Panorama

"Kinderschutz nur Deckmantel" Worum es "Pädophilen-Jägern" wirklich geht

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Laut dem Verfassungsschutz setzen Rechtsextreme seit einigen Monaten verstärkt auf das "Pedo-Hunting".

Laut dem Verfassungsschutz setzen Rechtsextreme seit einigen Monaten verstärkt auf das "Pedo-Hunting".

(Foto: imago/onemorepicture)

Die Fälle häufen sich: Meist junge Männer locken mutmaßlich Pädophile in eine Falle, um sie zu demütigen und anzugreifen. Wer als kriminell gilt, entscheiden sie selbst. Wie er bestraft wird, auch. Die selbsternannten Jäger inszenieren sich als Retter der Kinder - doch das ist nur ein Scheinmotiv.

Die Aufnahmen der versteckten Kamera zeigen ein kleines Burger-Restaurant in Bielefeld. Von der Wand strahlen Schneewittchen und ihre Zwerge in Übergröße, die grün gepolsterten Bänke bilden kleine Fressinseln im Diner-Stil. An einer der mittleren sitzt eine junge Frau, ihr gegenüber ein deutlich älterer Mann im beigen Kurzarmhemd. Er geht davon aus, so erfährt der Zuschauer in dem Youtube-Video, dass er gerade mit einem zwölfjährigen Mädchen Burger und Pommes isst. Kennengelernt hatte er die vermeintlich Minderjährige über die sozialen Medien.

Dramatische Musik und schnelle Schnitte kündigen den Höhepunkt Videos an: Schlagartig wird der Tisch von als Gästen und Kellnern getarnten Personen umstellt. Statt in das Gesicht der ihm eben noch gegenübersitzenden Frau - dem Lockvogel - blickt der ahnungslose Mann im Kurzarmhemd nun in die vor ihm aufgebaute Kamera. "Wenn ihr sehen wollt, wie sich das Leben eines Menschen innerhalb von einer Minute verändert, also zusammenbricht, dann schaut jetzt zu", fordert eine Stimme die Zuschauer auf.

Die Stimme gehört zu Nick Hein. Der ehemalige Polizist und MMA-Kämpfer ist selbsternannter "Pädo-Hunter" und Leiter der von ihm gegründeten "Einhorncrew". Das Konzept der privaten Gruppe: Mutmaßlich Pädophile aufspüren, sie zu einem Treffen mit vermeintlich Minderjährigen bewegen und anschließend bloßstellen. Seit 2020 stellen sie ihre Aktionen ins Netz. Die Videos werden millionenfach geklickt - und finden zunehmend brutale Nachahmer in ganz Deutschland.

Die Taktik

Erst vor wenigen Wochen wurden zwei Jugendliche aus Bielefeld verurteilt, nachdem sie mutmaßlich Pädosexuelle zu einem Treffen überredet und anschließend geschlagen und gedemütigt hatten. Ähnliche Ermittlungen laufen gegen fünf Teenager aus dem niedersächsischen Buchholz, gegen gleich 16 junge Menschen aus Ilsenburg im Harz, gegen junge Männer im bayerischen Roth und in Aschaffenburg. Es ist lediglich ein kleiner Ausschnitt des Phänomens, das Ermittler bereits als "Pädo-Klatschen" betiteln.

"Es sieht tatsächlich so aus, als würde da gerade ein Trend entstehen", sagt der Kriminologe und Soziologe Dirk Baier im Gespräch mit ntv.de. Zahlen gebe es zwar noch nicht, "aber die Fälle von jungen Menschen, die meinen, es sei okay, ihrer Ansicht nach Pädophile in Fallen zu locken und zu verprügeln, nehmen zu". Ähnlich sei es in Österreich und der Schweiz.

Das Vorgehen der selbsternannten Justizhelfer gleicht stets einem Muster: Auf Dating-Apps, in Chaträumen, sogar über Babysitter-Jobanzeigen auf ebay ködern sie Männer, die glauben, nun mit Minderjährigen in Kontakt zu treten. Kommt es zu einem Treffen, werden diese Männer konfrontiert, gefilmt und gedemütigt. In einigen Fällen kommt es zu gewalttätigen Übergriffen, etwa Prügel- oder Taser-Attacken. Manchmal verlangen die "Pädophilen-Jäger" Geld oder Wertsachen.

Das Motiv

Sie würden dies ausschließlich zum Schutz der Kinder tun, betonen die "Jäger" in etlichen Videos, Posts und Livestreams in den sozialen Medien. "Mit Entschlossenheit und einem starken Sinn für Gerechtigkeit schützen sie unsere Kinder", heißt es auch auf der Homepage von Nick Hein und seiner "Einhorncrew". Polizei und Justiz würden dieser Aufgabe nicht ausreichend nachkommen, betonen viele "Pädophilen-Jäger". Die vermeintliche Konsequenz wabert wie ein roter Faden durch ihre Beiträge: Nimmt man die Sache nicht selbst in die Hand, droht den Kindern Schlimmes.

Das verfängt. Der Zuspruch in den sozialen Medien ist enorm. "Wieso können Jugendliche Pädokriminelle auffinden, die Polizei aber nicht?", fragt ein Facebook-Nutzer unter einem Beitrag zu dem Thema. "Ihr macht die Welt sicherer für Kinder", schreibt ein Zuschauer unter die im Action-Blockbuster-Stil aufbereiteten Videos der "Einhorncrew".

Selbstinszenierung und Machtausübung gehören sicherlich zu den eigentlichen Motiven der selbsternannten "Pädophilen-Jäger", sagt Baier. "Man inszeniert sich als helfende Hand, als notwendiger Retter der Schwächsten der Gesellschaft, weil man Politik und Staat in dieser Sache ohnehin nicht vertrauen könne." Dass diese Annahme so anschlussfähig ist, liege vor allem an der Thematik selbst. "Das Bild des Pädophilen als schlimmster Verbrecher überhaupt hat sich seit mehr als 15 Jahren aufgebaut." Das habe zwar mit der Realität nichts zu tun, sei aber essenziell für die selbst ernannten Jäger.

Verbindung zum Rechtsextremismus

"Die gesellschaftliche Angst ist die Legitimation für die eigenen Macht- und Gewaltneigungen." Das Phänomen an sich ist keineswegs neu: Junge Männer suchen sich verbreitete Feindbilder, um ihre Gewaltfantasien auszuleben und Angst zu verbreiten. Es gehe weniger um das einzelne Opfer oder die Kinder, als schlicht darum, Spaß zu haben, erklärt Baier. Zudem schaukle man sich gegenseitig hoch, auch durch die Reproduktion in den sozialen Medien. "Kinderschutz ist also bestenfalls der Deckmantel für diese illegalen Aktionen."

Dass es bei dem Trend große Überschneidungen mit der rechtsextremen Szene gibt, wie die "Tagesschau" berichtet, überrascht Baier daher kaum. Dem Bericht zufolge sieht das Bundesamt für Verfassungsschutz das "Pedo-Hunting" als neuen, verstärkt eingesetzte Aktionsform "in sämtlichen rechtsextremistischen Strömungen". Das Kindeswohl werde für "rechtsextremistische Narrative instrumentalisiert". Durch den Vorwurf der Pädophilie würden auch Feindbilder wie Homosexuelle legitimiert. Tatsächlich fielen sowohl die rechtsextreme Gruppe "Deutsche Jugend Voran" als auch die Terrorgruppe "Letzte Verteidigungswelle" mit Plänen zur Jagd auf Pädophile auf.

Zu erklären sei dies vor allem mit ähnlichen Denkmustern, sagt Baier. So gehören sexuelle Minderheiten auch zum klassischen Feindbild von Rechtsextremen. "Auch sie bedienen das Narrativ, dass wir ständig von bestimmten Gruppen bedroht sind und Sicherheit schaffen müssen." Hinzu komme die Distanz zum politischen System. "Der Staat, die etablierten Parteien, die Demokratie, all dies ist viel zu schwach, um für Sicherheit zu sorgen - ebenfalls eine gängige Erzählung im Rechtsextremismus."

Auf eigene Faust?

Nun sind die Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern laut BKA jahrelang gestiegen. Einer Studie zufolge sind knapp ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen schon Opfer von Cybergrooming, also der Kontaktaufnahme von Erwachsenen aus einer sexuellen Absicht heraus, geworden. Tatsächlich kommen die Behörden bei der Verfolgung von Pädokriminellen kaum hinterher.

Diesem Dilemma selbsternannte "Pädophilen-Jäger" gegenüberzustellen, ist trotzdem keine Lösung, wie Experten aus Politik, Polizei und Justiz deutlich machen. "Der Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt braucht Professionalität und Rechtsstaatlichkeit, nicht selbsterklärte Scheriffs, die ihr Handeln in rechtlichen Grauzonen publikumswirksam vermarkten", erklärte etwa die Bundesbeauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, gegenüber "Legal Tribune Online". Denn: Ganz abgesehen von einem möglichen Gewalteinsatz der "Hunter" sowie Nötigung oder Verleumdung, die ihrerseits Straftaten begründen, sind die Gefahren der Aktionen immens.

Baier verweist auf die Verfolgung vollkommen Unschuldiger und nicht-pädophiler Menschen wie zuletzt etwa in Österreich mit 17 Opfern. Mit Blick auf die stets öffentlichkeitswirksamen Konfrontationen liegt auch die Gefahr von Vorverurteilungen mit irreversiblen Schäden für die Betroffenen auf der Hand. Ebenso wie die der weiteren Stigmatisierung von Menschen mit pädophilen Neigungen. Das kann diese Menschen davon abhalten, sich Hilfe zu holen, wie ein Experte im "Stern" berichtet. Im schlimmsten Fall werden sie anschließend zu Tätern. Und selbst, wenn ein mutmaßlich Pädophiler, der von "Jägern" ausfindig gemacht wurde, im Ermittlungsverfahren landet. Wer beweist, dass er nicht zum Treffen provoziert, möglicherweise getrieben wurde? Schon jetzt mahnen Ermittler, dass die Aktivitäten laufende Ermittlungen behindern.

Zerstörte Leben

Dass sich Private aus der Strafverfolgung heraushalten, ist daher eine der wichtigsten Errungenschaften der Zivilisation. Polizei und Justiz unterliegen Grundsätzen, um ein faires und objektives Ermittlungsverfahren zu gewährleisten. Selbstjustiz hat mit einem Rechtsstaat nichts zu tun.

Nick Hein und seine "Einhorncrew" pochen stets darauf, sich an rechtsstaatliche Grundsätze zu halten. Allerdings sind ihre Videos gespickt von Begriffen wie "Triebtäter", es gibt keine Differenzierung zwischen Pädophilen und Pädokriminellen. In einigen Videos werden die von ihnen ausgemachten Männer vor ihren Familien konfrontiert. Nicht immer sind sie bis zur Unkenntlichkeit verpixelt. In mindestens einem Fall verlor der Betroffene nach der Ausstrahlung Beziehung und Job.

Es ist, wie Hein im Bielefelder Burger-Restaurant selbst ankündigte: Das Leben dieser Menschen, die von den "Pedo-Huntern" in Eigenregie als Täter verurteilt werden, läuft Gefahr, "zusammenzubrechen". Das ist der Inbegriff von Selbstjustiz.

Quelle: ntv.de

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