Panorama

Corona Weihnachten nicht vorbei Wie soll eine Langfrist-Strategie aussehen?

Jetzt muss diskutiert werden, wie die Gesellschaft längerfristig mit der Corona-Pandemie umgehen möchte.

Jetzt muss diskutiert werden, wie die Gesellschaft längerfristig mit der Corona-Pandemie umgehen möchte.

(Foto: imago images/Ralph Peters)

Die Pandemie wird noch Monate, vielleicht Jahre dauern. Rufe nach Langfrist-Strategien werden daher immer lauter. Aber wie soll so etwas aussehen? Welche Maßnahmen sind effektiv, angemessen und akzeptabel? Welche Ziele soll man verfolgen? Was ist realistisch, was unrealistisch?

Ob der Teil-Shutdown im November die gewünschte Wirkung erzielen wird, ist noch offen, aber so viel steht fest: Die Corona-Pandemie ist zu Weihnachten nicht vorüber, sie wird noch viele Monate weitergehen. Und selbst wenn gute Impfstoffe schon im Frühjahr oder Sommer in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen sollten, bleibt die Frage: Wie soll das Land bis dahin durchhalten?

Auf die eine oder andere Weise braucht man also eine längerfristige Strategie, um Bevölkerung und Wirtschaft nicht durch einen ständigen Wechsel von Shutdowns und Lockerungen zu zermürben. Die Vorstellungen darüber, wie so etwas aussehen könnte, gehen allerdings weit auseinander.

Strittiges KBV-Positionspapier

Große Aufregung verursachte das von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und den Virologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit verfasste gemeinsame Positionspapier. Sie fordern darin eine Abkehr von der Eindämmung alleine durch Kontaktpersonennachverfolgung, ein bundesweit einheitliches Ampelsystem, eine Fokussierung auf Risikogruppen und vorwiegend Gebote statt Verbote. Erneute Lockdowns bezeichnen sie als reflexartige Konsequenz auf rasant steigende Neuinfektionen. Ein Rückgang der Fallzahlen sei "politisch zwar eine dringende Aufgabe, aber nicht um jeden Preis".

Das Papier wurde offenbar als Gegenentwurf zum gegenwärtigen Teil-Shutdown veröffentlicht, was von vielen Vertretern aus Medizin, Wissenschaft und Politik scharf kritisiert wurde. Unter anderem distanzierte sich die Gesellschaft für Virologie (GfV) von dem KBV-Positionspapier nicht nur, weil dieses nicht die gesammelte Meinung von Wissenschaft und Medizin widerspiegele.

GfV widerspricht

Eine alleinige Eindämmung nur durch Kontaktpersonennachverfolgung sei nie Strategie der Pandemiebekämpfung gewesen, so die GfV. Sie sei immer kombiniert mit den AHA+L+A-Maßnahmen (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske, Lüften, App) gewesen, sollte aber auch zukünftig immer ein wichtiger Bestandteil der Eindämmung der Virusausbreitung sein. "Der besondere Schutz von Risikogruppen war und ist ein zentraler Punkt der Pandemiebekämpfung, muss aber berücksichtigen, dass diese auch in der Mitte unserer Gesellschaft leben."

Das geforderte Ampelsystem wird ebenfalls heftig kritisiert. Unter anderem wies Virologe Christian Drosten schon Mitte September in seinem NDR-Podcast darauf hin, dass die Verantwortlichen natürlich auch die anderen Parameter wie stationäre und intensivmedizinische Betreuungen im Blick hätten. Trotzdem bleibe die Zahl der Neuinfektionen entscheidend bei der Beurteilung der Pandemie. Diese zeige bereits nur Ansteckungen, die vor rund zwei Wochen passiert seien. Erst zu reagieren, wenn sich die Intensivbetten füllen, sei zu spät.

Ampel funktioniert nicht

Wie wenig eine Ampel hilft, sieht man am Beispiel Berlin. Zeigt hier die Corona-Ampel zweimal Gelb, signalisiert sie damit Beratungsbedarf, erst bei zweimal Rot gibt es Handlungsbedarf. Am 6. Oktober zeigte die Ampel erstmals Doppel-Rot bei Neuinfektionen und der Reproduktionszahl R. Der Senat reagierte unter anderem mit einer Sperrstunde ab 23 Uhr. Die Belastung der Intensivstationen sprang erst vor einer Woche auf Gelb um, also ungefähr zu dem Zeitpunkt, der zu erwarten war, da Hospitalisierungen mit entsprechender Zeitverzögerung den Neuinfektionen folgen. Um das zu wissen, braucht man keine Ampel.

Hätte Berlin bis zum Umspringen des Intensivbetten-Signals gewartet, wäre es wohl zu spät gewesen. Laut Lagebericht zählte Berlin am Sonntag bereits 935 stationär behandelte Covid-19-Patienten, 249 lagen auf Intensivstationen, 210 wurden beatmet. Eine Verdopplung der Intensiv-Belegung wird innerhalb von 13 Tagen erwartet.

Aktuell hat Berlin aber laut DIVI-Intensivregister nur noch 173 freie Intensivbetten. Und auch das nur, weil bereits die Notfallreserven angegriffen wurden. 440 Betten könnte Berlin innerhalb von sieben Tagen noch bereitstellen, vor einer Woche waren es noch 459. Ob für diese im Notfall auch ausreichend geschultes Personal bereitstünde, ist fraglich. Unter anderem will Berlin dafür Mediziner und Pfleger aus dem Ruhestand holen.

Wie soll man Risikogruppen schützen?

Fast alle Covid-19-Intensivpatienten sind alt oder haben Vorerkrankungen. Kern der KBV-Strategie ist es, diese Risikogruppen zu schützen. Dafür haben die Verfasser auch konkrete Maßnahmen genannt:

- Besucher in Seniorenheimen, Pflegeheimen und Krankenhäusern erhalten in einem "Schleusen"-Modell nur nach negativem Antigen-Schnelltest Zutritt.
- Das ärztliche und pflegerische Personal sowie das Reinigungspersonal werden regelmäßig getestet.
- Das ärztliche und pflegerische Personal sowie das Reinigungspersonal und auch die Besucher tragen beim Kontakt mit den Patienten/Bewohnern FFP2-Masken.
- Der Aufbau und die Unterstützung von Nachbarschaftshilfen für Personen, die der Risikogruppe angehören, aber zu Hause leben, wird durch Städte, Kreise und Kommunen etabliert. Personen, die sich selbst isolieren, sollen dabei unterstützt werden. Gleichzeitig muss ihre medizinische Versorgung gewährleistet werden.

"Irrsinnig schwierig"

Den vorgeschlagenen Maßnahmen widerspricht kaum ein Experte, viele halten es allerdings für illusorisch, damit so viele Menschen effektiv schützen zu können, die in Deutschland zu Risikogruppen gezählt werden. Gesundheitsminister Spahn zählt 40 Prozent der Bundesbürger dazu: "Bei uns sind 23 Millionen Deutsche über 60. Wir sind ein Wohlstandsland mit Zivilisationskrankheiten: Diabetes, Bluthochdruck, Übergewichtigkeit. Alles Risikofaktoren für dieses Virus, wie für viele Infektionskrankheiten übrigens auch."

Virologin Sandra Ciesek sagte in ihrem NDR-Podcast, mindestens 21,9 Millionen Deutsche hätten Vorerkrankungen. "Das ist eine wahnsinnig hohe Zahl, die man sich bewusst machen muss, wenn man davon redet, wir schützen fortan nur noch die Risikogruppen", sagte sie. "Wie sollen 21,9 Millionen Menschen mit einer Vorerkrankung vor den restlichen 60 Millionen geschützt werden? Da merkt man schnell, wie irrsinnig und schwierig das ist." Selbst wenn dies möglich wäre, sagt das KBV-Papier nichts darüber aus, wie man die genannten Schutzmaßnahmen so schnell umsetzen könnte, dass sie jetzt oder auch nur mittelfristig umsetzbar wären.

Die Forderung von KBV, Streeck und Schmidt-Chanasit nach einer "Förderung und Evaluierung von Hygienekonzepten anstelle von Ausgangssperren", um im Frühjahr bestimmte Veranstaltungen wieder zulassen zu können, trifft dagegen kaum auf Widerspruch. Um das zu erreichen, sollten Veranstaltungen mit Hygienekonzepten und Teststrategien unter wissenschaftlicher oder gesundheitsamtlicher Begleitung durchgeführt werden, um herauszufinden, ob das Risiko einer Virusübertragung überhaupt in relevantem Umfang besteht, so das Positionspapier. Das kann man sicher machen. Voraussetzung für solche Experimente sind aber erstmal wieder kontrollierbare Neuinfektionen.

Einigkeit bei Nachverfolgung

In Sachen Nachverfolgung von Infektionen trifft das Positionspapier bereits auf die Realität. Denn wie gefordert konzentrieren sich die Berliner Gesundheitsämter aus Überforderung schon auf Risikogruppen. Ebenso fordert die Bundeshauptstadt Betroffene dazu auf, Kontakte selbst zu informieren.

Dass bei der Nachverfolgung ein Strategiewechsel nötig ist, sieht nicht nur das KBV-Papier so: Unter anderem fordert auch Drosten schon seit dem Sommer bei knappen Ressourcen eine Cluster-Bekämpfung, statt nach Personen zu suchen, die sich vielleicht angesteckt haben könnten.

Impfstoffe essenziell

Impfstoffe sehen Streeck, Schmidt-Chanasit und KBV allerdings nur als "ein Mittel unter vielen zur Bekämpfung der Pandemie" an, während Drosten sie als essenziell für eine Corona-Strategie betrachtet. Man müsse darauf setzen, man habe gar keine andere Wahl, sagte er bei einem Vortrag in Meppen. Man werde mit dem Virus leben lernen, wenn die Herdenimmunität erreicht sei.

Damit meint Drosten aber nicht, die Gesellschaft unkontrolliert durchzuinfizieren. Dies gelänge nur durch Impfungen der besonders gefährdeten Gruppen auf erträgliche Weise, sagte er. Dann könne man schrittweise höhere Infektionszahlen tolerieren.

Zu viele Ansteckungen dürfe man aber auch dann nicht zulassen. Denn dies würde zwangsläufig vermehrt zu schweren Krankheitsverläufen bei Jüngeren führen, die dann die Intensivstationen füllen und auch sterben würden. Unter anderem deswegen seien auch antivirale Medikamente für die Überwindung der Pandemie unverzichtbar.

Antigen-Schnelltests wollen alle

Einig mit Streeck & Co. ist Drosten bei der Einschätzung der Bedeutung von Antigen-Schnelltests für eine längerfristige Strategie. Das Problem dabei ist aktuell aber noch die Verfügbarkeit. Deshalb sind Antigen-Tests laut der seit dem 15. Oktober gültigen Testverordnung auch vorerst Pflegeheimen, Arztpraxen und Krankenhäusern vorbehalten, um Personal, Besucher sowie Patienten und Bewohner regelmäßig auf das Coronavirus zu testen. Ein Einsatz bei Veranstaltungen, Fußballspielen oder vielleicht sogar in Clubs ist aber künftig vorstellbar.

Wie die jüngste Erfolgsmeldung von Biontech zeigt, ist das Ziel eines kontrollierten Infektionsgeschehens mithilfe von Impfstoffen, Antigen-Schnelltests und den schon bestehenden Hygieneregeln durchaus realistisch. Und das war und ist offenbar auch die Strategie der Bundesrepublik. So twitterte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, der Biontech-Zwischenbericht sei für ihn "ein eindeutiger Beleg für die Richtigkeit der bisherigen Strategie gegen Covid-19 in Deutschland: Mit so wenigen Toten und dauerhaft Kranken durchzuhalten, bis 2021 große Teile der Bevölkerung geimpft werden können."

Mehrere Wege führen ans Ziel

Wie genau man bis dahin durchhalten will, bleibt offen. Vermutlich führen mehrere Wege ans Ziel. Man könnte sich beispielsweise bundesweit auf eine grobe Richtung einigen und die Auswahl der Strecke den Bundesländern und Kreisen überlassen. So wünschen sich beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin und die Deutsche Lungenstiftung regionale Konzepte, die zwischen Ballungsräumen und Nicht-Ballungsräumen unterscheiden. Die Lungenexperten wünschen sich außerdem ein Krankenhaus-basiertes Benchmark-System zur besseren Steuerung von Präventionsmaßnahmen.

Auch wenn Politik und Wissenschaft das KBV-Positionspapier sehr kritisch betrachten, liegt es wohl auf jeden Fall damit richtig, dass eine längerfristige Strategie jetzt diskutiert werden sollte. Auch mit einem Impfstoff bleibt die Situation noch viele Monate sehr schwierig. Und ein konkretes Ziel mit einer konkreten Strategie, wie man es erreichen möchte, würde Bevölkerung und Wirtschaft enorm dabei helfen, durchzuhalten.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen