Lügt sich Moskau Bachmut schön? "Die Gefahr der Einkesselung ist nicht sehr groß"
15.04.2023, 07:46 Uhr Artikel anhören
Obwohl Bachmut zu fast 80 Prozent in russischer Hand liegt, schaffen sie es bislang nicht, die Stadt komplett einzunehmen.
(Foto: REUTERS)
Die Russen erzielen in Bachmut stetig Fortschritte. Doch zu einer Einkesselung, wie der Kreml behauptet hatte, ist es nicht gekommen. Dafür bestehe derzeit auch keine große Gefahr, erklärt Militärexperte Gustav Gressel ntv.de, denn die Kämpfe finden nicht im Umland, sondern im Stadtzentrum von Bachmut statt. Dort gehe die ukrainische Taktik, russische Truppen "auszubluten", noch immer hervorragend auf. Denn für die langsamen Geländegewinne im zähen Ortskampf zahlen die Russen einen hohen Preis.
ntv.de: Am Donnerstag behauptete das russische Verteidigungsministerium, dass ukrainische Streitkräfte in Bachmut eingekesselt wurden. Das hat kurz darauf nicht nur die Ukraine, sondern auch der Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin selbst dementiert. Macht der Kreml absichtlich falsche Angaben, um die Öffentlichkeit zu täuschen?

Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Er ist Experte für Russland und Osteuropa, Militärstrategie und Raketenabwehr.
(Foto: ECRF)
Gustav Gressel: Das ist der typische Informationskrieg. Es gab so etwas vor etwa einem Monat schon mal, als man um die Awdijiwka und Bachmut schon weit größere Fortschritte der Russen berichtet hat, als eigentlich da waren. Es hat einige Tage gedauert, bis durchgesickert ist, dass die Fortschritte viel geringer waren, als der Kreml angegeben hatte. Insofern ist die Aussage nicht verwunderlich. Deshalb muss man Behauptungen, die nur von einer Seite kommen, immer mit sehr großer Vorsicht genießen. Es gab Donnerstag zwar sehr schwere Angriffe in Bachmut, weil die Russen nicht nur Wagner-Söldner, sondern auch reguläre Verbände und Fallschirmjäger eingesetzt haben. Aber eine Einkesselung war wirklich nicht darunter.
In den vergangenen zwei Tagen sollen ukrainische Truppen insbesondere intensiven russischen Artilleriefeuer ausgesetzt worden sein. Davon kursieren auf Twitter auch Videos. Wie lange können ukrainische Soldaten dem standhalten?
Das hängt stark von der taktischen Situation ab. An sich kann man sich innerhalb von Ortschaften recht gut verteidigen, weil die Gebäude Schutz, Deckung und Bewegungsmöglichkeiten bieten. Das Problem auf der ukrainischen Seite ist der Munitionsmangel und das Rationieren von Munition, weil man sie für die Gegenoffensive braucht. Aber bisher hat die Ukraine schon vielen solchen Angriffen standgehalten und zieht sich zurück, wenn die Russen mit starkem Artilleriefeuer vorgehen, damit die Soldaten dort nicht zusammengeschossen werden. Die Fortschritte der russischen Armee sind aber meistens sehr klein, weil sie beim Angriff selber keinen Durchbruch erzielt und die Ukrainer nur 100 bis 200 Meter weiter zurückdrängen.
Die ukrainische Führung hat immer wieder betont, die Stadt zu halten, um die Russen auszubluten. Kann man die Taktik immer noch rechtfertigen, wo die Russen fast 80 Prozent der Stadt eingenommen haben? Oder wäre jetzt eigentlich ein guter Zeitpunkt, um die Truppen aus der Stadt zu holen, solange die Versorgungslinien noch nicht abgeschnitten sind?
Solange die Russen frontal in der Stadt angreifen, macht die Taktik nach wie vor Sinn, weil sie dort günstiges Gelände hat. Die meisten Gebäude sind größer und unterkellert. Die Keller bieten gute Schutzräume, die man sehr gut gegen Artilleriefeuer ausbauen kann. In den Wohnblockanlagen, die im Westteil stehen, kann man sich recht gut als Infanterie bewegen. Deshalb haben es die ukrainischen Verteidiger dort leichter. Das Problem sind die Nachschublinien. Die bestehen aus unbefestigten Straßen. Es gibt nur kleine Straßen, auf denen man rein- und rauskommt. Wie gut die Ukrainer Nachschub hereinbringen und Verwundete herausbekommen, ist schwer einzuschätzen. Aber solange sie das gut bewerkstelligen, macht es aus ukrainischer Sicht taktisch schon Sinn, die Russen in Bachmut zu binden und zu hohen Verlusten zu zwingen.
Trotzdem kann die Ukraine die Stellung ja nicht ewig halten, oder?
Am Ende werden russische Truppen wahrscheinlich Bachmut vollständig erobert haben. Aber die Frage ist, zu welchem Preis? Würden sich die Ukrainer zurückziehen, würden die Russen einfach in der nächsten Stellung angreifen. Ist ja nicht so, als ob es dann das Ende des Krieges wäre.
Setzt man aber nicht leichtfertig das Leben der verbleibenden ukrainischen Kämpfer aufs Spiel, wenn man sie der akuten Gefahr einer Einkesselung aussetzt?
Das ist ja die Sache: Es schaut im Moment nicht danach aus. Die Russen greifen nicht im Umland an, sodass sie die Ukrainer einkesseln könnten, sondern sie greifen im Ortszentrum an. Das ist ja bereits in russischer Hand und jetzt greifen sie von Süden und von Westen her an, um die Ukraine aus dem Stadtkern herauszudrängen. Solange die Russen aber nicht die Verbindungslinien und im Umland angreifen, ist die Gefahr der Einkesselung nicht sehr groß. Für die Ukraine ist das Rückzugsgefecht im Ortskern eine Chance, den Russen ziemlich hohe Verluste zuzufügen - und die sind gerade in den letzten zwei bis drei Wochen erheblich gewesen.
Wie hoch schätzen Sie diese ein?
Allein, was die Russen an Bataillonen dort hinein rotiert haben, haben sie wahrscheinlich Kräfte von zwei bis drei Brigaden verschlissen, die dann wieder abgelöst werden mussten. Dazu kommen die Wagner-Söldner, da rechnet man mit etwa 20.000 Verlusten, die tot oder verwundet sind. Genaue Zahlen gibt es keine, aber man sieht anhand der Truppenrotation, dass es ein verlustreicher Kampf für die Russen ist. Es ist eine der wenigen Angriffsrichtungen, in denen sich die Russen festkrallen. In den anderen Gegenden kommen die Angriffe nur sehr periodisch. Die Ukrainer haben ihrerseits deshalb Angst, die Stellung im Zentrum von Bachmut aufzugeben, weil dann die Russen ihre Offensivtätigkeit generell einstellen könnten und sich auf die Verteidigung gegen die Gegenoffensive vorbereiten würden. Genau das wollen die Ukrainer aber nicht. Sie wollen, dass die Russen weiter angreifen, weiter hohe Verluste machen und ihre Kräfte im Donbass binden, damit sie an anderen Stellen der Front dünner aufgestellt sind.
Seit Wochen wird über eine Einkesselung in Bachmut geredet und so langsam fragt man sich, warum passiert es nicht? Schaffen es die Russen einfach nicht oder wollen sie das gar nicht?
Eigentlich wollten die Russen das schon. Der eigentliche Ursprungsangriff im Februar und März war ja, dass hauptsächlich im Umland von Bachmut angegriffen wird, um die Stadt selber einzukesseln und sich diesen ganzen mühsamen Ortskampf in der Stadt sparen. Warum sie das jetzt nicht weiter probieren, ist ein Rätsel. Seit zwei bis drei Wochen sind die Kämpfe hauptsächlich im Stadtzentrum von Bachmut und nicht mehr stark im Umland, obwohl die Russen gerade im Norden sehr gute Fortschritte gemacht hatten. Es kann natürlich sein, dass ihnen etwas fehlt, zum Beispiel weitreichende Kampfpanzer und Schützenpanzer. Möglich, dass da ein Mangel besteht. Aber es ist schon so, dass man sich fragt, was die Russen jetzt genau für eine Taktik verfolgen. Sie machen zwar Fortschritte, aber eben sehr langsam und mit sehr hohen Verlusten.
Mit Gustav Gressel sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de