
Stockton Rush war Pilot, Ingenieur und Gründer von Oceangate. Er starb am vergangenen Sonntag in der "Titan".
(Foto: REUTERS)
Als einer von fünf Menschen starb Oceangate-Gründer Stockton Rush an Bord der "Titan". Die Expedition zum "Titanic"-Wrack war Teil seiner Vision, die Tiefsee auch für Touristen zugänglich zu machen und damit Geld zu verdienen. Für seine Idee war er offenbar bereit, ein großes Risiko einzugehen.
Innovativ, mutig und tatkräftig - so wird Stockton Rush, der Geschäftsführer von Oceangate, in Dutzenden Artikeln, Podcasts und Interviews beschrieben. Der Ingenieur war fest entschlossen, die Tiefseeforschung und den Tiefseetourismus zu revolutionieren. Rush, so heißt es, sei eine Art moderner Jacques Cousteau. Nun ist der 61-Jährige, der sich selbst als "Tauchboot-Chefpilot" seines Unternehmens bezeichnete, tot.
Rush starb als einer von fünf Insassen der "Titan". Das Tauchboot war am vergangenen Sonntag auf dem Weg zum Wrack der "Titanic" in 3800 Metern Meerestiefe, als die Konstruktion dem Druck der Wassermassen nachgab. Das kleine Boot implodierte, teilte die US-Küstenwache mit. Alle fünf Passagiere wurden für tot erklärt. Vor dem Hintergrund der Tragödie erscheinen vergangene Äußerungen des Piloten Rush über seinen Umgang mit Sicherheit in einem anderen Licht. Möglicherweise gehört noch ein weiteres Attribut in die Reihe der Beschreibungen zu Rushs Person: übermütig.
Die Faszination des Erkundens trieb Rush schon früh an. Als Kind träumte er etwa davon, Astronaut zu werden, wie Rush 2019 in einem Interview mit dem "Smithsonian"-Magazine erzählte. "Ich wollte jemand sein wie Captain Kirk. I wanted to explore." Lange hielt er an diesem Traum fest: Mit 19 Jahren schloss er seine Ausbildung zum Jet-Piloten ab, studierte anschließend Luft- und Raumfahrttechnik an Eliteuniversitäten und arbeitete als Flugtestingenieur. Rush war auf dem besten Weg ins All - bis ihm seine Sehschwäche einen Strich durch die Rechnung machte. "Mir wurde schließlich klar, dass ich nicht zum Jupiter oder Mars fliegen würde", sagte er 2017 in einem Interview.
Ein Mann und das Meer
Rushs Forschungsdrang dämpfte das jedoch nicht. Der Ingenieur widmete sich nun einem anderen, weitgehend unerforschten Gebiet: der Tiefsee. Mithilfe eines Bauplans von einem pensionierten US-Marinekommandanten schusterte er sich 2006 sein eigenes Mini-U-Boot zusammen, berichtete "Smithsonian". Anschließend entwickelte er eigenen Angaben zufolge eine Art spirituelle Anziehung zum Meer: "Ich bin auf 75 Fuß Tiefe gegangen, ich habe coole Sachen gesehen. Ich ging auf 100 Fuß und sah noch mehr coole Sachen. Und ich dachte: 'Wow, wie wird es wohl sein, wenn das hier zu Ende ist?'"
Rush war all das, was man einen Visionär nennt. Im Laufe seiner Karriere saß er laut Oceangate im Vorstand verschiedener Technologiefirmen, unter anderem für moderne Unterwassertechnologien. Er baute sich selbst ein experimentelles Flugzeug sowie ein Zweimann-Tauchboot und schrieb in unzähligen Artikeln über die Notwendigkeit von Investitionen in die neue Meereswirtschaft. Hätte man nach Cousteau und Kirk einen modernen Vergleich für Rush gesucht, hätte sich Elon Musk aufgedrängt - nur eben für die Tiefsee statt für das Weltall.
"Die Zukunft der Menschheit liegt unter Wasser, nicht auf dem Mars", sagte Rush einmal dem Schauspieler Alan Estrada, der im vergangenen Jahr ebenfalls eine Tour mit der "Titan" unternahm. Die besten Überlebenschancen angesichts des Klimawandels seien die Gewässer der Erde. "Das alles spielt sich im Meer ab, und wir wissen fast nichts. Deshalb freue ich mich sehr darauf, etwas zu tun."
"Titanic" in der Familiengeschichte
Wenn Rush sprach, klang das meist ruhig und überlegt. Mit seinen Polo-Shirts und der beigen Chino-Hose wirkte er oft eher auf dem Golfplatz heimisch als in Tausenden Metern Tiefe. Doch Rush entwarf nicht nur Pläne für Zukunftstechnologien, er testete sie auch selbst. Unzählige Male tauchte er in die Tiefe - besonders angetan hatte es ihm das "Titanic"-Wrack. Es sei "wunderschön", sagte er im vergangenen Jahr zu "Sky News". "All diese Farben, die sieht man sonst nicht bei Wracks - so viel Orange und Rot."
Möglicherweise hing seine Herzensangelegenheit auch mit seiner Familiengeschichte zusammen: Seine Ehefrau, Wendy Rush, ist eine Nachfahrin von zwei Passagieren der "Titanic", wie die "New York Times" berichtete. Demnach ist sie mit Isador und Ida Straus verwandt, einem Ehepaar, das damals in der ersten Klasse des Luxusschiffs reiste. Überlebenden zufolge starben beide gemeinsam, als es sank. Im gleichnamigen Spielfilm von James Cameron sei ihre Geschichte das Vorbild für das ältere Ehepaar gewesen, das gemeinsam im Bett blieb, als das Zimmer sich mit Wasser füllte, heißt es in dem Bericht.
Mit dem Ziel, den Zugang zur Tiefsee durch Innovation zu verbessern, gründete Rush 2009 schließlich die Firma Oceangate. Das Interesse der Investoren ist zwar anfänglich gering, doch der Gründer steckt kurzerhand sein eigenes Kapital in die Geschäftsidee, wie der "Spiegel" berichtete. An Mitteln dafür fehlt es ihm nicht - Rush bezeichnet sich gegenüber "Bloomberg" als "in den Reichtum hineingeboren". Sein Großvater war der Direktor des Erdölriesen "Standard Oil".
"Wollte Beziehung der Menschen zum Ozean verändern"
Oceangate startete mit dem Kauf von Tauchfahrzeugen und entwickelte sie weiter. So entstand schließlich das Tauchboot "Titan". Die erste Testfahrt in 4000 Metern Tiefe unternahm Rush 2018 selbst - ein Erlebnis "wie auf dem Raumschiff Enterprise", sagte er später. Beraten wurde er unter anderem von NASA-Veteran und Astronaut Scott Parazynski, der Rush einen "echten Pionier" nannte. "Es ist nicht einfach, ein weißes Blatt Papier zu nehmen, das Design für ein Tauchboot zu entwerfen, es zu finanzieren und zur Marktreife zu entwickeln. Das war unfassbar wagemutig."
Doch Rush ging es nicht allein um die Erforschung von Meerestiefen. Er wollte das Reisen auf den Meeresgrund kommerzialisieren, ähnlich wie es andere mit dem Weltraum vorgemacht haben. "Unterwasser zu tauchen, ist etwas, das nicht wirklich zugänglich ist, und das wollte ich ändern", sagte der Geschäftsmann in einem Podcast von Teledyne Marine. "Ich wollte die Beziehung der Menschen zum Ozean verändern." Der Geschäftsmann machte nie einen Hehl daraus, dass es ihm bei den experimentellen Exkursionen auch um Gewinn geht. Zuletzt betrieb Oceangate drei Tauchboote für Forschung, Filmproduktionen und Erkundungsreisen - die Ticketpreise für die "Titan" stiegen von anfänglich 105.000 Dollar auf zuletzt 250.000 Dollar.
Erkundungstouren profitabel zu gestalten, ist ein effizienter Ansatz. Allerdings gab es Zweifel an der Sicherheit der Touren. Die Marine Technology Society schlug bereits 2018 Alarm. In einem Brief warnten über drei Dutzend Branchenexperten Rush vor möglichen "katastrophalen" Problemen der "Titan" im Zusammenhang mit dem experimentellen Ansatz des Tauchbootes. Sie forderten den Ingenieur auf, das Boot, wie üblich, von einer unabhängigen Aufsichtsbehörde prüfen zu lassen. David Lochridge, ein ehemaliger Mitarbeiter von Oceangate, äußerte zur gleichen Zeit Bedenken über die Stabilität des Materials. So habe das Kohlefasermaterial der "Titan" "sichtbare Mängel", die sich bei wiederkehrenden Druckveränderungen zu größeren Rissen ausweiten könnten. Kurz nach seiner Kritik wurde Lochridge gefeuert.
Alarmglocken wurden ignoriert
Rush missachtete die Signale. Zwar betonte der Oceangate-Geschäftsführer mehrmals, die "Titan" verfüge über ein innovatives Sicherheitskonzept. Einige seiner Aussagen klangen jedoch, als sei ihm Sicherheit als oberstes Gebot gar lästig. So prahlte er in einem Interview damit, "einige Regeln gebrochen" zu haben. In seinen Augen war die kommerzielle U-Boot-Industrie wegen vieler Vorschriften "obszön sicher". Allerdings, sagte Rush gegenüber dem "Smithsonian"-Magazine, habe sie auch keine Innovationen hervorgebracht und sei nicht gewachsen - "weil sie all diese Vorschriften hat". Oceangate entschied sich gegen die Klassifizierung der "Titan". Vor allem, weil dies "Jahre dauern könnte" und damit "ein Gräuel für jede Innovation" sei.
So transportierte das Tauchboot seit 2021 auch Touristen zum "Titanic"-Wrack. Zwar kam es bei den vergangenen Touren nicht zu größeren Unfällen, wie das Unternehmen betonte, allerdings verlief auch kaum eine Expedition problemlos: Auf einer der ersten Fahrten machte die Batterie Probleme und fast bei jeder Fahrt kam es zu Ausfällen der Kommunikation.
Der CBS-Korrespondent David Pogue, der ebenfalls an einer Tour mit der "Titan" teilnahm, stellte im vergangenen Jahr außerdem die Konstruktion infrage. So wurde das Tauchboot ausschließlich über einen Playstation-Controller gesteuert. "Einige der Vorschaltgeräte sind alte, rostige Konstruktionsrohre", erinnerte sich Pogue gegenüber "USA Today". Die LED-Leuchten habe Rush bei einem Wohnmobilhändler gekauft.
Für Rush war das kein Problem. Einige Elemente könnten weniger ausgeklügelt sein, solange die wichtigsten Teile, wie der Druckbehälter, solide seien, sagte der Ingenieur damals zu Pogue. Dies sei bei der "Titan" der Fall. "Und das erlaubt dir, Dinge zu tun, die man MacGyver-Sachen nennt", betonte er.
Der Visionär hatte bis zu seinem Tod eine klare Überzeugung: "Ab einem gewissen Punkt ist Sicherheit reine Zeitverschwendung." Wenn man einfach nur sicher sein wolle, solle man im Bett bleiben. Am Ende, so Rush, laufe es auf die Abwägung hinaus, welches Risiko man für welche Belohnung in Kauf nehmen wolle.
Quelle: ntv.de