
Scholz war schon vor Beginn des Parteitags bester Stimmung. Hier im Gespräch mit Christine Lambrecht und Manuela Schwesig.
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Der SPD-Sonderparteitag zum Koalitionsvertrag wird zur verspäteten Siegesfeier bei der Bundestagswahl. Die Redner können die Bedeutung des Augenblicks nicht hoch genug loben. Die Partei strotzt vor Selbstbewusstsein, braucht für ihre Geschlossenheit aber auch die FDP als Gegenspieler.
Die frühe Entscheidung der SPD, den Sonderparteitag zum Koalitionsvertrag überwiegend digital abzuhalten, war ein weiser Entschluss. Denn wie hätte die Zusammenkunft von mehr als 600 Sozialdemokraten aus dem ganzen Land nicht zum Superspreader-Event werden können? Die Partei erlebt in diesen Wochen einen Rausch, der sich bei einer Präsenzveranstaltung allen Abstandsregeln zum Trotz in Umarmungen und Liebkosungen Bahn gebrochen hätte. 99 Prozent Zustimmung zum Koalitionsvertrag und ein richtiggehend fröhlicher Olaf Scholz sprechen Bände über das Glück des Moments.
"Ich kann mich nicht an eine vergleichbare Situation erinnern", sagt Franziska Giffey, deren Landes-SPD am Sonntag über den Koalitionsvertrag mit Grüne und Linken für die Hauptstadt abstimmen wird, hernach im Sender Phoenix. Ein anderer kann sich erinnern: Olaf Scholz, mit 63 Jahren einer der ältesten Redner an diesem Samstag, war elf Jahre alt, als Willy Brandt die erste sozialdemokratisch geführte Regierung der Bundesrepublik schmiedete. Mit 40 Jahren zog der Rechtsanwalt Scholz erstmals in den Bundestag ein, als die SPD 1998 Helmut Kohl aus dem Amt drängte und die erste rot-grüne Koalition im Bund bildete.
In dieser Reihe, das sagt Scholz gewohnt selbstbewusst, sieht er auch diesen Moment, da er sich aufmacht, die erste Ampelkoalition auf Bundesebene als Kanzler anzuführen. "Ein solcher Aufbruch soll uns wieder gelingen", sagt Scholz im Atrium des Willy-Brandt-Hauses, die überlebensgroße Statue der SPD-Ikone neben der Bühne stehend.
Erinnerung an bittere Momente
Es ist erst vier Monate her, dass die Umfragen zur Bundestagswahl plötzlich das lange Undenkbare ankündigten: die SPD als stärkste Kraft. Wie unnormal aus damaliger Perspektive dieser Sonderparteitag ist, an dem die Partei eine letzte formale Hürde vor der Wahl von Scholz zum Bundeskanzler beiseite räumt, haben die Protagonisten dieser Phoenix-aus-der-Asche-Story nicht vergessen.
Scholz erwähnt das nahe gelegene Bistro, "wo wir uns ganz klandestin und von niemanden bemerkt darauf verständigt haben, dass ich Kanzlerkandidat der SPD werden soll". "Wir", das sind die Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, Generalsekretär Lars Klingbeil und SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. Dass die Runde wochenlang Stillschweigen über die Vereinbarung wahrte, gilt in der parteiinternen Legendenbildung als Grundstein jenes Vertrauens und jener Geschlossenheit, mit der die SPD-Spitze die am Ende doch noch erfolgreiche Wahlkampagne bestritt.
Wie schwierig diese Monate gewesen sein müssen, als sonst niemand im Land an einen SPD-Wahlsieg glaubte, scheint an diesem Samstag nicht nur bei Scholz durch. "Ich erinnere mich noch daran, wie viele Journalisten in Hintergrundgesprächen die Blöcke und Stifte weggelegt haben, wenn ich erzählt habe, dass Olaf Scholz Kanzler wird", sagt Klingbeil, der nächste Woche Walter-Borjans als Parteivorsitzender beerben soll. "Es gab auf diesem Weg eine ganze Reihe von Häme, von Spott, von Besserwisserei", sagt Walter-Borjans.
Die Schwäche der anderen ist kein Thema
Und es stimmt ja auch: Von den Hauptstadtjournalisten hat kaum jemand den SPD-Sieg kommen sehen. Das Vorsitzenden-Duo Esken und Walter-Borjans, ohne bundespolitische Erfahrung und jenseits des damaligen Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert ohne namhafte Verbündete in Berlin, wurde wiederholt für zu leicht befunden. Politische Analysen sagten beständige Konflikte voraus zwischen den drei Linken und den konservativeren Strömungen der Partei, für die Scholz als Überlebender der Schröder-Jahre und langjähriger GroKo-Minister exemplarisch stand. Doch weder stürzten Esken und Walter-Borjans noch verkrachten sie sich öffentlich mit Scholz. Inhaltliche und strategische Konflikte in der Parteiführung schafften es nicht in die Schlagzeilen.
Entsprechend begeistert feiern sich an diesem Samstag die Sozialdemokraten für ihre programmatische Arbeit und personelle Geschlossenheit. Vor dem Hintergrund der Krisenjahre nach 2005, insbesondere unter den Vorsitzenden Sigmar Gabriel, Martin Schulz und Andrea Nahles, wirkt das berechtigt. Dass der Sieg der SPD bei der Bundestagswahl auch der Schwäche ihrer Gegner, krassen Anfängerfehlern der beiden Kanzlerkandidaten sowie dem nachlassenden Enthusiasmus bei Partei und Bevölkerung nach 16 Jahren Unionsregierung geschuldet sind, ist nicht Teil der SPD-Wahlsieg-Analyse.
Kühnert fordert Frohsinn
Im Gegenteil: Saskia Esken übernimmt die von Klingbeil ausgegebene Losung, der Wahlsieg müsse der Auftakt zu einem "sozialdemokratischen Jahrzehnt" sein. "Wir wollen auch, dass das kein singulärer Erfolg für die Partei bleibt", sagt auch Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz und Übergangsvorsitzende nach dem desaströsen Nahles-Abgang. Es klingt ein wenig nach Höhenrausch, zumal sogar die strukturellen Korrektive von der neuen Gestaltungsmacht ergriffen sind: Fünf Juso-Redner melden sich zu Wort, darunter die Vorsitzende Jessica Rosenthal. Sie halten fest, dass beim Thema Grundsicherung und Mieten sozialpolitische SPD-Anliegen an der FDP gescheitert seien, loben aber ebenfalls den Vertrag und empfehlen Zustimmung.
Kevin Kühnert, Rosenthals Vorsitz-Vorgänger und Gegenspieler von Scholz beim Streit um die letzte GroKo und beim Rennen um den SPD-Parteivorsitz 2019, bittet "um Zustimmung zum Koalitionsvertrag und um angemessene Fröhlichkeit an diesem schönen Tag heute". Zuvor hat er schnell noch einen enthusiastischen Tweet über seinen einstigen Nemesis Scholz verfasst. Dass auch er nicht ganz glücklich ist mit dem Koalitionsvertrag, macht Kühnert ebenfalls an den Liberalen fest. Für den SPD-internen Frieden wird ganz entscheidend, wie lange der Partei Christian Lindner als Sündenbock genügt, und wann die ersten Scholz auffordern, sich gegen die als "neoliberal" geschmähte FDP durchzusetzen.
Für den Moment überwiegt aber die Zufriedenheit über die gesellschaftspolitischen, sozialpolitischen und klimapolitischen Vereinbarungen mit FDP und Grünen. Von 634 Stimmberechtigten beteiligen sich 618 an der Abstimmung über den Koalitionsvertrag. 98,8 Prozent von ihnen stimmen mit "Ja". Olaf Scholz kommentiert das mit einem knappen "und jetzt an die Arbeit", wofür ihn die aufgekratzten Anwesenden mit Lachern belohnen. Er dürfte das aber ernst gemeint haben.
Quelle: ntv.de