Prigoschin-Experte zum Aufstand "Das ist die russische Version des 20. Juli 1944"
24.06.2023, 16:34 Uhr
Putin bei seiner Ansprache an die Nation.
(Foto: dpa)
Russland-Experte Andreas Heinemann-Grüder hat sich intensiv mit den privaten Militärfirmen in Russland beschäftigt, er geht davon aus, dass Putin den Aufstand niederschlagen wird. Aber es werde "ein Pyrrhussieg" für Putin sein: "Seine maximalistische Position wird sich zwar durchsetzen. Aber die Frage, ob es sinnvoll ist, einen Kampf bis zum Untergang zu führen, wird weiter schwelen." Heinemann-Grüder vergleicht den Wagner-Aufstand mit dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944: "Der Aufstand zeigt, wie sehr die Russen mit dem Rücken an der Wand stehen. Russland hat sich zwar eingebunkert, aber die Zweifel daran, dass dieser Krieg noch zu ihren Gunsten zu drehen ist, die sind erheblich."
ntv.de: Prigoschins Kritik richtete sich eigentlich immer nur auf das Verteidigungsministerium und die Armeeführung, nicht auf den Präsidenten. Wie kam es dazu, dass Putin sich in dem Machtkampf so klar auf eine Seite stellen musste?

Andreas Heinemann-Grüder ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn und Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies.
(Foto: BICC)
Andreas Heinemann-Grüder: Bislang hat Putin das Verteidigungsministerium gegen die Wagner-Gruppe ausgespielt, und umgekehrt. Das ging jetzt nicht mehr - Putin konnte jetzt nicht mehr lavieren, er musste sich entscheiden. Prigoschin hat diese Entscheidung erzwungen. Letztlich hat diese Situation das Verteidigungsministerium mit den Luftangriffen auf ein Wagner-Lager provoziert. Zur Entscheidungsschlacht kommt es, weil Prigoschin darauf reagiert hat. Putin muss nun das Gewaltmonopol wiederherstellen.
Hat Prigoschin seine Stellung falsch eingeschätzt?
Prigoschin hat sicherlich überzogen. Er hat vermutlich erwartet, dass es zu einer Spaltung innerhalb der Armee kommen würde - dass Teile der Armee, die mit Wagner ja auch eng zusammen gekämpft haben, sich nicht auf die Seite von Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow stellen würden, sondern anerkennen, dass Prigoschin sehr legitime Argumente hat. Denn hinter dem Konflikt steht die Frage: Wie soll es mit dem Krieg weitergehen? Prigoschin ist der Ansicht, dass Russland den Krieg beenden muss, weil ein langer Krieg nicht zugunsten Russlands ausgehen wird. Er sagt, dass alle Siegesmeldungen nur Fake sind. Putin dagegen glaubt, dass dieser Krieg zwar sehr lange dauern wird, aber weitergeführt werden muss.
Was bedeutet das Chaos in Russland für die Ukraine?
Für den Moment wird die ukrainische Armee gewisse taktische Vorteile daraus ziehen können, weil Teile der russischen Streitkräfte nun anderweitig beschäftigt sind. Aber wenn sich die Fraktion durchsetzt, die auf einen langen Abnutzungskrieg setzt, dann bedeutet dieser taktische Gewinn strategisch möglicherweise eine Verschlechterung. Dann wird Putin erst recht keine Kompromisse mehr machen.
Kann Russland den Krieg gegen die Ukraine ohne Wagner weiterführen wie bisher?
Die russische Armee versucht ja schon, Methoden anzuwenden, die Wagner angewandt hat. Die Armee rekrutiert bereits bei anderen privaten Militärfirmen, sie rekrutiert Soldaten in Gefangenenlagern, wie Prigoschin das für Wagner gemacht hat. Ein Teil der Vorteile, die der Armee durch den Einsatz von Wagner-Kämpfern entstanden war, wird also durch die regulären Truppen ausgeglichen. Das war im Grunde auch das Ziel von Schoigu in diesem Machtkampf: durch die Zuspitzung des Konflikts die Konkurrenz auszuschalten.
Wie erstaunlich ist es, dass jemand wie Prigoschin, dessen Karriere auf das Engste an Putin gebunden ist, sich jetzt gegen den Staat wendet?
Prigoschin hat in diesem Krieg viele seiner Leute geopfert. Seine Wagner-Gruppe hat einen extrem hohen Blutzoll gezahlt. Er hat die Drecksarbeit gemacht. Er ist im Wortsinn über die Leichen seiner Söldner gegangen - für die Wagner-Kämpfer konnten zuhause nicht einmal mehr Beerdigungen durchgeführt werden. Dadurch hat Prigoschin in Russland an Prestige gewonnen, insbesondere unter jenen, die ohnehin kritisieren, dass es in Russland zu viele Etappen-Generäle gibt, zu viele dieser fetten Oligarchen, die Prigoschin immer wieder attackiert hat. Damit hat Prigoschin nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch im Militär eine gewisse Reputation bekommen. Da dachte er wohl, er sei so stark geworden, dass Putin sich nicht gegen ihn stellen wird. Aber damit hat er sein Blatt offenbar überreizt. Unter dem Druck der Zuspitzung hat Putin sich für Schoigu entschieden.
Prigoschins Kritik an der Armee und an der Kriegführung galt auch als Ventil für Unzufriedenheit, die es möglicherweise in der russischen Bevölkerung gibt. Wie könnte sich die aktuelle Eskalation auf die Stimmung in Russland auswirken?
In und um Moskau wurde bereits der Antiterror-Alarmzustand verhängt, und auch die Moskauer sehen natürlich die Bilder aus Rostow am Don, wo Wagner-Kämpfer mit gepanzerten Fahrzeugen und Panzern die Stadt kontrollieren. Das wird einen erheblichen demoralisierenden Effekt auf die Bevölkerung haben, denn das Bild der nationalen Einheit ist beschädigt. Ohnehin gibt es in der Bevölkerung wachsende Zweifel mit Blick auf den Krieg. Jetzt auch noch Kämpfe innerhalb der eigenen Truppen - der Demoralisierungseffekt auf die Bevölkerung wird enorm sein.
Was sagt der Vorgang über Putins Stellung im russischen Machtgefüge? Ist das Tabu, dass Kritik sich nie gegen den obersten Anführer richten darf, nun gebrochen? Oder umgekehrt, hat er an Macht gewonnen, wenn er diesen Aufstand niedergeschlagen hat?
Ich gehe davon aus, dass Putin den Aufstand niederschlägt. Was wir hier erleben, ist die russische Version des 20. Juli 1944: Der ist auch erfolgreich niedergeschlagen worden. Gleichzeitig war es das Vorspiel für das Ende, weil die Sollbruchstellen deutlich geworden sind. Für Putin wird es ein Pyrrhussieg sein. Seine maximalistische Position wird sich zwar durchsetzen. Aber die Frage, ob es sinnvoll ist, einen Kampf bis zum Untergang zu führen, wird weiter schwelen. Und bei militärischen Niederlagen fehlt ihm künftig das Gegengewicht zu Schoigu und Gerassimow - er kann die beiden zwar weiter zu Sündenböcken machen, aber dann fehlt ihm der Held, der die Lücke besetzt. Putin wird also zur Geisel seines eigenen Verteidigungsministers. Er wird im russischen Machtgefüge nicht mehr der Boss sein, der Schoigu und Gerassimow bei Rückschlägen öffentlich vorführen kann, wie er das seit einem Jahr immer wieder gemacht hat.
Könnte das der Auftakt zu einem Bürgerkrieg sein?
Nein, das glaube ich nicht. Es ist ein Kampf innerhalb der Sicherheitsorgane Russlands. Es ist eine innere Elitenauseinandersetzung.
Nach dem 20. Juli 1944 hat es noch ein knappes Jahr gedauert bis zur bedingungslosen Kapitulation von Hitlerdeutschland. So weit würden Sie die Parallele vermutlich nicht ziehen?
Für die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland gab es viele Faktoren - vor allem militärisch, von Stalingrad bis zur Invasion in der Normandie. Aber der Aufstand der Gruppe Wagner zeigt, welche Spannungen innerhalb des russischen Militärs existieren, denn Prigoschin hat ja durchaus auch Verbündete innerhalb der regulären russischen Armee. Zwei Generäle haben sich gegen den Aufstand ausgesprochen, aber gleichzeitig gesagt, dass Prigoschin mit seiner Kritik am Krieg durchaus einen Punkt hat. Der Aufstand zeigt, wie sehr die Russen mit dem Rücken an der Wand stehen. Russland hat sich zwar eingebunkert, aber die Zweifel daran, dass dieser Krieg noch zu ihren Gunsten zu drehen ist, die sind erheblich.
Das ist die Parallele zum 20. Juli.
Der 20. Juli war ein Versuch, aus der drohenden Niederlage an der Ostfront herauszukommen und vielleicht einen Sonderfrieden mit dem Westen zu schließen. Er basierte auf der Anerkenntnis der Tatsache, dass der Krieg nicht zu gewinnen war, dass Deutschland mit Hitler in den vollen Untergang gehen würde. Die Aufständischen vom 20. Juli wollten einen Ausweg finden, um die totale Kapitulation abzuwenden.
Könnte auch der August-Putsch von 1991 gegen Gorbatschow eine historische Parallele sein?
Der August-Putsch war ein Aufstand gegen einen geschwächten Präsidenten. Das kann uns noch bevorstehen, wenn Teile des Sicherheitsapparates der Ansicht sind, dass Putin infolge des Wagner-Aufstands so geschwächt ist, dass sie den Staat vor Putin retten müssen. Aber so weit sind wir noch nicht.
Die Frage wird seit Beginn des Krieges immer wieder gestellt: Wer wäre in der Lage, Putin zu beseitigen?
So etwas kann eigentlich nur aus den Reihen des Sicherheitsapparats organisiert werden. Für mich käme da nur der Auslandsgeheimdienst infrage. Sie gehören zwar auch den Silowarchen an, die Prigoschin immer kritisiert, also der Verbindung von Sicherheitsapparat und Oligarchen. Aber sie sind nicht so verrottet wie die russische Armee und Teile des Inlandsgeheimdienstes FSB. Vor allem haben sie die Möglichkeit einer abgeschotteten Kommunikation: Sie können sich miteinander unterhalten, ohne dass die anderen sie abhören können. Das wäre eine Voraussetzung, eine Machtübernahme überhaupt zu organisieren.
Mit Andreas Heinemann-Grüder sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de