Oceangate verweigerte Prüfung Tauchboot "Titan": Experten schlugen schon vor Jahren Alarm
21.06.2023, 15:58 Uhr Artikel anhören
Ohne Hilfe können die Passagiere die "Titan" nicht verlassen - die Tür ist von außen mit 17 Bolzen verriegelt.
(Foto: picture alliance/dpa/The Seattle Times/AP)
Das Tauchboot "Titan" befindet sich in einer verheerenden Lage, die fünf Passagiere in Lebensgefahr. Die Katastrophe bestätigt die Befürchtungen vieler Experten. Sie haben bereits 2018 ernste Zweifel an der Sicherheit der "Titanic"-Exkursionen. Bei Oceangate stoßen sie damit jedoch auf Granit.
Die US-Küstenwache und private Helfer kämpfen an einer abgelegenen Stelle des Atlantiks gegen die Zeit. Der Sauerstoff an Bord des Tauchboots "Titan", das fünf Passagiere zum Wrack der "Titanic" bringen sollte, neigt sich dem Ende zu. Mögliche Ursachen für diese dramatische Lage, das ist mittlerweile klar, gibt es viele. Denn während das Unternehmen Oceangate mit der innovativen Technik des Tauchboots "Titan" warb, gab es vermehrt Hinweise auf erhebliche Risiken. Nach und nach drängen sich immer mehr Fragen zu den Sicherheitspraktiken des Veranstalters für Tiefsee-Expeditionen auf.
Die ersten Hinweise kamen aus den eigenen Reihen. David Lochridge, der ehemalige Leiter von Oceangate-Meereseinsätzen verfasste schon 2018 ein vernichtendes Dokument über die "Titan". Er wies darin auf die potenziellen Gefahren für Passagiere hin, wenn das Tauchboot extreme Tiefen wie bei der Exkursion zum "Titanic"-Wrack in 3800 Metern Tiefe erreicht. So sei etwa das Sichtfenster, aus dem die Passagiere aus dem Boot sehen können, nur für eine Tiefe von bis zu 1.300 Metern zertifiziert. Dies geht aus Gerichtsakten hervor, wie der "Guardian" berichtet. Denn nachdem Lochridge seine Kritik äußerte, wurde er entlassen. Zudem verklagte ihn Oceangate wegen Verletzung von Dienstgeheimnissen.
Doch die Warnung ihres eigenen nun Ex-Mitarbeiters sollte bei weitem nicht die einzige an das US-Unternehmen bleiben. Wenig später, ebenfalls im Jahr 2018, erreichte den Oceangate-Geschäftsführer, Stockton Rush, der sich ebenfalls an Bord der vermissten "Titan" befindet, ein Brief. Dieser wurde nun von der "New York Times" veröffentlicht. Demnach stammte der Brief von der Marine Technology Society, einer Industriegruppe, die sich aus Branchenvertretern wie Meeresingenieuren und Technologen zusammensetzt. Über drei Dutzend jener Experten warnten Oceangate eindringlich vor möglichen "katastrophalen" Problemen des Tauchboots "Titan".
"Experimenteller Ansatz von Oceangate"
So äußerte sich der Verbund "besorgt über die Entwicklung von Titan und die geplanten Titanic-Expeditionen" und warnte vor dem "derzeitigen experimentellen Ansatz von Oceangate". Vor allem aber werfen die Experten schon damals eine wichtige Frage auf: Warum lässt das Unternehmen das Tauchboot "Titan" nicht klassifizieren? Im Rahmen des DNV-Klassifizierungsverfahrens wird von der unabhängigen Aufsichtsbehörde geprüft, ob international anerkannte Regeln eingehalten werden, es werden Inspektionen während der Bau- und Betriebsphase durchgeführt.
"Auch wenn dies mit zusätzlichem Zeit- und Kostenaufwand verbunden ist", appellierten die Experten, sind wir einhellig der Meinung, dass dieser Validierungsprozess durch eine dritte Partei ein entscheidender Bestandteil der Sicherheitsvorkehrungen ist, die alle Insassen von Unterwasserfahrzeugen schützen". In ihrem Schreiben forderten sie, dass Oceangate zumindest seine Prototypen testen lassen sollte.
Geschäftsführer Rush zeigte sich zunächst unbeeindruckt von der Warnung - die "Titan" startete ihre Probefahrten. Rund ein Jahr später, im Jahr 2019, erschien jedoch ein Blogeintrag mit dem Titel "Warum ist die Titan nicht klassifiziert?", in dem das Unternehmen Stellung bezog. Oceangate erklärte laut dem "Guardian" in dem Beitrag, dass es Jahre dauern könnte, bis sein Titanboot von den üblichen Bewertungsstellen zertifiziert wird, weil es so innovativ sei. "Eine externe Einrichtung über jede Innovation auf den neuesten Stand zu bringen, bevor sie in der realen Welt getestet wird, ist ein Gräuel für die schnelle Innovation", schrieb das Unternehmen demnach.
Unternehmen warb mit Sicherheit
Zudem pochte Oceangate auf innovative Sicherheitsvorkehrungen an Bord der "Titan", darunter "Druckbehälter aus Kohlefaser und ein Echtzeit-Überwachungssystem für den Zustand des Schiffskörpers". An Fachwissen dafür mangelt es der Firma nicht - Geschäftsführer Rush verfügt über jahrzehntelange Erfahrung im Ingenieurwesen. Von ehemaligen Passagieren der "Titan" wird er als "hochprofessionell" beschrieben.
Doch diese Expertise in den eigenen Reihen könne eine unabhängige Prüfung nicht ersetzen, sagen Experten. "Es ist wesentlich verantwortungsvoller, wenn man eine Klassifikationsgesellschaft mit ins Boot nimmt und sich nach diesen technischen Maßgaben richtet", erklärt etwa U-Boot-Kapitänin Kirsten Jakobsen in der ARD. Auch sie hat den Warnbrief an Rush damals unterschrieben. Egal ob man in der Tiefsee tauche oder auf der Autobahn fährt, sagt Jakobsen, "dies sollte immer mit einem Gerät geschehen, das tatsächlich auch dafür abgenommen ist und mit dem man sicher unterwegs ist".
Zumal Oceangate sogar mit der Sicherheit der "Titan" geworben hat. So hieß es in der Werbebroschüre, die "Titan" erfülle oder übertreffe die DNV-GL-Sicherheitsstandards. Allerdings war offenkundig niemals geplant, das Tauchboot tatsächlich von jener Zertifizierungsgesellschaft bewerten zu lassen. Dies bezeichnete die Marine Technology Society 2018 als "zumindest irreführend". Ähnliche Kritik äußerte der ehemalige Oceangate-Mitarbeiter Lochridge. "Die zahlenden Passagiere wussten nichts von diesem experimentellen Design und wurden auch nicht darüber informiert", gaben seine Anwälte laut "Guardian" zur Gerichtsakte.
Fahrten verliefen fast nie problemlos
Waren sich die Passagiere des enormen Risikos bewusst, als sie die "Titan" bestiegen? Seit 2021 bietet Oceangate die Touren mit dem Tauchboot zum Wrack der "Titanic" an, im vergangenen Jahr soll die "Titan" zehn solcher Tauchgänge unternommen haben. Diese früheren Fahrten verliefen zwar erfolgreich, jedoch fast nie problemlos. "Es geht immer etwas schief", berichtete etwa Mike Reiss, der bereits drei Touren mitgemacht hat, in der BBC. Jedes Mal habe das Boot die Kommunikation verloren - ein äußerst gefährlicher Zustand für ein Tauchboot, das nicht ohne die Verbindung zur Oberfläche gesteuert werden kann. Oceangate setzte die Fahrten jedoch fort.
Allerdings, so Reiss, habe er vor dem Tauchgang einen Haftungsausschluss unterzeichnen müssen. Allein auf der ersten Seite werde das Wort "Tod" dreimal erwähnt. Laut CBS-Reporter David Pogue, der im vergangenen Jahr ebenfalls mit dem Tauchboot unterwegs war, hieß es in der Erklärung auch, dass die "Titan" ein experimentelles Boot sei, das "von keiner Regulierungsbehörde genehmigt oder zertifiziert wurde". Einen Hinweis auf die Gefahr gab es somit. Ob den Passagieren die Dringlichkeit dieser Warnung, gar die Sorgen der Experten, bekannt waren, ist jedoch nicht klar.
Quelle: ntv.de