
Erst wird gerodet, dann kommt das Vieh, dann das Soja.
(Foto: REUTERS)
In Brasilien entscheiden die Wähler über die Zukunft des Planeten mit. Wissenschaftler sagen: Bleibt Präsident Bolsonaro, wäre das für den Amazonas-Regenwald katastrophal. Gewinnt sein Herausforderer, gibt es für mehr Hoffnung für die grüne Lunge.
Hunderte Meter über dem Amazonas-Regenwald ist es kühl und trocken. Im frühen Morgengrauen geht es 325 Metern nach oben, auf den höchsten Forschungsturm der Erde. Noch liegt dichter Nebel über den Baumkronen, die sich wie ein grüner Ozean rundum erstrecken. Vom Amazon Tall Tower Observatory ist er bei der Arbeit zu beobachten; das System, die grüne Lunge, die Klimaanlage. All dies kann man den Amazonas-Regenwald nennen, wenn es ums Weltklima geht.
Auch an diesem Tag im Februar wird die Sonne bis zu 20 Milliarden Tonnen Wasser aus dem Wald verdunsten lassen; Das ist mehr, als der Amazonas-Fluss gleichzeitig führt. Gewaltige Wolken tragen das Wasser bis zu hunderte Kilometer weit und versorgen fast den gesamten südamerikanischen Kontinent mit Regen. Wissenschaftler nennen sie deshalb fliegende Flüsse. Flüsse, die sich dramatisch verändern könnten. Und das Klima gleich mit. Auch darüber entscheiden die Brasilianer an diesem Sonntag, wenn sie zur Stichwahl um die Präsidentschaft gehen.
Der eine Kandidat, Präsident Jair Bolsonaro, hält äußerst wenig von Umweltschutz. Unter ihm schrumpfte der Amazonas-Regenwald dramatisch. Der andere, Widersacher Lula Inácio da Silva, war schon einmal Staatschef und will zurück in den Palácio do Planalto, den Palast der Hochebene in der Hauptstadt Brasilia. Zwischen 2003 und 2012 hatte Lula die Abholzung sehr deutlich verringert - und will sie nun so weit stoppen wie möglich. Vielleicht nie zuvor war eine Wahl im Globalen Süden so wichtig für den gesamten Planeten.
"Es wäre eine Katastrophe"
Solange die Energie der Sonne auf den Wald strahlt und dort das Wasser verdunsten lässt, solange wird die Energie nicht zu Wärme, erklärt Stefan Wolff vom Max-Planck-Institut für Chemie, während er vom Turm über das grüne Meer blickt. Da die Wolken zusätzlich die Erde kühlen, bezeichnen Forscher den Amazonas nicht nur als grüne Lunge, sondern auch als die Klimaanlage der Welt. Ohne den Regenwald wäre es allein in Brasilien wohl rund zwei Grad wärmer. Die Pariser Klimaziele wären kaum zu erreichen.
"Noch mal vier Jahre wie die letzten vier wären für den Amazonas eine Katastrophe", sagt Stefan Wolff nun durchs Telefon, kurz vor der Präsidentschaftswahl und mehrere Monate nach dem Gespräch auf dem Beobachtungsturm. Schon heute stehe der Amazonas Regenwald kurz vor einem sogenannten Kipppunkt. Also einem Punkt, an dem sich der Wald nicht mehr von der Zerstörung erholen kann.
An die 20 Prozent des ursprünglichen Regenwaldes sind bereits zerstört. Wissenschaftler gehen davon aus, dass bei 25 Prozent Schluss für das System Amazonas wäre. Um die Klimaanlage der Erde zu retten, müsste der verbliebene Teil geschützt und zerstörte Flächen aufgeforstet werden. Doch derzeit findet das Gegenteil statt.
Krieg gegen das Klima
Kaum war Bolsonaro Anfang 2018 im Amt, krempelte er die Ärmel im Amazonas hoch: Er kündigte an, die Regenwaldgebiete wirtschaftlich erschließen zu wollen, kürzte die Gelder für das INPE sowie das Umweltschutzinstitut IBAMA. Die Abholzung hat seither deutlich zugenommen. Satellitendaten des brasilianischen Weltrauminstituts INPE zeigen, dass in den ersten drei Jahren seiner Amtszeit 33.200 Quadratkilometer Wald zerstört wurde, eine Fläche größer als Belgien. Im vergangenen Jahr erreichte die Abholzung den höchsten Stand seit 2006.
Bei Verstoß gegen die Umweltgesetze verhängt das IBAMA Strafen und setzt beides mit eigenen bewaffneten Einsatzkräften durch - eigentlich. Bolsonaro bezeichnete Geldstrafen "ideologisch" und sagte dem damaligen Umweltminister Ricardo Salles, er solle "die Axt bei diesen Leuten des IBAMA anlegen. Ich will keine Gläubigen." Der Minister ließ die meisten regionalen Führungskräfte feuern und durch Linientreue, etwa Militärs, ersetzen. Andere Regionalabteilungen blieben führungslos. Die Rodungen nahmen zu, die Bestrafungen sanken auf den tiefsten Stand seit Jahrzehnten. Goldgräber und Holzfäller fühlten sich von der Laissez-faire-Politik ermutigt und gehen ohne viel Federlesen vor.

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro im Wahlkampf in Belo Horizonte - in brasilianischen Farben und mit Motorradhandschuhen.
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Exemplarisch für die Haltung der Regierung ist die Reaktion auf einen Gewaltausbruch vor drei Jahren im südlichen Amazonas. Anfang Juli 2019 wollte das IBAMA an der Grenze zwischen den Bundesstaaten Rondônia und Mato Grosso verhindern, dass Holzfäller weiter illegal in den dortigen indigenen Schutzgebieten roden. Also rückten Einsatzkräfte im Ort Boa Vista do Paracana an, inklusive drei Hubschraubern und einem Tankwagen. Die Holzfäller wehrten sich. Um ihr illegales Geschäft zu schützen, setzten sie eine Brücke in Brand und blockierten die Zufahrtswege mit Baumstämmen. Dann zündeten sie den Tankwagen an. Das IBAMA zog sich zurück.
Aus dem übergeordneten Umweltministerium kam keine Hilfe, im Gegenteil. Zwei Wochen nach den Vorkommnissen reiste Ressortchef Salles an den Ort, sprach mit den Holzfällern - und lobte sie als repräsentativ für die "guten Arbeiter des Landes". Sein Besuch sei ein Zeichen des Respekts. "Die Gesetze haben nichts mit der Realität zu tun. Was wir gerade tun, ist, im ganzen Land den legalen Teil an die reale Welt anzupassen", sagte er vor den applaudierenden Arbeitern.
Zwei Jahre später musste Salles gehen - aber nicht, weil er während der Pandemie hinter verschlossenen Türen getönt hatte, die globale mediale Aufmerksamkeit für das Coronavirus sei doch eine prima Gelegenheit, unbemerkt "alle Regeln" der Umweltschutzmaßnahmen für den Regenwald zu ändern und "die Rinderherde durch den Amazonas zu treiben". Sondern deshalb, weil er versucht hatte, Ermittlungen über den Export illegal geschlagenen Tropenholzes nach Europa und in die USA zu verhindern.
Weil der größte Teil dieser illegal gerodeten Flächen für Tierhaltung und Sojaanbau genutzt wird, sind Wirtschaft, Fleischkonsum und Klimasünde eng ineinander verzahnt. Brasilien ist der zweitgrößte Rindfleischproduzent und der größte Sojaproduzent der Welt.
Südamerika würde austrocknen

Luiz Inácio Lula da Silva, meist nur Lula genannt, beim Wahlkampfabschluss am Tag vor der Wahl.
(Foto: AP)
Bereits seit 2010 arbeitet Stefan Wolff im Amazonas. Der Forschungsturm ist ein gemeinsames Projekt von zwei deutschen Max-Planck-Instituten und des brasilianischen Instituts für Amazonasforschung (INPA). Dank der gewaltigen Höhe können die Forscher hier Luftproben entnehmen, die für das gesamte Amazonasbecken repräsentativ sind. Die Wissenschaftler beobachten die Veränderungen, weil die Vegetation anders ist. "Eine kleine Sojapflanze kann nicht so viel Wasser verdunsten wie ein Baum", erklärt Wolff. Die Erde auf einem Sojafeld erwärmt sich mehr, und die Gebiete des Waldes, die wind-abwärts liegen, bekommen weniger Wasser ab.
Je mehr der Amazonas abgeholzt wird, desto sensibler wird er. Zerstückelt in einzelne Teile ist der Wald nicht überlebensfähig, das System funktioniert nur als Gesamtkonstrukt. Ohne die fliegenden Flüsse würden weite Teile Südamerikas austrocknen und zu Wüsten oder Halbwüsten werden. So wie sie auf ähnlichen Breitengraden in Australien oder Afrika zu finden sind.
Bolsonaro ist im Wahlkampf kaum auf Umweltfragen eingegangen. Stattdessen rückte er Kriminalität, Korruption und die Wirtschaftslage in den Vordergrund. Geschadet hat es ihm und anderen konservativen Kräften nicht, im Gegenteil. Sie werden im zukünftigen Kongress noch stärker vertreten sein. Bolsonaros Partei etwa gewann in vier der neun Amazonas-Bundesstaaten deutlich. Von dort grüßt die mächtige Agrarlobby, dessen Unterstützung sich Bolsonaro sicher sein kann. Auch Ex-Umweltminister Salles sitzt künftig als Abgeordneter im Kongress. Kaum jemand erhielt mehr Stimmen als er.
In Lulas erster Präsidentschaft von 2003 bis 2010 hatten sich die Rodungen um rund 72 Prozent verringert. Im aktuellen Wahlkampf kündigte er an, er würde als Staatschef einen "unerbittlichen Kampf" gegen die Abholzung führen. Er wolle ein Waldschutzgesetz neu auflegen, gerodete Flächen bepflanzen und die Abholzungsrate damit auf "netto null" bringen, sagte er bei einem Fernsehduell mit Bolsonaro.
Würde er all dies umsetzen, könnte sich die Abholzung im brasilianischen Amazonasgebiet laut Analyse von INPE und der Oxford University bis zum Jahr 2030 um 89 Prozent reduzieren. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass es so kommt: Sollte Lula gewinnen, braucht er für strengere Umweltgesetze die Zustimmung des Kongresses. Er wird also Zugeständnisse machen müssen. Für den Regenwald wäre das trotzdem keine schlechte Nachricht. Für das Weltklima auch nicht.
Quelle: ntv.de