Taliban rücken weiter vor Bundeswehr: Können unser Camp verteidigen
22.06.2021, 18:13 Uhr
Im Camp Marmal sind noch rund 1000 deutsche Soldaten stationiert.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Taliban erobern im Norden Afghanistans weitere Gebiete und befinden sich inzwischen unweit des Bundeswehr-Feldlagers Camp Marmal. Obwohl der Abzug auf Hochtouren läuft, versichern die deutschen Truppen, auf alles vorbereitet zu sein. Derweil greifen selbst Zivilisten in der Region zu den Waffen.
Die deutschen Soldaten sind beim laufenden Abzug aus dem Norden Afghanistans weiterhin zur Verteidigung ihres Feldlagers Camp Marmal in Masar-i-Scharif bereit. "Die Bundeswehr nimmt ständig eine Bewertung der aktuellen Sicherheitslage vor und passt die Schutzmaßnahmen entsprechend an. Im Camp Marmal verfügt das multinationale Kontingent unter Führung der Bundeswehr und mit Unterstützung der US-Amerikaner über Kräfte und Mittel, um auf Gefährdungen reagieren zu können", sagte ein Sprecher des Einsatzführungskommandos in Potsdam.
Der ausreichende Schutz des deutschen Einsatzkontingents werde bestmöglich sichergestellt. Bislang sei das Lager allerdings nicht betroffen. Im Camp Marmal sind derzeit noch 1000 Bundeswehr-Soldaten stationiert. Wir sind auf alles vorbereitet", sagte der Sprecher des Einsatzführungskommandos. Zugleich betonte er: "Am Zeitplan für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan hat sich nichts geändert."
Die Gefechte zwischen den militant-islamistischen Taliban und der Regierung hatten sich in den vergangenen Tagen im Norden des Landes ausgeweitet. Am Westtor der Stadt Masar-i-Scharif waren am Montag Taliban-Kämpfer aufgetaucht. Das Westtor befindet sich rund 15 Kilometer von Camp Marmal. Binnen 24 Stunden waren mindestens acht weitere Bezirke in den Provinzen Tachar, Baghlan und Balch an die Taliban gefallen. Insgesamt haben die Taliban seit Beginn des Abzugs der ausländischen Nato-Truppen am 1. Mai nun 50 Bezirke neu erobert. Afghanistan ist in 34 Provinzen und rund 400 Bezirke unterteilt.
Zivilisten bewaffnen sich
Zivilisten und Anhänger verschiedener politischer Parteien haben sich bewaffnet und den Sicherheitskräften der Regierung angeschlossen. In Masar-i-Scharif etwa hätten politische Parteien insgesamt rund 2000 Männer zum Schutz der Stadt gesandt, sagte die Provinzrätin Fausia Hamidi. Lokale Medien berichteten auch aus den Provinzen Tachar und Badghis über Zivilisten, die sich den Sicherheitskräften anschlossen. Am Sonntag hatte der neue amtierende Verteidigungsminister Bismillah Mohammadi Menschen dazu aufgerufen, die Sicherheitskräfte zu unterstützen. Die Regierung werde sie dafür mit allem Nötigen versorgen.
Derweil haben die Taliban den wichtigsten Grenzübergang von Afghanistan nach Tadschikistan erobert. Die Islamisten hätten alle Grenzposten, den Hafen und die Stadt von Schir Chan Bandar eingenommen, sagte der Ratsabgeordnete der Provinz Kundus, Chaliddin Hakmi. Nach Angaben eines Offiziers mussten die afghanischen Soldaten all ihre Posten aufgeben und "einige unserer Soldaten haben die Grenze nach Tadschikistan überquert".
Der Angriff der Taliban auf Schir Chan Bandar rund 50 Kilometer von Kundus entfernt ereignete sich nach Angaben des Militärvertreters am Montagabend. "Am Morgen waren sie überall, hunderte von ihnen", sagte er. Taliban-Sprecher Sabihullah Mudschahid bestätigte: "Unsere Mudschaheddin haben volle Kontrolle über Schir Chan Bandar und alle Grenzübergänge zu Tadschikistan in Kundus."
USA wollen flexibel bleiben
Pentagon-Sprecher John Kirby hatte zuvor angesichts der Situation einen verzögerten Abzug aus Afghanistan ins Gespräch gebracht. Das Verteidigungsministerium habe die Lage vor Ort ständig im Blick und sei bereit, flexibel darauf zu reagieren. Derzeit gebe es zu viel Gewalt. Die USA bewahrten sich deshalb "Flexibilität", sollten Änderungen am Tempo oder am Umfang des Abzugs nötig sein, sagte Kirby.
Der Abzug der US-Truppen soll nach den Plänen von Trumps Amtsnachfolger Joe Biden bis spätestens zum 11. September abgeschlossen sein. Auch die übrigen Nato-Truppen sollen bis zu diesem Datum aus Afghanistan abgezogen sein. Nach Pentagon-Angaben ist der US-Abzug derzeit etwa zur Hälfte abgeschlossen. Die US-Armee hat bereits mehrere Stützpunkte an die afghanische Armee übergeben und hunderte Flugzeugladungen Material ausgeflogen. Noch seien die US-Truppen aber in der Lage, die einheimischen Sicherheitskräfte zu unterstützen, sagte Kirby. Dies ändere sich jedoch, je weiter der Abzug voranschreite.
Auch die Bundeswehr hat inzwischen mit dem Abzug ihrer zuletzt 1100 Soldaten in Afghanistan begonnen. Ende April war bereits der von der Bundeswehr genutzte Bereich im Camp Pamir in Kundus an die afghanischen Streitkräfte übergeben worden. Danach folgten die Liegenschaften innerhalb des afghanischen Camps Shaheen in der Provinz Balkh.
Um auch nach dem Abzug der internationalen Truppen eine gewisse westliche Präsenz in Afghanistan aufrechtzuerhalten, will die Nato unter anderem den Betrieb des internationalen Flughafens Kabul finanziell unterstützen. Die Türkei hat bereits zugesagt, den Flughafen zu sichern. Für weitere Gespräche dazu reist am Donnerstag eine US-Delegation in die Türkei. US-Präsident Biden empfängt am Freitag den afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani und den Verhandlungsführer der Kabuler Regierung im innerafghanischen Friedensprozess, Abdullah Abdullah, im Weißen Haus.
Quelle: ntv.de, mdi/dpa/AFP