
Die Ukraine wehrt die Vorstöße der Russen in den meisten Gebieten erfolgreich ab.
(Foto: REUTERS)
Im Kampf um Bachmut laufen ukrainische Streitkräfte Gefahr, von russischen Kräften eingekesselt zu werden. Auch in anderen Städten entlang der Frontlinie werden ukrainische Stellungen teils massiv attackiert. Trotzdem machen die Russen kaum Fortschritte. Dafür gibt es Gründe.
Betrachtet man die Bewegungen entlang der Frontlinie im Osten der Ukraine, fällt Bachmut seit Wochen ins Auge. Die Stadt in der Oblast Donezk mit ursprünglich rund 75.000 Einwohnern ist zum Synonym für die Kriegshölle geworden. Blutige Kämpfe fordern Tausende Tote. Zudem drohen die russischen Streitkräfte ukrainische Soldaten von Norden, Osten und Süden einzukesseln, sodass ihnen nur noch eine Straße Richtung Westen freisteht, um sich zurückzuziehen. Experten kritisieren die Militärführung deshalb und fordern den Rückzug der Ukraine aus Bachmut.
Bachmut ist aber nicht der einzige heftig umkämpfte Ort in der Ukraine. Wirft man einen zweiten Blick auf die Frontlinie, fallen noch andere Abschnitte ins Auge, wo russische Truppen ukrainische Stellungen besonders vehement angreifen. Bewegungen von russischer Seite lassen sich vor allem in den Orten Wuhledar, Marjinka, Awdijiwka und Bilohoriwka beobachten. Doch trotz vieler Angriffe, schaffen die Russen kaum Fortschritte, sagt Militärexperte Gustav Gressel ntv.de. Ein Überblick.
Bachmut
Nach Wochen heftiger Gefechte erzielen die russischen Streitkräfte und Wagner-Einheiten dort kleine, aber stetige Geländegewinne. "Die Russen wittern dort ihre erfolgversprechendste Angriffsrichtung, weil dort die Chance besteht, ukrainische Einheiten vom Nachschub abzuschneiden und einzukesseln", sagt Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR).
Durch den Verlust von ukrainischem Territorium - selbst wenn es nur wenige Kilometer pro Woche sind - seien ihre Stellungen schwächer. Aus militärischer Sicht macht es nur wenig Sinn, die Stadt zu halten. Ein Rückzug auf die guten zweiten Linien nordwestlich von Bachmut wurde aber bislang, auch wegen der starken Symbolkraft, von Präsident Wolodymyr Selenskyj untersagt.
Insgesamt nehmen die russischen Angriffe in den vergangenen Tagen aber ab, schreibt das ISW in seinem neusten Lagebericht. Die Attacken hätten demnach stark nachgelassen. Laut Wagner-Einheiten fehle es an Munition, um die massiven Angriffe weiterzuführen.
Wuhledar
Rund 150 Kilometer südwestlich von Bachmut läuft der Frontabschnitt entlang der Stadt Wuhledar. Nach Einschätzung der US-Denkfabrik ISW von vergangener Woche bereitet sich Russland darauf vor, die militärische Offensive wieder aufzunehmen. Laut Gressel konnten russische Einheiten in den letzten vier Wochen vor allem westlich und östlich der Stadt Erfolge vermelden. Mehreren Experten zufolge sei die Offensive allerdings wieder gestoppt worden.
Zuvor waren sämtliche Offensiven der Russen im Vorfeld der südukrainischen Stadt fehlgeschlagen: Im Februar erlitt eine russische Eliteeinheit mit Marine-Infanteristen erhebliche Verluste, als sie in einer dreiwöchigen Offensive versuchte, das Gebiet um Wuhledar einzunehmen. Seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine vor einem Jahr sei die Truppe dort bereits mindestens siebenmal neu gebildet worden, schreibt das ISW.
Zudem hindern anhaltende Probleme bei der Beschaffung von Nachschub - sowohl bei den Truppen als auch der Munition - die russischen Streitkräfte daran, tatsächlich vorzurücken. Nicht zuletzt, weil die meisten Streitkräfte und Munition in Bachmut gebraucht werden. Genau das ist aus ukrainischer Sicht der militärische Sinn, warum Bachmut nicht aufgegeben werden soll: Die Kämpfe dort binden russische Soldaten, die anderswo fehlen.
Marjinka
Von Bachmut knapp 80 Kilometer an der Front entlang Richtung Südwesten liegt Marjinka. Der einst knapp 10.000 Einwohner zählende Ort befindet sich seit Beginn des russischen Überfalls in Frontnähe. Zwischen Marjinka und der Donbass-Metropole Donezk verläuft die alte Kontaktlinie des Minsker Abkommens zwischen der freien Ukraine und der von Russland beanspruchten "Volksrepublik": Hier verteidigen sich die Ukrainer in gut ausgebauten Stellungen.
Auch dort können russische Truppen bei ihren Angriffen der letzten Wochen keine größeren Fortschritte verbuchen. Überhaupt konnten Russen in dem Gebiet in einem Jahr teils erst 200 Meter vorrücken. Für die verbliebenen Bewohner ist das nur ein schwacher Trost: Der ständige Beschuss hat den einst beschaulichen Vorort Marjinka in eine Trümmerwüste verwandelt.
Awdijiwka
Ähnlich wie in Bachmut könnte der Frontverlauf vor Awdijiwka, nur wenige Kilometer nördlich von Donezk, auf eine Einkesselung ukrainischer Soldaten hindeuten. Mehrere Quellen weisen hier russische Angriffsachsen aus Norden, Osten und Westen der Stadt aus. Dort gelingt den Russen laut Gressel auch tatsächlich ein erster Teilerfolg. Vor wenigen Stunden konnte demnach im Nordwesten von Awdijiwka eine Ortschaft eingenommen werden.
Zu einer Einkesselung komme es deshalb aber nicht. Das sehe auf der Karte gefährlicher aus als es ist, so Gressel. Zum einen kamen die Russen trotz der laufenden Angriffe wochenlang kaum vorwärts. Zum anderen sei der Bogen, um die Stadt einzukesseln, recht weit. "In etwa doppelt so weit wie die Einschließung um Bachmut." Selbst wenn die russischen Truppen dort Glück hätten, wäre der "Kessel" zu groß, um ihn schnell zuzumachen. "So viele Kilometer schaffen die Russen auch bei Durchbrüchen nicht, um die Stadt schnell abzuscheiden", so Gressel.
Bilohoriwka/Lyman
Umfangreichere Gefechte ereignen sich übereinstimmenden Berichten zufolge auch an einem Frontabschnitt rund 50 Kilometer nördlich von Bachmut. Von der Stadt Kreminna in der Region Luhansk aus laufen seit Wochen russische Angriffsoperationen. Mit verschiedenen Vorstößen versuchen Armee-Einheiten dort, über weitgehend offenes Gelände nach Westen in Richtung Lyman vorzustoßen. Bislang konnten die Ukrainer alle Angriffe jedoch noch vor der Siedlung Torske abschlagen.
Intensiv gekämpft wird auch in den ausgedehnten Fichten- und Kiefernwäldern südwestlich von Kreminna. Am südlichen Flussufer halten die Ukrainer dort mit der Ortschaft Bilohoriwka in unmittelbarer Nähe einen ausgesetzten Vorposten im Frontbogen zwischen dem Fluss Siwerskyj Donez und den russischen Positionen vor Lyssytschansk. Allerdings scheint die russische Armee trotz vieler Angriffe in den letzten vier Wochen keine Erfolge zu erzielen.
Russland scheitert an ukrainischer Verteidigung
Für den ausbleibenden Fortschritt der russischen Kräfte sieht Gressel mehrere Gründe. Zum einen liege es an der guten Verteidigung. "Je länger die Ukrainer ein Gelände halten, desto besser ausgebaut sind ihre Stellungen." Gerade in Gebieten, in denen die frühere Frontlinie zu den Separatistengebieten verlief, wie bei Awdijiwka oder Marjinka, sind ukrainische Streitkräfte besonders gut aufgestellt.
Zum Zweiten scheitern die Angriffe laut Gressel an der Zersplitterung der russischen Truppen. "Streitkräfte und vor allem Munition teilen sich auf sieben Richtungen auf." In jede zu wenig, um entscheidende Erfolge zu erzielen. "Hätten sich die Russen auf eine oder zwei Richtungen konzentriert, hätten sie vermutlich schon größere Erfolge erzielt", vermutet der Militärexperte. Denn die Koordination von massiven Angriffen sei schwierig. "Und nachdem schon so viele russische Offiziere gefallen sind, vielleicht zu schwierig", so Gressel.
Die ukrainische Armee müsse versuchen, die russische Armee so weit wie möglich abzunutzen, schlussfolgert Gressel. "Später im Verlauf des Frühjahrs werden sich Lücken ergeben, die man für Gegenangriffe nutzen kann." Bis dahin bleibe den ukrainischen Truppen nichts anderes übrig, als ihre eigenen Kräfte so intakt wie möglich halten. Selbst wenn die Ukraine Bachmut aufgeben muss, könne eine erfolgreiche Gegenoffensive mehr Raum befreien als jetzt durch die Russen erobert werde.
(Dieser Artikel wurde am Donnerstag, 16. März 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de