
Drei, die es richten müssen: Lindner, Scholz und Habeck.
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Richtungsstreit? Uneinigkeit? I wo! Nach zweitägiger Klausur stellen Kanzler Scholz, sein Vize Habeck und Finanzminister Lindner eine gemeinsame Vision ihrer Krisenpolitik für den Herbst vor. Insbesondere Lindner fällt dabei durch neuen Enthusiasmus auf.
Manchmal kommt es nicht so sehr darauf an, was gesagt wird, sondern von wem die Äußerung stammt: Die Forderung nach umfassenden Entlastungen trotz knapper Kassen, überschwängliches Lob für das 9-Euro-Ticket und Kritik an immensen Zufallsgewinnen für Energiekonzerne sind aus dem Mund von SPD- und Grünen-Politikern so überraschend wie die nächste Meisterschaft des FC Bayern München. Ist es aber der FDP-Chef und Bundesfinanzminister Christian Lindner, der diese Aussagen trifft, gilt es aufzuhorchen. Während es offiziell noch keine Details zum kommenden, dritten Entlastungspaket gibt, deutet nach der jüngsten Kabinettsklausur in Schloss Meseberg vieles auf eine neue Einigkeit hin, sodass es der Bundesregierung tatsächlich gelingen könnte, ein einigermaßen konsistentes Entlastungspaket zu schnüren.
Der Sommer der Distanz, in dem Lindner mal mit seinem Vorschlag zur Korrektur der Kalten Progression vorpreschte, mal mehr Ausgabendisziplin von den Koalitionspartnern anmahnte, SPD und Grüne ihrerseits eine Übergewinnsteuer zu forcieren versuchten und beide Parteien sich zuletzt wegen Scholz' Cum-Ex-Affäre und Habecks Gasumlage untereinander beharkten, scheint erst einmal vorüber. "Die Regierung arbeitet sehr gut zusammen, wie man hier in Meseberg sinnlich erfahren konnte. Das war sehr freundschaftlich und sehr konstruktiv", steigerte sich Bundeskanzler Olaf Scholz in neue Höhen der Einmütigkeitsbekundungen.
Selbstredend standen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Lindner nicht zurück. "Mit seiner Erfahrung, mit seiner Umsicht, mit seiner Ruhe führt er dieses Land sicher, und ich bin froh, dass es genauso ist", sagte Habeck, nachdem aus seiner Partei zuletzt wiederholt scharfe Kritik an Scholz' chronisch anmutenden Erinnerungslücken bei der Aufklärung der Hamburger Cum-Ex-Affäre kam. Revanche-artig hatte SPD-Chef Lars Klingbeil den Wirtschaftsminister persönlich aufs Korn genommen und ihn als Dampfplauderer dargestellt, was wiederum die Grünen scharf konterten. Laut dem auffällig gut aufgelegten Lindner alles nicht der Rede wert: "Dass es da mal ab und an öffentlichen Austausch gibt, das ist unvermeidlich in der Politik."
Ampel will ans Merit-Order-Prinzip
Überraschender war da schon Lindners Eingeständnis: "Wir haben an den Strommärkten Spekulation." Bislang hatte Lindner die Energiekonzerne von Kritik explizit ausgenommen und auch sogenannte Über- oder Zufallsgewinne als legitim verteidigt. Nun kritisierte der FDP-Chef "Regeln, die dazu führen, dass die steigenden Gaspreise zu Extragewinnen, Zufallsgewinnen führen". Die Politik habe am Strommarkt einen "Rendite-Autopiloten" erschaffen, der abgestellt gehöre. Selbiges kündigten auch Scholz und Habeck an.
Konkret geht es dabei um das kompliziert klingende Merit-Order-Prinzip. Vereinfacht gesagt, bestimmt der für den zur Abdeckung des Gesamtbedarfs teuerste benötigte Stromerzeuger den Energiepreis am europäischen Strommarkt. Das sind derzeit Kraftwerke, die mit Gas Strom erzeugen. Wer günstiger produziert, erhält denselben Preis und profitiert von einer entsprechend höheren Gewinnspanne. In Zeiten der Energieknappheit zieht der sprunghaft angestiegene Gaspreis den Strompreis für alle Stromarten in die Höhe - auch für Erzeuger, die ihr Gas günstiger eingekauft haben, sowie für Strom aus Erneuerbaren, Kohle- und Atomkraftwerken. (Lesen Sie hier, wie der Strommarkt funktioniert.)
"Der Schmerz, den wir haben, dass hier Gewinne erzielt werden, die man nicht richtig finden kann, den haben alle anderen auch", berichtete Scholz über seine Gespräche mit anderen EU-Regierungschefs. Diese europäische Einigkeit werde dazu führen, dass die EU-Kommission schnell eine Reform erarbeiten werde. Doch festlegen, ob so noch im laufenden Jahr der Strompreis gesenkt werden könnte, wollte sich keiner der drei. Es sei "eine durchaus komplizierte Situation, im Markt die Regeln zu verändern, ohne dass der Markt umfällt", bremste Habeck Erwartungen an sein Haus und Brüssel.
Es wird "wuchtig"
Die Bundesregierung kommt deshalb gar nicht drumherum, Verbrauchern und Unternehmen beim Umgang mit den hohen Energiepreisen direkt zu helfen. Wie ntv aus Regierungskreisen erfuhr, sollen Gering- und Mittelverdiener eine "Inflationsprämie" zwischen 800 und 1500 Euro erhalten. Einmalzahlungen soll es auch für Rentner, Transfergeldbezieher und Studierende geben. Dazu kommt ein Heizgeld zusätzlich zum Wohngeld und eine Verlängerung des Kurzarbeitergelds. Einschließlich der EU-Strommarktreform entspräche so ein Paket weitgehend den Vorstellungen der SPD-Fraktion, die einen eigenen Vorschlag für Entlastungen geschnürt hatte.
"Wir brauchen ein wuchtiges Paket für Entlastungen in der ganzen Breite der Gesellschaft", sagte Lindner. Das impliziert, dass die Ampel Lindners Forderung nach einer Abschaffung der Kalten Progression nachkommt, auch wenn das viel Geld kostet und für hohe Vermögen in absoluten Zahlen mehr Ersparnisse bedeutet als für kleinere Einkommen. Lindner nannte auch die Spielräume für Entlastungen: im laufenden Jahr ein einstelliger Milliardenbetrag, im kommenden Jahr ein zweistelliger Milliardenbetrag. Die Spielräume, so die Darstellung, seien auch das Ergebnis vorausschauender Finanzplanung.
Lindner und Habeck machten deutlich, was es eher nicht geben werde: Eine Übergewinnsteuer hält Lindner weiterhin für juristisch und organisatorisch kompliziert. Einen Gaspreisdeckel für die Basisversorgung von Verbraucherinnen und Verbrauchern hält Habeck für zu teuer, zu wenig zielgerichtet und zu bürokratisch. Einigkeit zeichnet sich ab, dass das 9-Euro-Ticket tatsächlich einen Nachfolger bekommt. "Volker Wissing hat etwas Bahnbrechendes erreicht, nämlich den Tarifdschungel in Deutschland für drei Monate zu lichten", lobte Lindner seinen Finanzminister und - wie nie zuvor - das 9-Euro-Ticket. Nun wolle Wissing unter Einbeziehung der Bundesländer einen Nachfolger einführen, der nur einen Bruchteil der 14 Milliarden Euro koste, die das 9-Euro-Ticket aufs Gesamtjahr koste.
Verdächtiges Schwärmen
"Mit einem Bruchteil eine solche Innovation im ÖPNV zu erreichen, da kann man nicht Nein sagen", sagte Lindner. Spannend wird, wie viel der Nachfolger kosten soll. Die Grünen hätten gern ein bundesweites Ticket für 49 Euro sowie ein regionales Monatsticket für 29 Euro. Auch der SPD schwebt ein 49-Euro-Ticket vor, während die Bundes-FDP die Höhe maßgeblich von der Co-Finanzierungsbereitschaft der Länder abhängig machen dürfte. Sollte der Bund beispielsweise zwei Milliarden Euro jährlich zur Verfügung stellen, läge es bei den Ländern, welchen Beitrag sie leisten.
Schon die Tatsache, dass Porsche-Enthusiast Lindner in Meseberg liebevoll von den "Öffis" sprach, nachdem er Befürworter des 9-Euro-Tickets kürzlich noch der "Gratismentalität" verdächtigte, deutet auf eine neue Einstellung zu einer Entlastungsmaßnahme, der Lindner sich auf Druck der Ampelpartner ohnehin nicht mehr verweigern kann. Mit den Direktzahlungen im Entlastungspaket und der Reform des Strommarktes dürfte es sich ähnlich verhalten.
Wann die Öffentlichkeit mehr hierzu erfährt, bleibt abzuwarten. Kanzler Scholz lobte seine Regierung, dass sie bisher "ohne Nachtsitzungen" und "auch ohne Durchstechereien" regiert habe. Dass die letzte Verhandlung über das zweite Entlastungspaket sehr wohl bis in die Morgenstunden dauerte und Informationen zum dritten Entlastungspaket schon kursieren, sollte das offenbar angepeilte Bild einer unverändert einigen Regierungskoalition nicht stören.
Quelle: ntv.de