Politik

Blockade von Berg-Karabach "Aserbaidschan will im Schatten des Ukraine-Krieges Tatsachen schaffen"

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Der Latschin-Korridor ist die einzige Straße, die Berg-Karabach mit Armenien verbindet.

Der Latschin-Korridor ist die einzige Straße, die Berg-Karabach mit Armenien verbindet.

(Foto: picture alliance/dpa/Le Pictorium Agency via ZUMA)

Seit Monaten schon blockiert Aserbaidschan Lieferungen in die von Armeniern bewohnte Region Berg-Karabach, mittlerweile ist klar, dass das Ziel eine ethnische Säuberung ist: Die Methoden der aserbaidschanischen Seite laufen darauf hinaus, "den Latschin-Korridor zu einer Einbahnstraße zu machen", sagt die Politologin Nadja Douglas. "Appelle reichen nicht. Trotzdem schaut die Weltgemeinschaft im Grunde doch wieder nur zu." Die bisherige regionale Ordnungsmacht Russland habe ein ähnliches Motiv wie der Westen, in diesem Konflikt tatenlos zu bleiben, sagt die Expertin.

ntv.de: Seit ein paar Wochen blockiert Aserbaidschan das von Armeniern bewohnte Berg-Karabach vollständig, weder Medikamente noch Lebensmittel oder Treibstoff kommen durch. Können Sie sagen, wie es den Bewohnern der Region geht?

Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin.

Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin.

(Foto: Annette Riedl)

Nadja Douglas: Berg-Karabach ist jetzt weitgehend von der Außenwelt isoliert, ich habe daher auch nur indirekte Informationen. Aber die Situation scheint immer kritischer zu werden. Mitte Dezember begann eine Blockade von sogenannten Umweltaktivisten, von denen bald klar war, dass es sich in Wirklichkeit um Akteure handelt, die mit den aserbaidschanischen Behörden kooperieren. Im April hat Aserbaidschan einen Checkpoint am Latschin-Korridor eingerichtet, der Armenien mit Berg-Karabach verbindet. Seither hat sich die humanitäre Situation verschlechtert, aber zumindest gab es noch einen eingeschränkten Verkehr von Personen und Gütern. Seit Mitte Juni kommen nicht einmal die Hilfslieferungen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz durch.

Luis Moreno-Ocampo, der ehemalige Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, wirft Aserbaidschan vor, die Armenier in Berg-Karabach aushungern zu wollen. Er sagt, es gebe gute Gründe, dies einen Völkermord zu nennen. Ist das aus Ihrer Sicht zutreffend?

Mit Begriffen wie Völkermord und Genozid muss man sehr vorsichtig sein. Mittlerweile spricht aber nicht mehr nur die armenische Regierung davon, dass in Berg-Karabach eine ethnische Säuberung passiert. Tatsächlich laufen die Methoden der aserbaidschanischen Seite darauf hinaus, den Latschin-Korridor zu einer Einbahnstraße zu machen. Es sieht sehr danach aus, dass Aserbaidschan die Lebensumstände in Berg-Karabach so unerträglich machen will, dass die Menschen genötigt werden, die Region zu verlassen. Viele haben das bereits getan, vor allem junge Leute und Familien, die für sich und ihre Kinder keine Perspektive in Berg-Karabach sehen.

Die aserbaidschanische Führung sagt, die Armenier in Berg-Karabach könnten sich doch von Aserbaidschan versorgen lassen.

Das ist einfach nur zynisch. Jeder weiß, dass die Region von Aserbaidschan nicht versorgt wird. Und dass es kein Zurück gibt, wenn man die Region verlässt. Deshalb wollen vor allem ältere Menschen in ihrer Heimat bleiben. Es ist bewundernswert, wie viele Armenier in Berg-Karabach aushalten. Sie wollen ihre Heimat nicht ausbluten lassen.

Gibt es keinen internationalen Druck auf Aserbaidschan?

Es gab Appelle, die alle folgenlos geblieben sind. Im Februar hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag Aserbaidschan verpflichtet, die Blockade von Berg-Karabach zu beenden. Mitte August gab es eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats. Und natürlich sind alle Diplomatinnen und Diplomaten weltweit, die sich mit der Region beschäftigen, hochgradig alarmiert. Aber dennoch bleibt es bei den Appellen.

Sie meinen, das reicht nicht aus.

Auf keinen Fall. Das ist doch eine Lehre aus der Geschichte ethnischer Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Appelle reichen nicht. Trotzdem schaut die Weltgemeinschaft im Grund doch wieder nur zu. Dabei gibt es das Prinzip der Schutzverantwortung, das sollte auch hier greifen.

Was sollte die Welt konkret machen?

Natürlich ist klar, dass der UN-Sicherheitsrat im Zweifelsfall von Russland blockiert wird. Aber dennoch müsste es jetzt dazu kommen, dass Aserbaidschan zumindest sehr dringlich dazu aufgefordert wird, wenigstens die Hilfsgüter des Roten Kreuzes durchzulassen. Im Zweifel müsste das mit einem Ultimatum verbunden werden, das der aserbaidschanischen Führung konkrete Sanktionen androht.

Eigentlich hat Russland Friedenstruppen im Latschin-Korridor stationiert. Warum sorgen die nicht dafür, dass die Bevölkerung versorgt wird?

Letztlich hat Russland ein ähnliches Motiv wie der Westen, tatenlos zu bleiben: Aserbaidschan ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen Wirtschaftsakteur geworden und nutzt seine jetzt noch bessere Stellung infolge des russischen Kriegs gegen die Ukraine gnadenlos aus.

Wie?

Für Russland ist Aserbaidschan einer der wenigen verbliebenen Wirtschaftspartner. Zudem ist Aserbaidschan eng mit der Türkei verbündet, die für Russland mittlerweile ein geradezu überlebenswichtiger Partner geworden ist - Russland wird sich hüten, die Türkei durch Parteinahme für Armenien zu verprellen. Na ja, und wie wir alle wissen, hat die Europäische Kommission im vergangenen Jahr im verzweifelten Versuch, die Bezugsquellen von Öl und Gas zu diversifizieren, sich an Aserbaidschan gewandt und Verträge ausgehandelt, die eine Farce sind. Aserbaidschan soll der EU ab 2027 doppelt so viel Gas liefern wie bisher. Auch wenn Aserbaidschan über enorme Ressourcen verfügt: Es ist völlig klar, dass eine Verdopplung der Lieferungen nur möglich ist, indem Aserbaidschan russisches Gas einkauft und dann weiterverkauft.

Damit sind Russland und Europa gleichermaßen auf Aserbaidschan angewiesen.

Das ist wirklich ein Problem. Aserbaidschan versucht, im Schatten des Ukraine-Krieges Tatsachen zu schaffen. Was es auf diplomatischem Wege lange Zeit nicht erreicht hat, soll nun in Form von kleinen Schritten gelingen. Parallel zur Blockade von Berg-Karabach versucht Aserbaidschan, Armenien durch Gefechte an der Demarkationslinie mürbe zu machen, damit sie in den parallel stattfindenden Friedensverhandlungen weitere Zugeständnisse machen. Aserbaidschan sitzt einfach am längeren Hebel.

Hat Aserbaidschan in diesem Konflikt auch wirtschaftliche Motive?

Ja. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew verfolgt schon eine ganze Weile eine Politik "Korridor gegen Korridor". Er fordert einen Korridor durch Armenien in die Region Nachitschewan - eine aserbaidschanische Exklave, die zwischen Armenien und dem Iran liegt. Das Ziel ist nicht nur eine Verbindung zu dieser Exklave, sondern darüber hinaus eine Landverbindung in die Türkei. Allerdings gibt es zwischen dem Latschin-Korridor und einem Korridor von Aserbaidschan nach Nachitschewan einen wichtigen Unterschied: Eine solche Landverbindung würde das armenische Staatsgebiet zerschneiden, und faktisch würde Aserbaidschan damit die für Armenien wichtige Grenze zum Iran kontrollieren. Letztlich, das muss man so deutlich sagen, kämpft Armenien hier um sein Überleben.

Anders als Aserbaidschan ist Armenien eine Demokratie, zugleich aber mit Russland und dem Iran verbündet. Ist dieser Konflikt vielleicht auch zu kompliziert für den Westen? Oder ist Armenien einfach zu unwichtig?

Armenien ist ein kleines Land, es hat keine große wirtschaftliche Bedeutung, befindet sich aber in einer geopolitisch sehr volatilen Region mit schwierigen Nachbarn. Bislang war Russland die einzige Schutzmacht, die Armenien hatte, auch wenn die Armenier das Vertrauen in Moskau mittlerweile wohl verloren haben. Denn es ist klar, dass Russland die Vereinbarungen aus dem Waffenstillstandsabkommen vom November 2020 gegenüber Aserbaidschan nicht mehr durchsetzen kann oder will. Russland ist im Begriff, seine Rolle als regionale Ordnungsmacht im Südkaukasus zu verlieren, was aber nicht automatisch bedeutet, dass es der Westen ist, der das Vakuum schließen wird.

Mit Nadja Douglas sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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