Das System Putin ist erschüttert Der Wagner-Aufstand war nur die Generalprobe
02.07.2023, 11:32 Uhr Artikel anhören
Einheimische applaudieren den Wagner-Truppen, als diese Rostow am Don am vergangenen Wochenende wieder verlassen.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Wagner-Chef Prigoschin stellt seine Revolte als "Marsch der Gerechtigkeit" gegen eine unfähige Militärführung dar. Tatsächlich könnte sein versuchter Staatsstreich als Vorlage für einen weiteren, besser durchdachten Putsch dienen.
Das war ein grandioses Spektakel, aufgeboten ausgerechnet vom einstigen Putin-Vertrauten Jewgeni Prigoschin, Gründer einer berüchtigten Trollfabrik und seit 2014 Chef der Privatarmee Wagner. Am 24. Juni übernahmen die Wagner-Söldner kampflos das Kommando des südlichen Militärbezirks in Russland, legten 780 Kilometer fast ungestört in Richtung Moskau zurück und schossen unterwegs sechs Aufklärungshubschrauber und ein Militärflugzeug ab. Kurz vor dem Fluss Oka, 200 Kilometer südlich der russischen Hauptstadt, machten die Wagner-Truppen plötzlich Halt. Ihr Chef beendete den "Marsch der Gerechtigkeit" genauso überraschend, wie er ihn begonnen hatte.
Vor und nach dem langen Wochenende der Sommerwende 2023 liegen Welten. Viele Hintergründe dieses unglaublichen Coups verharren noch im Dunkeln. Etwa, ob Prigoschin auf Eigeninitiative handelte oder Teil eines Verschwörungskreises war. Auf den ersten Blick wirkt es zunächst glaubhaft, dass dies eine persönliche Verzweiflungstat war. Am 1. Juli sollte die Wagner-Gruppe in die reguläre Armee integriert und unter das Kommando von Generalstabschef Waleri Gerassimow gestellt werden. Der Oberbefehlshaber über die russischen Truppen in der Ukraine und Verteidigungsminister Sergei Schoigu waren seit Langem Zielscheibe scharfer Kritik Prigoschins, der die Entlassung der beiden ranghöchsten russischen Militärs forderte. Putin war allerdings nicht bereit, auf die loyalen Untergebenen zu verzichten. Mit dem Verlust seiner Privatarmee drohten dem Wagner-Boss finanzielle Einbußen, Bedeutungslosigkeit, sogar unmittelbare Lebensgefahr, wie einige Quellen nahelegen.
Doch auch die These einer größeren Verschwörung ist nicht ganz abwegig. In der Armee hatte der Wagner-Chef viele Sympathisanten. Der nach der Revolte verschwundene General Sergej Surowikin fungierte als Verbindungsmann, um das operative Vorgehen der Söldner und der Armee an der ukrainischen Front abzustimmen. Gab es einen Verschwörerkreis, so müssen seine Anhänger Prigoschin im entscheidenden Moment die Unterstützung versagt haben. Dies würde erklären, warum er den Feldzug nach Moskau abrupt stoppte. Eine bewaffnete Eskalation, vielleicht blutige Straßenkämpfe in einer Millionenstadt zu riskieren, dazu war Prigoschin offenbar nicht bereit. Wer wann was von den Vorbereitungen für den Aufstand wusste, beschäftigt nun den Inlandsgeheimdienst FSB. Verhaftungen, Gerichtsprozesse, die Suche nach inneren Feinden, Verrätern, ausländischen Agenten, dürften zunehmen.
"Black Swan" Prigoschin
Mit dem Wagner-Aufstand tat sich erstmals seit vielen Jahren die Perspektive eines Machtwechsels in Russland auf. Dass Prigoschin nicht in der Lage war, militärische in politische Macht zu überführen, lag daran, um mit Lenin zu sprechen, dass es noch keine revolutionäre Situation gab. Eine solche Möglichkeit entsteht, so der Anführer der Oktoberrevolution von 1917, wenn die herrschende Klasse nicht mehr in der Lage ist, ihre Macht auszuüben, und es zu einer tiefen Krise des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems kommt, die den Widerstand der Massen anfacht.
So weit ist Russland nicht. Aber für Putin, seinen Clan, den Kreml und die Eliten war Prigoschin in jedem Fall ein "Black Swan", ein schwarzer Schwan: ein unvorhergesehenes Ereignis mit signifikanten Auswirkungen. Zwar wurde der Aufstand abgeblasen, aber die Bedeutung dieser Tat kann man kaum überschätzen. Sie hat verblüffende Schwachstellen im System aufgezeigt, die Nachahmer Prigoschins ermutigen dürften. Man kann sicher sein, dass der nächste Putschversuch nur eine Frage der Zeit ist. Dann wird es auch um politische Ziele gehen.
Dazu gibt es einige Vorzeichen, etwa das Verhalten der Bevölkerung. Bei ihrem Zug Richtung Moskau wurden die Kämpfer nicht etwa aufgehalten, sondern, wie von den Menschen in Rostow am Don, heiter begrüßt, während im Kreml offensichtlich Panik herrschte. Von einem Putin-Personenkult in der Bevölkerung kann keine Rede mehr sein. In Wirklichkeit ist der Graben zwischen der Kremlclique und der russischen Bevölkerung tief. Die jahrelange eingeübte apolitische Haltung äußert sich in der Gleichgültigkeit von Menschen, die sich nicht betroffen fühlen, wenn "die da oben" Machtkämpfe austragen. Dass sich der Präsident am Ende noch auf einen undurchsichtigen Deal mit dem "Vaterlandsverräter" einließ, war für einfache Leute der beste Beweis dafür.
Legitimationskrise und Loyalitätsverluste bei den Eliten
Besonders gesunken ist Putins Ansehen bei den politischen und bürokratischen Eliten, die vom System profitiert haben - durch Zugang zu Privilegien, Ressourcen und Schutz. Noch stehen die Tragepfeiler des Regimes, doch mit schwindender Legitimität schwindet auch die Loyalität gegenüber Putin. Seine Person wird nach und nach desakralisiert. Es ist ein langsamer Prozess des Erwachens, beschleunigt ausgerechnet von Prigoschin, der bislang Putins Mann fürs Grobe war. Das Versagen der politischen Führung, reale und nicht wie bislang gefakte Pläne für extremistische Straftaten aufzudecken oder den Bevölkerungsschutz in einer Krisensituation zu organisieren, war für alle sichtbar.
Der Politologe Wladimir Pastuchow vom University College London sieht darin fatale Folgen für das Regime. Von dieser Erschütterung werde sich das System nicht regenerieren können, sagte er. Alexej Wenediktow, der ehemalige Chefredakteur des verbotenen Radiosenders Echo Moskwy, ist jedoch skeptisch. In der Vergangenheit habe das Regime immer wieder bewiesen, dass es genug Instrumente besitze, sich an der Macht zu halten, und sei es mit Gewalt, erklärte der bekannte Journalist, der immer noch in Moskau lebt und von dort über die Stimmung in Russland berichtet.
Präsidentschaftswahlen 2024 in Russland als kritischer Faktor
Zwei Momente verdienen besondere Beachtung. Erstens Belarus, das gegenwärtig Teile der bis an die Zähne bewaffneten, kampferfahrenen Wagner-Söldner und deren Chef beherbergt - von der Möglichkeit der Stationierung russischer Nuklearwaffen ganz zu schweigen. Dies löst Besorgnis in den Nachbarländern aus. Die Erinnerung an Szenen vor einigen Jahren, als der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko Flüchtlinge an die Grenze bringen ließ, um Druck auf die EU auszuüben, sind in Litauen und Polen noch wach. Mit Wagner in der Nähe steigt die Gefahr gezielter Provokationen an der Ostflanke. Das EU- und NATO-Land Polen hat schon eine Verstärkung an seiner Ostgrenze angekündigt.
Zweitens finden in Russland im nächsten Jahr Präsidentschaftswahlen statt, voraussichtlich am 17. März, also in knapp acht Monaten. Zwar konnte sich Putin bisher auf dem Thron halten, doch das Wohlwollen der Bevölkerung ist ihm heute keinesfalls sicher. Die Ansehensverluste im In- und Ausland sind groß, als Stabilitätsanker taugt er durch den Ukraine-Krieg und Prigoschins Putsch nicht mehr. Zudem scheint es, dass viele Menschen seiner nach 23 Jahren einfach überdrüssig geworden sind.
Ein neuer Staatsstreich könnte nur eine Frage der Zeit sein
Russland stehen turbulente Zeiten bevor, die auch für Europa neue Risiken bergen. Denn mit dem Verlust der Autorität der Kremlkohorte erschöpfen sich die Konsequenzen des jüngsten Militärstreichs keinesfalls. Der Wagner-Marsch ist ein ermutigendes Signal für diejenigen, die mit den gegenwärtigen Verhältnissen unzufrieden sind und Interesse an einem gewaltsamen Machtwechsel in Russland haben.
Prigoschins Aufstand kann sich als Generalprobe für einen weiteren, besser durchdachten und am Ende vielleicht sogar erfolgreichen Putsch erweisen. Welche Zukunftsszenarien sind denkbar? Unzufriedene gibt es genug, darunter inzwischen auch enttäuschte Kriegsrückkehrer. Viele von ihnen sind noch radikaler als Prigoschin und befürworten ein noch brutaleres Vorgehen gegen die Ukraine. Natürlich gibt es auch Gemäßigte, die nicht öffentlich agieren, zudem die oberste Oligarchenliga, die beträchtliche Vermögenseinbußen infolge von Krieg und Sanktionen hinnehmen musste. Sie könnten versucht sein, Putin gegen einen fähigeren Kandidaten auszuwechseln und der Bevölkerung eine andere politische Figur zu präsentieren.
Es scheint eine Frage der Zeit zu sein, bis in Russland ein neuer schwarzer Schwan auftaucht. Dazu braucht es nicht einmal Niederlagen an der ukrainischen Front. Michail Chodorkowski rechnet schon in einem halben oder einem Jahr damit. Die innere Dynamik ist da.
Quelle: ntv.de