
Bundeskanzler Olaf Scholz bei der konstituierenden Sitzung des Bundeskabinetts.
(Foto: picture alliance/dpa)
Angela Merkel ist Geschichte, die neue Koalition stapft schon durch die Mühen der Ebene, noch bevor die Glückwunschsträuße verwelken. Bundeskanzler Olaf Scholz wird jetzt vier Jahre damit zu tun haben, die Fliehkräfte der Ampel im Griff zu halten.
Den Scheinriesen Herrn Tur Tur kennen Sie vielleicht, er ist eine Figur aus "Jim Knopf". Er wirkt gewaltig und riesig, aber wenn man nähertritt, wird er mit jedem Schritt ein bisschen kleiner. Olaf Scholz ist in der Logik des Märchenautors Michael Ende ein Scheinzwerg: Er macht sich kleiner als er ist. So klein, dass manche Journalisten ihn gelegentlich "Olaf" nennen - so, wie dessen Genossen es tun. Doch je näher man kommt, desto mehr erkennt man den Politriesen: Dieser ruhige Hanseat ist ein Machtmensch. Er muss es sein, denn sonst reißt es diese Ampel auseinander, bevor im Frühjahr der erste Schuss deutsches Mineralwasser auf Apérol trifft.
Wenn Körpersprache-Experten davon reden, sich "den Raum zu nehmen", meinen sie ausladende Gesten, das Abladen der Extremitäten auf Möbelstücken oder Mitmenschen. So wie etwa FDP-Krawallero Wolfgang Kubicki. Der hielt beim Familienfoto der Fraktionsführung mit seiner Hand die - ausgerechnet - Gesundheitspolitikerin Christine Aschenberg-Dugnus auf dem Stuhl fest. Damit sie bloß nicht abhebt.
Olaf Scholz würde so eine Männergeste in tausend Jahren nicht einfallen. Seine Hände hält er stets am Körper, manchmal absurd hoch angewinkelt, wie zum Gebet. Seine Unterschrift sieht aus, als wäre jemandem der Kuli auf ein Stück Papier gefallen, ganz klein, bloß keinen Raum nehmen. Scholz Stimme kennt keine Höhen, keine Tiefen, sie monotont auf einem Niveau durch Phrasen, Stanzen und Verwaltungsdeutsch. Keinen Raum einnehmen. Der kleine Scholz. Angeblich.
Merkel mit 5 Zentimeter Aufwuchs
Inzwischen erhebt der in Osnabrück geborene Wahl-Hanseat diese seltsame Zusammengekrümeltheit zum Markenzeichen. Die "nord-ostdeutsche Mentalität" werde weiterhin das Kanzleramt bestimmen, gab der 170 Zentimeter kleine Mann bei der Amtsübergabe kund. Er hatte schon im Wahlkampf die Raute gefaltet - ist er eine Merkel mit Stirnglatze, Testosteronüberschuss und 5 Zentimeter Aufwuchs? "Ich habe ‘ja’ gesagt" twitterte er lakonisch nach seiner Wahl. Als er im Parlament eines der mächtigsten Ämter des Planeten annahm, stand er nicht einmal vom Stuhl auf, so klein war er.
Das ist freilich alles Unsinn, nämlich Show: Scholz ist Machtmensch, er wollte mit 12 Jahren Kanzler werden. Ihm steht ein beispielloser Balance-Akt bevor. Er darf einerseits den Ego-Katapulten Robert Habeck und Christian Lindner nicht die Show stehlen. Er muss sie laufen lassen wie aufgeweckte Hunde - und sie zugleich unter der Kandare halten wie politische Ackergäule. Er versprach seinen Mitstreitern, in der Ampel werde jeder glänzen können - und trotzdem muss er die Richtung vorgeben. Und tatsächlich ist es das, was die Kommunikation der Ampel bisher kennzeichnete: Kontrolle und demonstrierte Lässigkeit.
Daher überrascht es nicht, wie Scholz in letzter Zeit seine Medienauftritte wählte. Endlich äußerte er sich zum Impfen, und zwar bei Bild TV und auf Prosieben bei Joko & Klaas. Nach Amtsantritt gab er das erste Interview der Kindernachrichtensendung "Logo" vom Kika und gleich darauf Welt TV. Bei "Bild" und "Welt" erreicht er Impf-Skeptiker - und zudem breiten die Springermedien seinen Botschaften in den Tagen darauf auch im Print aus. Den Pressesprecher freut das: Einmal ins Studio, drei Tage lang Pressepräsenz.
"Auf den Kanzler kommt es an"
Diese Mehrfachverwertung müssen andere Medien noch üben. Auch Joko und Klaas sind nicht nur TV, ihre Clips haben das Potenzial, "viral zu gehen" - win win für Olaf und sein PR-Team: Präsenz ohne Gefahr. Anders als Angela Merkel ließ es sich der Sozialdemokrat nicht nehmen, für "Ein Herz für Kinder" unter einem gigantischen roten Herz in die deutsche TV-Öffentlichkeit zu spazieren. Wer würde ihm, Olaf Scholz, als Kommunikationsberater zu etwas anderem raten?
Jedenfalls nicht sein Spindoktor, der Ex-Journalist und langjährige SPD-Kommunikator Steffen Hebestreit. Dass "Olaf" und sein Pressesprecher, inzwischen zum Regierungssprecher avanciert, den Begriff message control gut durchdrungen haben, zeigt ein Clip der ARD: Als die Journalisten Scholz zur Rede stellen wollen, geht Hebestreit rabiat dazwischen.
Auf die Frage, wer denn in Sachen Außenpolitik den Hosenanzug anhat - in der GroKo war das Angela Merkel - redet der vermeintlich kleine Olaf nicht lang herum: Er, nur er, wer denn bitte sonst? Die Baerbock etwa, mit ihrem erfrischend klaren Kurs gegenüber Wladimir Putin!? "Auf den Kanzler kommt es an", lautet die Losung. Der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour erinnerte, etwas ungehalten, an die Koch-Kellner-Logik vergangener Koalitionen.
Herumeiern für die Liberalen
Es gewittert also im Ampel-Paradies, schon am ersten Tag. Scholz sitzt auf einer Bombe. Dabei ist doch Frieden verordnet: Keine wechselnden Mehrheiten, Einigkeit im Kabinett, das steht so ausdrücklich im Koalitionsvertrag. So will die Ampel die geräuschlose, disziplinierte Arbeit aus den Verhandlungen fortsetzen. Und es wäre ein Segen, nach dem altbackenen Hauen und (Durch)stechen der vergangenen Legislaturperioden!
Größere Sorgen als die grüne Außenpolitik dürfte Scholz mittelfristig die FDP bereiten. Sie sitzt in der Binnenlogik der Ampel am äußeren Rand: Steuern, Finanzierbarkeit, Klimaschutz, Corona und Freiheit - bei all diesen Kernthemen müssen die Liberalen die Zähne besonders hart zusammenbeißen. Die Außenseiterposition der FDP hat ihr nach dem Kollaps der Jamaika-Alternative einen Machtüberschuss verschafft. Wenn sie die Nase voll hat, ist das ganze schöne Projekt kaputt.
Das ist der Grund, warum die Ampel inhaltlich und personell erstaunlich gelb gefärbt ist. Der Liberale Volker Wissing als Verkehrsminister dürfte vielen Grünen als Fortsetzung des CSU-Politikers Andi Scheuer mit anderen Mitteln gelten. Das ist auch der Grund, warum die Ampel so peinlich um "die epidemische Lage von nationaler Tragweite" herumeierte: Erst wollte sie sie nicht verlängern, dann tat sie es faktisch doch - mit anderen Vokabeln und allerlei Ausflüchten. Alles um der lieben Liberalität Willen. Die FDP hat sich mit dem Ex-Spiegel-Chefredakteur Wolfang Büchner ein eigenes PR-Geschütz und Vize-Regierungssprecher gemietet.
Kann Olaf Scholz Tiktok tanzen?
Die Ampel muss das Volk bei Laune halten, deshalb hat Scholz in den sauren Apfel gebissen - und in diesem Fall führte das Obst nicht dazu, dass der sprichwörtliche Doktor fernblieb, sondern dass er auf dem Stuhl des Gesundheitsministers Platz nahm: Das Volk wollte Karl Lauterbach, es bekam Karl Lauterbach. Auch wenn diese Personalie parteiübergreifend für Unbehagen sorgt - ein Fachmann, der nach eigener Überzeugung entscheidet? Wo soll das hinführen?
Der Scheinzwerg Olaf wird deshalb künftig eine Mischung aus maximaler Präsenz und minimalem Eingriff perfektionieren, alles unter absoluter message control. Sein Sprecher Steffen Hebestreit übernahm am Mittwoch das Bundespresseamt, das PR-Battalion der Bundesregierung mit 400 mal mehr, mal weniger ausgeschlafenen Beamtinnen und Beamten. Er sagte, vielleicht im Scherz: "Dem Kanzler kann ich versprechen, dass er bald Tiktok tanzen kann".
Es würde mich, ehrlich gesagt, nicht sonderlich wundern. Der Machterhalt hat seinen Preis. Je beliebter Scholz ist, desto mehr Einfluss hat er innerhalb der harmoniesüchtigen Ampel, desto stärker hat er ihre Fliehkräfte im Griff.
Dafür kann man sich durchaus auch mal vor einer Kamera zum Obst machen.
Quelle: ntv.de