Schwerkranker Boris Johnson Der Boss fehlt den Briten in der Krise
07.04.2020, 14:31 Uhr
Am Regierungssitz in London muss die Corona-Krise vorerst ohne Premier Johnson gehandhabt werden.
(Foto: picture alliance/dpa)
Während Großbritanniens schwerster Krise seit dem Zweiten Weltkrieg kämpft Regierungschef Johnson um seine Gesundheit. Sein Fehlen zeigt, wie umfassend der umstrittene Premier zuletzt alles Regierungshandeln auf sich vereint hat.
Die Zahl der verstorbenen Corona-Infizierten schießt in Großbritannien ungebremst in die Höhe. Das Land nähert sich der Marke von 6000 Toten. Und ausgerechnet jetzt kommt dem Land seine wichtigste politische Führungsfigur zumindest vorerst abhanden. Boris Johnson ist einer der weltweit bekanntesten Sars-Cov-2-Infizierten. Der britische Premierminister braucht Sauerstoff, wird auf einer Intensivstation behandelt: So schwer hat die Coronavirus-Krankheit Covid-19 seine Lungen angegriffen.
Das trifft die Briten ins Mark. Die lebensbedrohliche Situation des werdenden Vaters Johnson - seine Verlobte Carrie Symonds ist ungefähr im sechsten Monat schwanger - hat nicht nur eine persönliche, sondern auch eine politische und eine psychologische Dimension.
In vielen Ländern versammeln sich derzeit die Menschen hinter ihrer Regierung. Bürgerinnen und Bürger suchen in der Krise nach Zusammenhalt und Führung. In Deutschland erlebt Kanzlerin Angela Merkel ihren x-ten Umfragen-Frühling. In London aber ist der Chefsessel seit Montag verwaist. Regierungschef Johnson ist schon seit elf Tagen in Quarantäne.
Hat Johnson Covid-19 unterschätzt?
Was die Briten zuletzt an Bildern von Johnsons Amtsführung im Homeoffice zu sehen bekamen, war nicht eben ermutigend: Blass und noch immer fiebernd wandte er sich am Freitag via Smartphone-Video an die Nation, um die Menschen vor dem sonnigen Wochenende aufzufordern, daheimzubleiben. Britische Medien berichteten unter Berufung auf Regierungsmitarbeiter, der Premier habe in den Video-Konferenzen permanent gehustet und ebenfalls keinen guten Eindruck gemacht.
Aus Sicht britischer Kommentatoren wirft Johnsons Umgang mit der eigenen Erkrankung auch die Frage danach auf, ob der Premier und seine Minister Covid-19 erneut falsch eingeschätzt haben. Die Kritiker monieren, es sei gemeinhin bekannt, dass Covid-19-Patienten auch bei relativ leichten Symptomen zumindest ein paar Tage angeschlagen und kraftlos darniederliegen. Der 55-jährige Johnson dachte offenbar dennoch, beides gleichzeitig und mit jeweils halber Kraft zu schaffen: sich auskurieren und das Land durch eine historische Krise führen.
Nun hat er beides nicht mehr in der Hand: Anstatt im Regierungssitz 10 Downing Street zu arbeiten, liegt Johnson im einen Kilometer entfernten St Thomas' Hospital. Immerhin, so heißt es, ist er bei Bewusstsein und nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Doch es mehren sich Zweifel an der aufrichtigen Kommunikation der Regierung: Außenminister Dominic Raab, der Johnson vorerst vertreten soll, beteuerte noch am Montag, sein Chef sei "guter Stimmung". Das widerspricht den Erfahrungsberichten genesener Covid-19-Patienten genauso wie der Tatsache, dass sich Johnsons Zustand noch am selben Nachmittag massiv verschlechterte.
Alles hört auf Boris
Dass aber Johnson unablässig das Steuer in der Hand behielt, anstatt sich für ein paar Tage zur Erholung zurückzuziehen, liegt auch daran, dass Großbritannien nicht von einem Team geführt wird. Ein Vize-Regierungschef ist im britischen System formal nicht vorgesehen. Deswegen musste Johnson Außenminister Raab eigens damit beauftragen, jetzt kurzfristig zu übernehmen - auch wenn Raab als first secretary of state die protokollarische Nummer zwei in der Regierung und damit faktisch Johnsons Stellvertreter ist.
Seit Johnson im Sommer Theresa May als Regierungschef beerbte und wenige Monate später einen deutlichen Wahlsieg einfuhr, hat er die Regierungsmacht auf sein Amt konzentriert. Während die führungsschwache May ihren Ministern notgedrungen Spielraum lassen musste, regiert Johnson mit einem kleinen Zirkel von Vertrauten bis in die Ministerien hinein.
Erst Mitte Februar mussten mehrere Minister sowie Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox ihren Hut nehmen. Der einhellige Eindruck in London: Der Premier trimmt seine Regierungsmannschaft auf Linie. Die nach einer Reihe kleinerer Skandale umstrittene Innenministerin Priti Patel blieb Kabinettsmitglied von Johnson Gnaden - oder auch von Dominic Cummings' Gnaden, dem einflussreichen Berater des Premierministers. Die beiden hatten auch den anerkannten und deshalb relativ unabhängigen Schatzkanzler Sajid Javid weggeschickt. Mit dem 39-jährigen Rishi Sunak übernahm ein Johnson-Getreuer.
Verzögert Corona den Brexit-Plan?
Seine Gegner in Großbritannien und der EU mögen Johnson überaus kritisch betrachten. Sei es wegen seines fragwürdigen Verhältnisses zu Wahrheit und Fakten, seines Umgangs mit den Medien oder seiner in der Vergangenheit oft auf Spaltung angelegten Kampagnen. Unstrittig aber ist: Johnson scheut die Verantwortung nicht. Er ist entschlossen, Großbritannien nach seinem Abschied aus der EU zu neuen Höhen zu führen. Das ganze Kabinett ist daher auf Johnson ausgerichtet.
So trifft das Virus Großbritannien in einer ohnehin schon kritischen Phase: In den vergangenen Monaten hatte Johnsons Regierung die Geldhähne geöffnet und massive Investitionsprogramme angeschoben, um die wirtschaftlichen Einbußen des Brexits abzumildern. Infolge der Pandemie sind noch umfassendere Maßnahmen nötig, um das Wirtschaftsleben aufrechtzuerhalten.
Bislang verhallte die Forderung aus dem europäischen Parlament, London möge sich angesichts der Corona-Krise zu einer Aufschiebung des neuen Handelsvertrags mit der EU über den 31. Dezember 2020 hinaus bereitfinden. "Get Brexit done" ("Brexit umsetzen") war nicht nur Johnsons Wahlkampfslogan, es ist auch Leitmotiv seiner ersten ordentlichen Amtszeit als vom Volk gewählter Premierminister.
Möglich aber, dass Johnsons persönliche Corona-Erfahrung und die noch zu erwartenden globalen Verwerfungen durch das Virus ein Umdenken bewirken. Schließlich ist der Brexit Johnsons wichtigstes politisches Projekt und jedwede Vereinbarung mit der EU wird, das hat schon der Streit um den Brexit-Deal gezeigt, einen genesenen Premierminister im Vollbesitz all seiner Kräfte brauchen.
Quelle: ntv.de