Flucht aus der Ukraine "Wir wollen weiter, wissen aber nicht wohin"
25.02.2022, 18:59 Uhr
Am Bahnhof in Kiew warten Menschen auf einen Zug, mit dem sie die Stadt verlassen können.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Lange hoffen die Ukrainer, dass es nicht zum Schlimmsten kommt. Doch vergebens: Nach dem Einmarsch russischer Truppen müssen sie fliehen. Mit dem Zug, dem Auto oder zu Fuß machen sie sich auf in eine ungewisse Zukunft - und lassen vieles in ihrer Heimat zurück.
Plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war: "Ich bin gegen 5 Uhr aufgewacht, weil ich Explosionen gehört habe", erzählt Veronika dem "Stern", wie sie den Kriegsbeginn erlebte. Die 35-Jährige, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, lebt in Odessa. Dort, an der ukrainischen Schwarzmeerküste, unterrichtet sie Deutsch. Zumindest bis gestern, als russische Truppen in die Ukraine einmarschieren. Das Geräusch der Schulglocke wird ersetzt durch Bomben- und Raketeneinschläge. Überstürzt flieht die Mutter mit ihrem sechsjährigen Sohn aus der Stadt. Vorher versucht sie noch, möglichst viel Geld abzuheben. Nur kurze Zeit später ist die Metropole am Schwarzen Meer wie leergefegt.
"Ich habe Angst, bei mir zu Hause zu übernachten, weil ich in einem Hochhaus wohne. Deshalb möchte ich am Wochenende bei meinen Großeltern bleiben", sagt die Lehrerin dem Magazin. Die wohnen zwar außerhalb von Odessa. Doch auch da fühlt sich Veronika nicht sicher. Ihr Plan: "Falls es dort auch Explosionen geben sollte, würde ich vielleicht mit meiner Familie nach Moldau fliehen."
So wie Veronika geht es derzeit vielen Ukrainern. Nach dem russischen Einmarsch sind laut einer vorläufigen Schätzung des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) bereits 100.000 Menschen auf der Flucht. Es dürften noch bedeutend mehr werden. Die US-Regierung hatte bereits vor der Invasion Russlands gewarnt, dass bis zu fünf Millionen Menschen versuchen könnten, die Ukraine zu verlassen.
Lange hatten die Ukrainer gehofft, dass es nicht zum Äußersten kommt - aber irgendwie trotzdem damit gerechnet. Die 27-jährige Natalia, die in Kiew studiert, hat im Vorfeld einen Survival-Workshop absolviert, um auf den Einmarsch vorbereitet zu sein. "Ich bereite mich seit Mitte Januar auf einen möglichen Krieg in der Ukraine vor", erzählt sie dem "Business Insider". Ihre Taschen sind seit Tagen gepackt, das Auto vollgetankt. "Ich überlege, jeden Moment, wann ich mit meiner Schwester nach Polen fahre", sagt die Studentin noch am Mittwochabend. Nur wenige Stunden später wird die ukrainische Hauptstadt von Explosionen erschüttert. Es habe "schreckliche Raketenangriffe auf Kiew" gegeben, schreibt der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba auf Twitter.
Polen als sicherer Hafen
Ob Natalia und ihre Schwester es nach Polen geschafft haben, ist ungewiss. Das Land ist die Heimat der größten ukrainischen Diaspora, mit mehr als einer Million Mitgliedern. Bereits am Donnerstag kamen erste Flüchtende am Grenzübergang Medyka zu Polen an. Einige hatten Gepäck dabei, andere nicht. Seitdem bilden sich lange Autoschlangen auf der anderen Seite. Wie lange der Grenzübertritt dauere, lässt sich laut "Welt" nur schwer abschätzen.
"Meine Familie wartet seit sieben Stunden auf der anderen Seite", erzählt Tatjana, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, der Zeitung an der Grenze. Gemeinsam mit ihrem polnischen Partner Marcin Przybila sei sie 800 Kilometer von Stettin hierhergefahren, zehn Stunden hätten sie gebraucht. Sie warteten auf Tatjanas Schwester, ihre beiden Kinder, ihren Bruder plus Schwägerin und zwei Neffen, die alle in ein Auto zusammengepfercht aus Dubrowyzja geflohen seien, erzählt sie.
Auf mögliche Flüchtlingsströme bereitet sich Polen bereits seit Tagen vor. Nun, mit Beginn der russischen Angriffe, richtet das Land neun Aufnahmezentren im Südosten ein. Pawel Szefernaker vom Innenministerium erklärt der ARD, womit die polnische Regierung rechnet: "Ich denke, die große Mehrheit jener Ukrainer, die jetzt einen sicheren Ort in Polen suchen, werden zunächst die Ukrainer kontaktieren, die schon hier sind. Das sind circa zwei Millionen Menschen. Für die, die nicht zu ihren Nächsten gehen können, stehen die Zentren bereit."
"Wir wissen nicht wohin"
Auch an der slowakischen Grenze bilden sich derzeit lange Staus. Die Regionalregierung der slowakischen Region Kosice erklärte, sie habe rund 2000 Betten für die Unterbringung von Geflüchteten vorbereitet. Zudem seien rund 60 Fitnessstudios für die Aufnahme der Menschen gerüstet. Einige Ukrainer kommen auch über die Grenzübergänge Tiszabecs und Beregsurany nach Ungarn. Manche waren mit Autos unterwegs, andere zu Fuß und mit Koffern. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, der eigentlich gute Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin pflegt, verurteilte das Vorgehen Moskaus. Er erklärte, Ungarn werde humanitäre Hilfe für die Ukraine vorbereiten und sei bereit, Flüchtende aufzunehmen. Zehntausende Ukrainer arbeiten in der Slowakei und in Ungarn, wo eine große ethnische Minderheit von etwa 140.000 Ukrainern unmittelbar hinter der Grenze lebt.
Die Republik Moldau und der bulgarische Präsident Rumen Radev erklärten sich ebenfalls bereit, Flüchtenden Schutz zu gewähren. Rumänien als einer der ärmsten EU-Mitgliedstaaten erwartet bisher zwar nicht, dass Ukrainer dorthin flüchten. Wenn dies doch der Fall sei, sei Rumänien darauf vorbereitet, eine halbe Million Menschen aufzunehmen, sagte Verteidigungsminister Vasile Dancu.
Unterstützung erhalten die Länder durch die EU. Nach Angaben von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen wurden mit allen östlichen EU-Ländern "Notfallpläne" erarbeitet, um Menschen aus der Ukraine sofort aufzunehmen. "Wir hoffen, dass es so wenige Flüchtlinge wie möglich sind, aber wir sind umfassend vorbereitet", teilt von der Leyen mit.
Wie lange die Menschen noch unkompliziert ins Ausland flüchten können, ist allerdings fraglich. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte gestern Abend angeordnet, dass männliche Staatsbürger im Alter von 16 bis 18 Jahren die Ukraine nicht mehr verlassen dürfen. Sie sollen bleiben, um für ihr Land zu kämpfen, wenn es sein muss. Doch auch für diejenigen, die geflüchtet sind, ist die Zukunft ungewiss. "Wir wollen weiter, aber wir wissen nicht, wohin", erzählt eine junge Frau ntv unter Tränen an der moldauische Grenze. Sie und ihr Partner konnten fliehen, aber ihre Eltern seien noch in der Ukraine. Somit bleibt die Angst und Sorge - auch hinter der Grenze.
Quelle: ntv.de