Oleksij Melnyk im Interview "Bachmut ist eine vielversprechende Richtung für die Ukraine"
15.07.2023, 15:58 Uhr Artikel anhören
Eine ukrainische Einheit feuert bei Bachmut auf russische Stellungen.
(Foto: picture alliance / AA)
Der ukrainische Militärexperte Oleksij Melnyk ist "zumindest nicht enttäuscht" vom NATO-Gipfel in Vilnius. Die beiden Bedingungen, die vor einem Beitritt der Ukraine zum Bündnis erfüllt sein müssen, hält er für nachvollziehbar. Über den Verlauf der ukrainischen Offensive sagt er, diese laufe gerade im Vergleich zu den Erfolgen des vergangenen Jahres langsamer als erhofft. Der Grund sei, dass die Russen riesige Flächen vermint haben. "Selbst wenn man sorgfältig Minen räumt, ist das keine Garantie, dass die gleichen Stellen nicht ein paar Stunden später wieder vermint werden, diesmal aus der Distanz."
Bachmut sei "inzwischen eine vielversprechende Richtung für die Ukrainer", so Melnyk. Mit Blick auf die Kritik am Einsatz von Streumunition sagt er, es sei ausgeschlossen, dass die Ukraine sie wie Russland gegen Wohngebiete einsetze. Und die Schlachtfelder seien ohnehin vermint. "Aufgrund des Mangels benutzen die Russen auch massenhaft ausgemusterte, veraltete Munition, von der bis zu 30 bis 40 Prozent nicht explodiert und liegen bleibt. Wenn es um die zugesagte Streumunition aus den USA geht, ist dieser Wert um Welten kleiner."
ntv.de: Herr Melnyk, Sie gehören zu den prominentesten Experten der Ukraine in Fragen der internationalen Sicherheit. Wie bewerten Sie die Ergebnisse des NATO-Gipfels in Vilnius für Kiew?
Oleksij Melnyk: Als Experte wurde ich zumindest nicht enttäuscht. Die Partner nehmen es ernst, dass die Zukunft der Ukraine in der NATO liegen soll. Dass es keine Wunder gab, überrascht höchstens die Menschen, deren Erwartungen überhitzt waren - vor allem durch Politiker, die sich im Voraus besser von Fachleuten hätten beraten lassen.

Oleksij Melnyk ist Oberstleutnant a.D. der ukrainischen Armee und Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa. Zwischen 2005 und 2008 war Melnyk Berater des ukrainischen Verteidigungsministeriums.
(Foto: Zentr Rasumkowa)
Das wichtigste Ergebnis für die Ukraine: Auf dem Weg in die NATO fällt nun der sogenannte Membership Action Plan weg. Was bedeutet das in der Praxis?
Dies löst ein wichtiges bürokratisches Problem, das möglicherweise entstehen könnte. Wenn jemand in der Zukunft den Aufnahmeprozess hätte bremsen wollen, hätte er gesagt: Nun muss auch der Membership Action Plan erfüllt werden. Daher ist es von Bedeutung, dass er für die Ukraine nicht mehr notwendig ist - anders als für Georgien. Aber: Als die Ukraine 2008 beim Gipfel in Bukarest keinen Membership Action Plan erhielt, war das eigentlich nur formell so. Es wurde ein System erarbeitet, welches diesen faktisch nahezu 1:1 ersetzt - zu dem gehört etwa das National Annual Programme, dessen Erfüllung für die Ukraine eine Bedingung bleibt und mit dem Kiew schon seit über zehn Jahren arbeitet. Unterm Strich ist es das Gleiche. Es ist also ein großer bürokratischer Sieg, der praktisch aber nicht so viel ändert.
Welche Bedingungen muss die Ukraine denn erfüllen, um in die NATO aufgenommen zu werden? Ukrainische Offizielle beklagen sich nämlich über wenig Konkretes dazu.
Mich wundert, wenn man so etwas sagt, denn eigentlich gibt es zwei grundsätzliche Bedingungen, die kaum konkreter sein könnten. Zum einen ist es das Kriegsende. Es ist eine sehr verständliche, objektive Geschichte, bei der allerdings niemand weiß, wann und wie genau es kommt. Denn die Einstellung der Kämpfe ist nicht gleich per se das Kriegsende. Rein formell betrachtet ist zum Beispiel Russland immer noch im Kriegszustand mit Japan, weil es bis heute kein Friedensabkommen gibt. Es gibt viele Szenarien: die Rückkehr der Ukraine zu den Grenzen von 1991, aber auch ein kompromissartiger Waffenstillstand. Dass man das aus westlicher Sicht stand jetzt nicht näher definieren kann, liegt an der allgemeinen Ausgangslage.
Und die zweite Bedingung ist der faktische Membership Action Plan, genannt National Annual Programme. Er besteht aus fünf grundsätzlichen Kriterien - und der Verteidigungsbereich ist nur eines davon. Bei diesem gibt es gar keine Fragen: Wir sehen alle, dass die ukrainische Armee eine große Bereicherung für die NATO wäre. Wenn wir aber über weitere vier Bereiche reden, etwa über die Justiz, gibt es ernsthafte strukturelle Probleme. Zu sagen, dass wir bei diesen schon so weit sind, wäre sehr überzogen.
Für wie realistisch halten Sie es dann, dass die Ukraine, sagen wir mal, in den nächsten zehn Jahren in die NATO aufgenommen wird?
Ich sehe das positiv. Das Hauptproblem bleibt dabei natürlich die Bedingung eins. Denn die nötigen systematischen Fortschritte können beim nötigen Druck allesamt früher oder später erfüllt werden, wie das teilweise im Fall der Integration in die EU bereits passiert. Mit dem Kriegsende ist das anders. Eine Schwierigkeit ist, dass gewisse Restrisiken auch danach bleiben. Stellen wir uns mal Folgendes vor: Der Krieg ist zu Ende, auch kompliziertere Länder wie Ungarn stimmen dem Beitritt der Ukraine in die NATO zu - und am Tag nach dem Beitritt greift Russland die ukrainische Grenze wieder an, um Artikel 5 einmal praktisch auszutesten. Wenn die NATO darauf nicht entschieden reagiert, brennt gleich das gesamte System der internationalen Sicherheit, was ein großer Erfolg für Moskau wäre. Es ist ein unwahrscheinliches Szenario, das man aber trotzdem im Kopf behalten muss. Ich bleibe allerdings zu 100 Prozent bei meiner Meinung, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO kein Ticket in den Krieg mit Russland wäre, sondern eine seriöse Stärkung der Allianz.
Seit dem 4. Juni bereits läuft die ukrainische Gegenoffensive, auch wenn die heiße Vorbereitungsphase natürlich schon im Frühjahr voll im Gange war. Wie bewerten Sie den Zwischenstand?
Wir machen Fortschritte an drei Ecken der südlichen Front Richtung der sogenannten Landbrücke zur Krim. Laufen diese Vorstöße langsamer als gewünscht? Klar, gerade im Vergleich zu den drei sehr erfolgreichen Operationen im vergangenen Jahr, die die Menschen hier im Kopf haben: Ich meine dabei neben Charkiw und Cherson auch Russlands "Geste des guten Willens" im späten März 2022, also die klare Niederlage in der Schlacht um Kiew. Womit hat dies primär zu tun? Ich spreche regelmäßig mit Leuten vor Ort, und sie sind negativ überrascht vom Ausmaß der Verminung. Die verminten Flächen sind riesig. Und das Problem ist: Selbst wenn man sorgfältig Minen räumt, ist das keine Garantie, dass die gleichen Stellen nicht ein paar Stunden später wieder vermint werden, diesmal aus der Distanz.
Es ist eine schwere Operation, ohne Frage. Was ich aber keinesfalls tun würde: Die bisherigen Geländegewinne der Ukraine mathematisch zusammenzurechnen und daraus Schlüsse ziehen, in wie vielen Jahren wir welches Territorium befreien können. Das ist absolut unseriös, auf solche Experten sollte man überhaupt nicht hören. Ich behalte den vorsichtigen Optimismus trotz des schwierigen Zermürbungskriegs an der Front.
General Walerij Saluschnyj, der populäre Befehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, sagte neulich der "Washington Post", dass die NATO eine solche Operation ohne Lufthoheit gar nicht begonnen hätte. Was sagen Sie dazu?
Nun, das Interview von Saluschnyj habe ich weniger so verstanden, dass solche Operationen gar nicht ohne Lufthoheit durchgeführt werden können, obwohl es natürlich stimmt, dass die NATO mit ihren Möglichkeiten anders handeln würde. Der Befehlshaber hat in meinen Augen einfach auf die Kritik reagiert, dass alles angeblich zu langsam laufe. Dem ukrainischen Generalstab waren die Schwierigkeiten der Gegenoffensive ohne F-16 im Voraus bekannt.
Aber es gibt halt die Realität. Die Kampfjets werden in der Ukraine frühestens in ein paar Monaten da sein. Ich nenne die optimistischste Variante, weil wir alle bereits gesehen haben, dass viele Lieferungen etwas zügiger als angekündigt laufen. Hätte man die Gegenoffensive vertragen und warten sollen? Im Herbst gibt es dann reichlich Regen, die Offensivoperationen wären erschwert und die Russen würden bis dahin noch mehr Territorium verminen. Bei den ukrainischen Offensiven in Bezirken Charkiw und Cherson hatten die Russen außerdem auch die Luftüberlegenheit, trotzdem sind sie erfolgreich gelaufen. Es ist wichtig, ruhig zu bleiben und sich daran zu erinnern, dass der Großteil der für die Gegenoffensive neu formierten Brigaden noch nicht im Fronteinsatz war. Und die zugesagten Lieferungen der Streumunition aus den USA dürften das Fehlen von Kampfjets ein bisschen ausgleichen.
Was ist denn aktuell mit Bachmut? Die Russen haben die Stadt zwar im Mai eingenommen, doch schon damals hat zeichnete sich ab, dass die Lage an den Flanken für sie potenziell brandgefährlich ist. Dies scheint sich in den letzten Wochen zu bestätigen.
Bachmut ist inzwischen eine vielversprechende Richtung für die Ukrainer. Sollte es den Ukrainern in vergleichsweise kurzer Zeit gelingen, den von der russischen Propaganda hochgelobten Sieg zunichtezumachen, wäre das ein gewaltiger politischer und psychologischer Erfolg. Die Aussichten dafür sind tatsächlich vorhanden, auch wenn man immer vorsichtig bleiben muss. Die Russen konzentrieren immer mehr Reserven auf den Flanken, aber die Ukrainer haben bereits viele strategische Höhen eingenommen und für die russische Armee sieht es strategisch gesehen nicht gut aus. Ganz generell hat Bachmut an sich keinen riesigen strategischen Wert, aber die Russen haben dort sehr viele Kräfte verbraucht - und es besteht die theoretische Möglichkeit einer Umzingelung. Natürlich hatten auch die Ukrainer im Kampf um Bachmut große Verluste, doch was wichtig ist: Neue westliche Waffen oder neue Brigaden sind dort praktisch nicht beteiligt. Und: Die Ukrainer gehen völlig anders vor als die Russen bei ihren monatelangen Kämpfen, bei denen sie quasi Haus für Haus in der Stadt selbst gestürmt haben.
Sie haben die Streumunition angesprochen. Was würden Sie den Kritikern der Lieferung in Deutschland sagen?
Obwohl Russland einen barbarischen Krieg führt und Streumunition gegen Großstädte wie Charkiw eingesetzt hat, ist es mir zuerst wichtig zu betonen, dass die Ukraine sich auf dieses Niveau keinesfalls begeben darf. Die Situation mit der Streumunition ist aber abgesehen von ihrer Effektivität gegen größere Truppensammlungen des Gegners folgende: Es ist einerseits ausgeschlossen, dass die Ukraine diese gegen Wohngebiete oder Städte einsetzt. Wenn wir aber über das Schlachtfeld sprechen, dann ist dort nicht nur ohnehin fast alles vermint. Aufgrund des Mangels benutzen die Russen auch massenhaft ausgemusterte, veraltete Munition, von der bis zu 30 bis 40 Prozent nicht explodiert und liegen bleibt. Wenn es um die zugesagte Streumunition aus den USA geht, ist dieser Wert um Welten kleiner. Daher wird deren Lieferung praktisch kaum etwas verändern oder verschlimmern. Die massenhafte Minenräumung nach dem Krieg wäre so oder so notwendig.
Mit Oleksij Melnyk sprach Denis Trubetskoy
Quelle: ntv.de