Politik

Panzer und deutsche Führung Der Scholz-Ersatz sieht bei den Deutschen ein "V2-Syndrom"

Wolfgang Schmidt ist Chef des Bundeskanzleramts und einer der engsten Vertrauten von Olaf Scholz.

Wolfgang Schmidt ist Chef des Bundeskanzleramts und einer der engsten Vertrauten von Olaf Scholz.

(Foto: picture alliance/dpa)

Kanzler Scholz lehnt es weiter ab, der Ukraine westliche Panzer zu liefern. Sein Kanzleramtschef sagt, ihm komme die Forderung wie die Hoffnung vor, endlich einen "Zauberstab" zu finden, mit dem man diesen Krieg beenden könne.

Eigentlich hätte Bundeskanzler Olaf Scholz kommen sollen, um mit Anne Applebaum zu diskutieren. Die US-Journalistin ist Expertin für die Länder des ehemaligen Ostblocks, und sie hat eine eindeutige Meinung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine - und zur deutschen Reaktion darauf. "Ich glaube, jeder hätte gern, dass Deutschland eine Führungsrolle übernimmt", sagte sie im September in der Talkshow von Anne Will. "Die Lieferung von Panzern wäre die perfekte Art, die Führungsrolle zu zeigen."

Doch Scholz hatte für das Gespräch auf dem Progressive Governance Summit in Berlin keine Zeit. Als Ersatz schickte er seinen Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt und nahm ein Grußwort auf. Darin bekräftigt Scholz seine Position, der Ukraine so lange Waffen zu liefern, wie nötig sei, "um Russlands abscheuliche Aggression abzuwehren".

So lange wie nötig, aber nicht alles, was nötig ist, stellt Schmidt in der folgenden Diskussion klar. "Wir müssen die Ukraine unterstützen, aber wir haben auch eigene Interessen", sagt er. Forderungen nach "Führung" aus Deutschland blockt Schmidt ab. In seiner Darstellung hat die Bundesrepublik in Europa eher die Rolle eines Moderators und müsse in die Führungsrolle erst hineinwachsen: Hier sei Deutschland noch in den "Teenager-Jahren", in denen man von Hormonen gesteuert werde und gelegentlich auch mal herumschreie. Seinen Chef oder die Ampelkoalition meint Schmidt damit nicht - im Gegenteil: Bei den "Teenagern" denkt er ganz offensichtlich an Scholz-Kritiker, die vom Kanzler fordern, bei den Waffenlieferungen nicht ständig auf der Bremse zu stehen. Also wahrscheinlich an Politikerinnen wie die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann.

"Zauberstab" und "Wunderwaffe"

Applebaum hat eine Erklärung, warum der Westen - nicht nur Deutschland - bei den Waffenlieferungen noch so zögerlich ist. Sie stellt die Frage, ob wir wirklich darauf vorbereitet sind, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. "Wie würde das Europa verändern? Wie würde das Russland verändern, wie unsere Beziehungen zu Russland?" In Washington, Berlin und London gebe es Hemmungen, darüber offen zu sprechen - dabei sei diese Perspektive durch den Erfolg der jüngsten ukrainischen Offensiven sehr real geworden. "Ich hoffe, dass es bei dem Panzerstreit in Wirklichkeit darum geht" - um einen Mangel an Vorstellungskraft, der mit der Zeit verschwindet.

Schmidt wirkt bei dem Thema irgendwas zwischen genervt und gelangweilt. Ihm komme die Forderung nach Panzern mittlerweile vor wie die Hoffnung, endlich einen "Zauberstab" zu finden, mit dem man diesen Krieg beenden könne. Diesen Zauberstab gebe es aber nicht. Manchmal sei er versucht, vom "V2-Syndrom" der Deutschen zu sprechen, sagt Schmidt. "Wir denken, es gebe diese Wunderwaffe, die auf magische Art dafür sorgen kann, dass Dinge verschwinden." (Die "V2" war eine von Nazideutschland entwickelte Rakete, die von der NS-Propaganda als "Wunderwaffe" bezeichnet wurde.) Diese Rolle habe nun der Leopard 2. "Ist das die Waffe, die den Krieg beendet? Das wird sie nicht tun."

Sollte er hier wiederum, zum Beispiel, an Strack-Zimmermann denken, wäre das Bild vom Zauberstab gewagt: Die FDP-Politikerin argumentiert keineswegs, dass der Krieg mit Panzerlieferungen sofort beendet werden könne. Sie bedauert vielmehr, dass es in der Bundesregierung "den einen oder anderen" gebe, "der noch etwas Ladehemmung hat", wie sie gerade sagte.

Platz drei bei Waffenlieferungen?

Ansonsten referiert Schmidt in der Panzerfrage die bekannten Argumente des Bundeskanzlers: Deutschland sei schon, hinter den USA und Großbritannien, der drittgrößte Lieferant von Militärgütern - auch wenn nach Zahlen des Ukraine Support Tracker Polen in absoluten Zahlen mehr liefert und Deutschland im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt auf keinem guten Platz liegt. Niemand sonst liefere Kampfpanzer westlicher Bauart, es gebe logistische Gründe, das Gerät müsse schließlich auch repariert werden können, einige Partner hätten Angst, dass Russland die Panzer in die Finger bekomme. Die Ukraine habe ja auch russische Panzer erbeutet, worüber "unsere Geheimdienste sehr glücklich" seien.

Schließlich vergleicht Schmidt die Lieferung von Panzern mit der Forderung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nach einer Flugverbotszone. Über zwei Monate habe Selenskyj diese Forderung erhoben, betont Schmidt und macht deutlich, wie absurd er das findet. Tatsächlich war die Ablehnung im Westen damals einhellig: Zu groß war die Gefahr, direkt in den Krieg hineingezogen zu werden.

Über die russische Invasion hatte Scholz in dem Video gesagt, Putin und seine Unterstützer würden diese als Teil eines größeren Kreuzzugs sehen, der sich gegen die regelbasierte internationale Ordnung, gegen Freiheit und Fortschritt und letztlich gegen den Westen insgesamt richte. "Er meint uns alle", so Scholz.

"Das ist jetzt wirklich ein Feind"

In der Diskussion mit Applebaum und Schmidt will die Moderatorin, Katharine Viner vom britischen "Guardian", in diesen Worten einen zumindest rhetorischen Wandel beim Bundeskanzler sehen. Schmidt, der betont, er kenne "diesen Typen" - seinen Chef - schon seit fast 25 Jahren, streitet das ab. Scholz habe schon 2016 in einer Rede in Sankt Petersburg "kristallklar" über Russland und Putins Absichten gesprochen. Da gebe es "eine klare Linie und Position". Es ist, wie wenn Scholz über Scholz spricht: Er hat alles immer schon gewusst. Gerade erst hat die "Bild"-Zeitung seinen Satz vom Dienstag skandalisiert, er sei "immer sicher" gewesen, dass Putin Gas als Waffe nutzen würde.

Da stellt sich schon die Frage: Wenn Scholz das gewusst hat, warum hat Deutschland sich dann immer stärker von russischem Gas abhängig gemacht? Applebaum sagt denn auch, sie freue sich immer, wenn führende Politiker aus westlichen Demokratien "zu verstehen beginnen, wie die autokratische Welt uns sieht". Aus ihrer Sicht ist das von der Bundesrepublik über Jahrzehnte verfolgte Konzept "Wandel durch Handel" komplett gescheitert. Es gebe im Westen, vor allem in Deutschland, eine lange Tradition, daran zu glauben, dass Frieden und Wohlstand allein durch Gespräche und Geschäfte erreicht werden könnten. Dabei sei seit 2007 klar, dass "unsere Weltsicht von den Autokraten nicht geteilt wird", sprich: von Russland, zunehmend aber auch von China nicht. Diese Länder sähen den Westen als "eine Art Feind". Sie sagt es nicht so deutlich, aber es ist klar, was sie meint: Der Westen war naiv.

Dieses Urteil gefällt Schmidt nicht - über vergangene Fehler will er lieber nicht sprechen, das könne man später machen, wenn der Krieg vorbei sei. Das Argument der Naivität des Westens kontert er damit, dass die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2014 eindeutig verstanden habe, dass Putins Russland nicht so war, "wie wir gehofft hatten". Auch vielen anderen Deutschen sei nach der Annexion der Krim durch Russland klar geworden, was Putin vorhabe. Die auf der Hand liegende Frage, warum die Bundesregierung, an der damals bekanntlich auch die SPD beteiligt war, trotzdem Nord Stream 2 hat bauen lassen, erklärt Schmidt nicht. Aber er führt aus, was Scholz mit dem Begriff "Zeitenwende" unter anderem bezweckte: Dieses Wort gebe jedem, "auch denen, die vorher andere Gefühle gegenüber Russland hatten, die Möglichkeit, umzudenken und zu verstehen: okay, das ist jetzt wirklich ein Feind".

Quelle: ntv.de

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