Großeltern eine Erklärung an mehrere Medien, in der es heißt, dass "die Zeit des Schweigens der Wahrheit weichen muss".
Neunzehn Monate sind vergangen, neunzehn Monate ohne Gewissheit. "Wir müssen verstehen, wir müssen wissen", schreiben sie. "Die juristischen Mittel wurden eingesetzt, die Ermittlungen durchgeführt, und dennoch wissen wir immer noch nicht, was mit Émile seit seinem Verschwinden am 8. Juli 2023 passiert ist."
Kurz darauf kehren die Ermittler nach Haut-Vernet zurück. Am 13. März wird ein großer Blumenkübel beschlagnahmt, der am Eingang der Kapelle des Weilers aufgestellt war. Die Staatsanwaltschaft weigert sich zunächst, das zu bestätigen. Doch nicht einmal zwei Wochen später kommt es zur Festnahme der Großeltern und von zwei erwachsenen Kindern des Paares.
Nun wird das Haus der Großeltern erneut durchsucht, ein Auto und ein Pferdeanhänger wurden zur Spurensicherung abtransportiert. Zudem gebe es an verschiedenen Orten im ganzen Land forensische Untersuchungen, heißt es von der Staatsanwaltschaft. Französische Medien berichten, dass sich die Ermittlungen auch auf Telefonmitschnitte stützen, die in den vergangenen Monaten entstanden. Demnach gab es zwischen Émiles Eltern und seinen Großeltern Meinungsverschiedenheiten, während die Familie nach außen den Eindruck von großer Einigkeit abgab.
Quelle: ntv.de