
Annalena Baerbock und Robert Habeck bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags am Mittwoch.
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Das Verkehrsministerium nicht bekommen und auch sonst einige Zugeständnisse an FDP und SPD: Der Jubel der Grünen über den Koalitionsvertrag ist zurückhaltend. Dabei hat die Partei für ihr maues Wahlergebnis beachtliche Verhandlungserfolge vorzuweisen - und übernimmt damit bald viel Verantwortung.
Bald vier Monate ist es her, dass die Grünen einen bis dato missglückten Bundestagswahlkampf neu aufs Gleis gestellt haben. Ein Anfang August vorgestelltes Klimaschutzsofortprogramm sollte die Debatte weglenken von Fehlern und Glücklosigkeit der Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hin zu den Inhalten der Partei. Das gelang an jenem Tag zwar nur bedingt, doch von dem Sofortprogramm haben die Parteivorsitzenden Baerbock und Habeck viele Anliegen in den Koalitionsvertrag verhandelt. Angesichts eines für die Grünen enttäuschenden Wahlergebnisses ist das ein beachtlicher Erfolg, auch wenn die Partei bislang eher zurückhaltend jubelt.
Mit dem beschleunigten Kohleausstieg bis 2030 über den CO2-Preis, mit der Einrichtung eines Klimaschutzministeriums und dem "größten Klimaschutzpaket, das es jemals gegeben hat", mit der Ausweisung von zwei Prozent der Landfläche für Windkraftanlagen und der Beschleunigung der Planungsverfahren für Erneuerbare Energien sowie einer Ausrichtung des Dienstwagenprivilegs auf Elektro-Pkw finden sich zahlreiche Aspekte des Klimaschutzsofortprogramms in den Ampel-Plänen wieder. Der Koalitionsvertrag, über den die Grünen-Basis ab heute in einer Urabstimmung entscheidet, bringe Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad, verspricht Habeck.
Nicht durchsetzen konnten die Grünen das im August heiß debattierte Klima-Vetorecht. Stattdessen sollen die Ministerien all ihre Gesetze selbst auf die Vereinbarkeit mit den Pariser Klimazielen abklopfen. Die vielen Ampel-Vorhaben zur Mobilitätswende wird mit Volker Wissing ein FDP-Mann umsetzen und damit ein Vertreter jener Autofahrerpartei, die das von den Grünen geforderte Tempolimit auf Autobahnen verhindert hat. Dass nach den ungeliebten Bundesverkehrsministern der CSU nun ein Liberaler das Ressort übernimmt, enttäuscht nicht nur die Verkehrspolitiker der Grünen.
"Natürlich muss die Bundesregierung auch nachschärfen"
Dennoch zeichnet sich in der Partei überwiegend Zustimmung zum Verhandlungsergebnis ab. Die Klimapolitikerin Lisa Badum sieht den 1,5-Grad-Pfad in Reichweite und lobt die ehrgeizen Ziele beim Ausbau der Erneuerbaren Energien. "Bis 2030 sollen 80 Prozent unseres Stroms erneuerbar erzeugt werden", hält die Bundestagsabgeordnete fest. "Damit können wir mehr als die von der letzten Bundesregierung festgeschriebenen 65 Prozent Emissionsreduktionen bis 2030 erreichen."
Auch Europapolitikerin Franziska Brantner, die als mögliche neue Parteivorsitzende gehandelt wird, sieht bei der Klimapolitik "viel Gutes" im Koalitionsvertrag. Zusätzlich zu den Schritten zur Dekarbonisierung des Landes unterstreicht Brantner Verhandlungserfolge ihrer Partei beim Artenschutz und dem Umbau zur ökologischen Landwirtschaft.
Timon Dzienus, einer der beiden Vorsitzenden der Grünen Jugend, freut sich über den Kohleausstieg 2030 und den Ausbau der Erneuerbaren Energien. "Aber natürlich muss die Bundesregierung auch nachschärfen, wenn sich zeigt, dass die Maßnahmen nicht ausreichen, um die Klimaziele zu erreichen", sagt er. "Der Verkehr hat in den letzten Jahren nicht geliefert und wir haben große Sorge, dass das weiter so sein wird", bemängelt Dzienus viele unkonkrete Formulierungen im Verkehrskapitel des Vertrags. Wie sich die im neuen Bundestag stark vertretene Parteijugend zum Koalitionsvertrag positioniert, wird sich bei deren Länderrat am kommenden Wochenende zeigen.
Erfolge wird die Koalition als ganze für sich verbuchen
Enttäuschungen aus Grünen-Sicht birgt zudem die Sozialpolitik: Ob etwa Bezieher des Bürgergelds, das Hartz IV ersetzen soll, am Ende mehr Geld erhalten, lässt der Vertrag offen. Ebenso verhält es sich bei der Kindergrundsicherung, die alle existierenden Hilfsmöglichkeiten bündeln soll. "Das Kapitel Sozialpolitik ist an vielen Stellen unzureichend", sagt Dzienus. Er kündigt an, gemeinsam mit Verbänden Druck zu machen, damit das Bürgergeld zu einer "würdigen Grundsicherung" werde.
Zufriedenheit herrscht in weiten Teilen der Partei dagegen bei gesellschaftspolitischen Fragen. Sei es die Abschaffung des Verbots für Abtreibungswerbung, die auch Aufklärungsangebote verhindert, die Reform des Staatsbürgerrechts, ein regulärer Aufenthaltsstatus für zwei- bis dreihunderttausend Geduldete, ein Einwanderungsgesetz für Fachkräfte, ein anderer Umgang mit sexuellen Minderheiten, eine liberalere Drogenpolitik: Die Ampel wird viele Herzensthemen der Grünen jenseits von Umwelt und Klima adressieren. Allerdings fallen viele dieser Fragen in die Ressorts von SPD und FDP, die etwa Inneres, Justiz und Gesundheit für sich verbucht haben.
Den Grünen hingegen fallen zwar zwei Ministerien mehr zu als bei ihrer ersten und letzten Regierungsbeteiligung von 1998 bis 2005. Andererseits entfallen mit Habecks Wirtschafts- und Klimaschutzministerium, dem Landwirtschafts- und Ernährungsministerium sowie dem Umweltministerium drei Ressorts auf Klima- und Naturschutzthemen. Die große Befürchtung, dass die Umsetzung der Energiewende innerhalb der Koalition vor allem an den Grünen hängt, ist durchaus realistisch geworden.
Erfolge wird die Koalition als ganze für sich verbuchen. Kommt der Ausbau der Erneuerbaren Energien unter Habeck nicht voran, wird das vor allem an den Grünen haften bleiben. Habeck kommt damit im neuen Kabinett die größte Verantwortung für den Erfolg der Grünen zu, zumal er als Vize-Kanzler eins ihrer prägenden Gesichter sein wird. Die Interessen der Wirtschaft und die Ziele der Energiewende zusammenzubringen, ist eine Herkulesaufgabe.
Vieles ist drin, alles nicht
Baerbock dagegen, die dem Auswärtigen Amt zu alter Größe zurück verhelfen will, fliegt im schlimmsten Fall unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung - so wie ihr Vorgänger Heiko Maas bis zum desaströsen Afghanistan-Abzug. Im günstigsten Fall aber gelingt es ihr, Deutschland auf internationaler und vor allem auf europäischer Ebene wieder zu einem sichtbaren Akteur zu machen - auch abhängig davon, wie viel Platz ein Bundeskanzler Olaf Scholz neben sich für Baerbock einräumen wird. Schon wegen der unterschiedlichen Sichtweise von SPD und Grünen auf die Russlandpolitik wird das Arbeitsverhältnis von Scholz und Baerbock maßgeblich für die außenpolitische Ausrichtung der Bundesrepublik in den kommenden Jahren.
Lautete der Wahlkampfslogan der Grünen im Sommer noch "Alles ist drin", muss der Slogan von Baerbock und Habeck nun lauten "Vieles ist drin", um die Mitglieder von einem Ja zum Koalitionsvertrag zu überzeugen. Deren überragende Zustimmung ist letztlich ohnehin wahrscheinlich. Bei allen Enttäuschungen ist der Ampelvertrag zu grün, um ihn auszuschlagen, und die Vorfreunde auf den Wechsel auf die Regierungsbank zu groß. Das im Januar vor drei Jahren begonnene Projekt von Baerbock und Habeck, die Grünen in die Regierung zu führen, steht damit vor Vollendung. Nur zum Feiern, das machen alle Ampelvertreter deutlich, bleibt angesichts der Corona-Pandemie keine Zeit.
Quelle: ntv.de