Sekten und die ApokalypseWenn die Welt einfach nicht untergeht
Von Fabian Maysenhölder
Was passiert, wenn eine religiöse Gruppe den Untergang der Welt verkündet - und am nächsten Morgen geht die Sonne trotzdem auf? Man könnte meinen: Dann ist alles vorbei. Doch immer wieder schaffen es Bewegungen, ihr eigenes Scheitern in neue Gewissheit zu verwandeln.
Es ist eine Geschichte, die sich immer wiederholt: Eine (zumeist) religiöse Gruppe verkündet ein konkretes Datum für den Weltuntergang. Die Anhängerinnen und Anhänger bereiten sich vor, geben Jobs auf, verkaufen Häuser, verabschieden sich von Freunden. Und dann … passiert nichts. Die Welt dreht sich weiter, als wäre nichts gewesen. Ganz offensichtlich ist bislang noch keine der abertausenden Prophezeiungen der Apokalypse eingetreten, die es in der Vergangenheit gegeben hat und bis heute gibt. Man würde erwarten, dass solche Gruppen nach dem offensichtlichen Scheitern ihrer Prophezeiung auseinanderfallen. Doch das ist nicht der Fall. Viele überleben nicht nur, sondern werden sogar stärker. Wie ist das möglich? Wie gehen eingeschworene Gemeinschaften mit so einem Rückschlag um?
Die große Enttäuschung von 1844
Um dieses Phänomen zu verstehen, lohnt sich ein Blick zurück ins Jahr 1844. William Miller, ein baptistischer Laienprediger aus New York, hatte jahrelang die Bibel studiert und dabei eine Berechnung aufgestellt: Basierend auf dem Prophetenbuch Daniel und einigen Worten Jesu aus den Evangelien kam er zu dem Schluss, dass Jesus Christus im Jahr 1844 wiederkehren würde. Seine Botschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer und er gewann viele treue Anhänger und Anhängerinnen. Die sogenannten "Milleriten" waren geboren.
In den Monaten vor dem vermeintlichen Weltuntergang, den Miller schließlich final auf den 22. Oktober 1844 terminierte, bereiteten sich viele der Gläubigen auf das Ende vor. Menschen beglichen ihre Schulden, um "rein" vor Gott zu stehen. Bauern ließen ihre Felder ungeerntet, Ladenbesitzer verschenkten ihre Waren - wozu noch Vorräte anlegen, wozu noch Geld verdienen, wenn doch ohnehin bald alles vorüber ist?
Entsprechend war die Verzweiflung groß, als am 23. Oktober die Sonne wie an jedem Tag zuvor auch einfach aufging. Hiram Edson, ein prominenter Anhänger, beschrieb später: "Unsere schönsten Hoffnungen und Erwartungen waren zerplatzt und solch ein Geist des Jammerns überkam uns, wie ich es niemals zuvor erlebt habe." Die Presse spottete. Manche der Gläubigen kehrten Miller tatsächlich den Rücken und gingen zurück in ihre alten Gemeinden. Doch längst nicht alle.
Was nicht passt, wird passend gemacht
Eben jener Hiram Edson, einer der treuesten Anhänger Millers, hatte "am Tag danach" eine Eingebung: Das Datum war korrekt, nur das Ereignis war falsch verstanden worden! Jesus sei nicht auf die Erde zurückgekehrt, sondern in den innersten Bereich des himmlischen Tempels eingetreten. Es sei also auf der Erde nicht sichtbar eine neue Zeit angebrochen, sondern unsichtbar im Himmel. Diese theologische Uminterpretation bot vielen einen Rettungsanker: Die jahrelangen Mühen des intensiven Bibelstudiums, das viele Geld, die viele Zeit, die die Menschen investiert hatten - es war nicht alles umsonst. Die Gläubigen konnten weiter hoffen. Und die Milleriten überlebten: Aus dieser Gruppe entwickelten sich schließlich die Siebenten-Tags-Adventisten, eine weltweite Kirche mit inzwischen über 20 Millionen Mitgliedern - heute ganz ohne konkretes Datum für die Apokalypse.
Was die Milleriten damals erlebt haben, hat die Sozialpsychologie später auf den Begriff der "kognitiven Dissonanz" gebracht. Leon Festinger hat ihn 1956 geprägt, nachdem er eine kleine UFO-Sekte beobachtet hatte. Die Gruppe um Dorothy Martin erwartete eine verheerende Flut für den 21. Dezember 1954, vor der sie durch Raumschiffe gerettet werden sollten. Als weder Flut noch UFOs kamen, löste sich die Gruppe aber nicht auf. Martin empfing stattdessen eine überraschende neue Botschaft: Die Gebete der Gruppe hätten so viel Licht verbreitet, dass Gott die Katastrophe abgewendet habe.
Festingers Erkenntnis: Wenn Menschen viel in einen Glauben investiert haben - egal ob emotional, sozial oder finanziell - ist es psychologisch oft einfacher, die Realität umzudeuten, als den Glauben aufzugeben. Besonders gut funktioniert das dann, wenn man nicht auf sich alleine gestellt ist, sondern Teil einer Gemeinschaft, die gemeinsam an dieser Umdeutung arbeitet.
Ein Problem, mehrere Lösungen
Für diese Umdeutung gibt es ganz unterschiedliche Strategien, die in verschiedenen Formen immer wieder zu finden sind. Denn natürlich sind die Milleriten nicht alleine. Jede Gruppe, die konkrete, nachprüfbare Prophezeiungen über das Ende der Welt macht, steht irgendwann vor der Herausforderung, mit Fehlschlägen umzugehen.
Eine beliebte Strategie ist dabei eben jene Spiritualisierung, die die Milleriten angewendet haben: Das Ereignis hat stattgefunden, aber auf einer unsichtbaren Ebene. Diesen "theologischen Trick" nutzen zum Beispiel auch die Zeugen Jehovas, die für das Jahr 1914 die Wiederkunft Christi erwarteten. Als nichts geschah, erklärte die Führung, Jesus sei unsichtbar als König im Himmel eingesetzt worden. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im selben Jahr schien die Prophezeiung nachträglich zu bestätigen.
Eine andere Strategie ist die "Verzögerung aus Barmherzigkeit": Gott habe das Gericht aufgrund der Gebete oder des Glaubens der Gruppe verschoben. Die Neuoffenbarungsbewegung "Fiat Lux" unter Erika Bertschinger-Eicke (besser bekannt als "Uriella") nutzte diese Erklärung zum Beispiel mehrfach. Als der für den 9. August 1998 vorhergesagte Dritte Weltkrieg ausblieb, erklärte Uriella, die Gebete ihrer rund 700 Anhänger hätten Gottes Zorn besänftigt. Anders als bei den Milleriten führten diese wiederholten Verschiebungen jedoch zur schleichenden Erosion der Gruppe, die heute nur noch aus wenigen Gläubigen besteht.
Dann gibt es die Strategie des "menschlichen Fehlers": Die Quelle - sei es Gott oder die Bibel - ist unfehlbar, aber die Berechnung war schlicht falsch. Der amerikanische Radioprediger Harold Camping nutzte 2011 diese Methode. Er hatte den 21. Mai 2011 als Tag des Jüngsten Gerichts verkündet, basierend auf komplexen numerologischen Berechnungen. Als nichts geschah, sagte er zunächst, er habe sich verrechnet: Es sei nur der Tag gewesen, an dem Jesus sein endgültiges Urteil über die Menschen gefällt hätte - siehe Strategie eins. Er korrigierte das Datum für den endgültigen Untergang auf den 21. Oktober. Als auch dieser Tag verging, entschuldigte er sich schließlich für seine "Arroganz" und zog im Jahr darauf seine Untergangsprophezeiungen zurück.
Und dann ist da noch die extremste Strategie, die kognitive Dissonanz zu reduzieren: der Versuch, die ausbleibende Apokalypse selbst herbeizuführen. Die "Heaven's Gate"-Sekte etwa glaubte 1997, beim Erscheinen des Kometen Hale-Bopp würden Raumschiffe kommen, um die "Auserwählten" mitzunehmen - der Weg dorthin führte über einen kollektiven Suizid. Die Manson Family deutete Ende der 1960er Jahre gesellschaftliche Spannungen als Zeichen eines bevorstehenden Rassenkriegs und versuchte mit brutalen Morden, diesen prophezeiten Umbruch selbst auszulösen. Die japanische Aum-Shinrikyō-Sekte wiederum war überzeugt, das Weltende stehe unmittelbar bevor - und reagierte darauf 1995 mit dem Anschlag mit Nervengas in der Tokioter U-Bahn. In all diesen Fällen wird sichtbar, wie gefährlich apokalyptisches Denken werden kann, wenn sich Glaube, Isolation und Größenfantasien zu einer toxischen Mischung verbinden und der ersehnte Endpunkt nicht kommt - zumindest nicht von selbst.
Warum Menschen bleiben
Natürlich gibt es Beispiele von Gruppen, die sich nach fehlgeschlagenen Prophezeiungen einfach auflösen und von denen man nie wieder etwas hört. Die Frage aber bleibt: Warum geschieht das nicht in jedem Fall? Die Antwort liegt auch hier in der Psychologie, in diesem Fall in der "Sunk-Cost-Fallacy": Je mehr Menschen aufgegeben haben - Jobs, Beziehungen, Geld, Zeit -, desto schwerer wird es, diesen Verlust als sinnlos anzuerkennen. Mitglieder werden - oft unbewusst - von dem Gefühl angetrieben: "Ich habe schon so viel investiert, ich kann jetzt nicht aufhören."
Hinzu kommt die soziale Komponente. Viele Mitglieder haben ihre gesamten sozialen Netzwerke innerhalb der Gruppe aufgebaut. Ein Ausstieg bedeutet nicht nur, einen Irrtum einzugestehen, sondern oft auch soziale Isolation. Die Alternative zur Gruppe ist oft Einsamkeit und der Spott der Außenwelt, derer, die dann mit einem "Ich hab's dir doch gesagt" aufwarten.
Besonders gut überleben dabei Gruppen mit starken sozialen Strukturen und charismatischen Führungspersönlichkeiten, die neue Interpretationen glaubwürdig verkaufen können. Die Zeugen Jehovas beispielsweise haben mehrere gescheiterte Daten überlebt, weil sie eine weltweite Organisation mit klaren Hierarchien und starker sozialer Kontrolle sind. Lose organisierte Bewegungen wie die Anhänger von Harold Camping hingegen zerfallen schneller, wenn die Prophezeiung ausbleibt - es fehlt einfach die Organisationsstruktur.
Das Bedürfnis nach Gewissheit
Am Ende zeigt die Geschichte des Umgangs mit gescheiterten Apokalypsen etwas zutiefst Menschliches: das Bedürfnis nach Sinn und Gewissheit in einer komplexen, oft beängstigenden Welt. Prophezeiungen über ein vermeintlich nahes Ende bieten einen Rahmen, in dem alles eine Bedeutung hat, in dem die eigene Existenz ein klares Ziel hat.
Die Fähigkeit von Menschen, nach dem offensichtlichen Scheitern einer Prophezeiung weiterzumachen, ist also kein Zeichen von Dummheit. Es ist ein Zeichen dafür, wie gut Menschen darin sind, Hoffnung und Sinn zu konstruieren - selbst angesichts dessen, wie offensichtlich die Realität dem widerspricht. Solange es Unsicherheit gibt, wird es Menschen geben, die nach Gewissheit suchen.