Elitetruppe für die "Gaza-Metro" Das sind die Tunnel-Spezialisten der israelischen Armee
20.10.2023, 11:18 Uhr Artikel anhören
Bild von einem Tunnel aus dem Jahr 2018, der aus dem Gazastreifen nach Israel gegraben wurde.
(Foto: REUTERS)
Beginnt Israel im Gazastreifen eine Bodenoffensive, wird es vorwiegend für eine Spezialeinheit des israelischen Militärs gefährlich: Die "Wiesel" haben sich auf Militäreinsätze in Tunnelanlagen spezialisiert. Davon gibt es mehr als 1000 im Gazastreifen, die die Hamas-Terroristen zu nutzen wissen.
Noch ist unklar, ob Israel eine Bodenoffensive im Gazastreifen startet. Aber sollten die Streitkräfte mit dieser Maßnahme auf den brutalen Großangriff der Hamas reagieren, erwartet sie eine komplizierte Militäroperation. Der Grund sind primär die vielen Tunnel, die über die vergangenen Jahrzehnte unterhalb des Gazastreifens gegraben wurden: von Gaza nach Ägypten und von Gaza nach Israel, aber vor allem auch innerhalb von Gaza. Zusammengerechnet sind sie mehrere Hundert Kilometer lang. Ein riesiges Netz verglichen mit dem winzigen Gazastreifen: Der ist nur 40 Kilometer lang und maximal 13 Kilometer breit.
"Dieser ausgedehnte unterirdische Komplex ist das böse Problem, das die israelischen Bodentruppen erwartet und für das es keine perfekte Lösung gibt", kommentiert John Spencer, Vorsitzender des Lehrstuhls für urbane Kriegsführung am Modern War Institute (MWI).
Tunnel im Gazastreifen gibt es schon seit Jahrzehnten. Mitte der 90er-Jahre haben Palästinenser die ersten von Gaza nach Ägypten gegraben, um den Grenzposten oberhalb der Erde zu entgehen.
Die Schmuggler-Tunnel in das Nachbarland im Westen sind aus israelischer Sicht das kleinere Übel. Die größere Gefahr sind Tunnel, die nach Israel führen. Über die hat die radikalislamische Hamas in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Selbstmordattentäter oder andere Terrorkämpfer eingeschleust. Auch einige Angreifer, die vor knapp zwei Wochen mindestens 1300 israelische Zivilisten getötet haben, sollen sich unterirdisch fortbewegt haben.
"Kunst des Tunnelbaus perfektioniert"
"Die grenzüberschreitenden Tunnel sind in der Regel rudimentär, sie haben kaum Befestigungen. Sie werden für einen einmaligen Zweck gegraben - das Eindringen in israelisches Gebiet", wird Daphné Richemond-Barak, Expertin für unterirdische Kriegsführung an der Reichman-Universität in Israel, von der BBC zitiert.
Im Gazastreifen selbst sind die Tunnel oft viel professioneller ausgebaut und nicht selten mit Beton verstärkt. Es stehen Stromgeneratoren zur Verfügung, oft sind Wasserleitungen und eine funktionierende Belüftung vorhanden. Hier können sich die Terrorkämpfer über längere Zeit verschanzen. Die Hamas habe "die Kunst des Tunnelbaus perfektioniert", so die Expertin.
Die Hamas hat Gaza fast auf ganzer Länge und Breite und teils sogar auf mehreren Ebenen unterhöhlt. Schätzungsweise gibt es über 1000 Tunnel. Israel spricht deshalb oft von der "Metro" unterhalb Gazas. Die israelischen Soldaten konnten in der Vergangenheit zwar einige Tunnel zerstören, das riesige System zu zerschlagen, würde aber Jahre dauern.
Während des vergangenen Gaza-Kriegs 2021 verkündete die Hamas, dass Unterhöhlungen auf insgesamt rund 500 Kilometern Länge existieren würden. Das wäre größer als das U-Bahn-System von London, mehr als dreimal so groß wie das Berliner U-Bahn-Netz. Im Zuge großangelegter Bombenangriffe wurden damals laut israelischen Angaben 100 Kilometer Hamas-Tunnel zerstört. "Selbst wenn diese Tunnel nicht wieder aufgebaut oder ersetzt wurden, bedeutet dies, dass es wahrscheinlich noch Hunderte Kilometer komplizierter, komplexer und tiefer Tunnelinfrastruktur in Gaza gibt. Es ist eine wahre Stadt unter den Städten an der Oberfläche des Gazastreifens", schreibt John Spencer in seiner Analyse für das Modern War Institute.
Meiste Tunnel sind eng und klein
Die Tunnel sind für die israelischen Soldaten deshalb so gefährlich, weil die Hamas-Terroristen sie für mehrere Dinge nutzen können: Sie können sich dort verstecken und sie als Geheimwege nutzen. Durch die Tunnel kommen sie einigermaßen sicher und frei von einer Kampfposition zur anderen. In besonders tiefen Tunneln wären sie sogar vor Angriffen aus der Luft geschützt.
"Tunnel werden das entscheidende Element der Guerilla-Kriegsstrategie der Hamas sein", erwartet Experte Spencer. "Ihre Kämpfer werden kleine Jäger-Killer-Teams bilden, die sich unterirdisch bewegen, auftauchen, zuschlagen, und sich schnell wieder zurückziehen."
In den Tunnelanlagen kann die Hamas außerdem Raketen transportieren, um sie zu versteckten Abschussorten zu bringen. Oder die israelischen Soldaten in eine Falle locken und dann Tunnelbomben einsetzen, ergänzt Spencer in seiner Analyse. Ein weiteres Problem: Die meisten Hamas-Tunnel sind eher klein und eng - im Durchschnitt nur zwei Meter hoch und einen Meter breit.
Das kommt den israelischen Soldaten nicht entgegen, denn um Offensivoperationen durchzuführen, braucht es unter der Erde eine größere personelle Überlegenheit als oberhalb der Erde. "Ein einzelner Verteidiger kann einen engen Tunnel gegen eine weit überlegene Streitmacht halten", sagt der Experte für unterirdische Kriegsführung. Tief unter der Erde gibt es zudem keinen Empfang. "Alle militärischen Navigations- und Kommunikationsgeräte, die auf Satelliten- oder Sichtverbindungs-Signale angewiesen sind, funktionieren unterirdisch nicht."
Eliteeinheit für Tunnel-Missionen
Hoffnung aus israelischer Perspektive macht zumindest die große Erfahrung des israelischen Militärs im Umgang mit Tunnelbauten. Keine andere Armee auf der Welt ist so gut auf die besonderen Umstände im Gazastreifen eingestellt wie die Streitkräfte des jüdischen Staates. Sie haben sogar eine eigene Eliteeinheit, die explizit auf Tunnelanlagen spezialisiert ist und weiß, wie man dort eindringt, die Tunnel räumt und zerstört.
"Samur" heißt die Gruppe, die ein Teil des riesigen sogenannten Jahalom-Bataillons ist. Das ist das hebräische Wort für "Wiesel". Die Elitetruppe hat eine besondere Ausrüstung, die bewusst für die Tunnelsuche entwickelt wurde. Boden durchdringendes Radar, Roboter, die Tunnelanlagen mit Sensoren durchkämmen, ohne Risiko für die Infanterie. Darüber hinaus können Spürhunde eingesetzt werden, die explizit für die Arbeit im Untergrund ausgebildet sind.
Das Bataillon hat laut "Economist" in den vergangenen Jahren sogar Kopien von Hamas-Tunneln gebaut, um möglichst detailgetreu zu üben. Die israelische Armee setzt zu Trainingszwecken auch auf Virtual Reality. Mithilfe von Simulatoren sind die Soldaten in den vergangenen Jahren für die unterirdische Kriegsführung trainiert worden.
Jetzt müssen die Elitesoldaten ihre Erfahrung aber in der Realität einbringen. Auf die Tunnelspezialisten kommt die härteste Aufgabe zu, sobald Israel eine Bodenoffensive im Gazastreifen startet. "Die Bewältigung der Herausforderungen, die die Tunnel darstellen, wird viel Zeit in Anspruch nehmen", fasst Spencer zusammen.
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Quelle: ntv.de