Markus Reisner im Interview "Russland führt eindeutig Terrorangriffe durch"
09.11.2022, 18:53 Uhr
Einkaufen im Dunkeln: In einem Supermarkt in Charkiw ist der Strom ausgefallen.
(Foto: REUTERS)
Mit den massenhaften Luftschlägen hat Russland derzeit auf strategischer Ebene die Initiative im Krieg. Nicht nur mit Blick auf den Winter ist das gefährlich, sagt der österreichische Militärhistoriker Markus Reisner im Interview. Denn bald schon könnte Russland seine Drohnen selbst fertigen.
ntv.de: Nach mehr als 250 Tagen Krieg - wo steht die Ukraine gerade?
Markus Reisner: Phase 1 dieses Krieges war die überraschende Gegenwehr der Ukraine, mit dem Ergebnis, dass Kiew nicht von den Russen besetzt werden konnte. Russland hat sich dann zurückgezogen, und versucht in Phase 2 im Donbass eine Entscheidung herbeizuführen. Regional begrenzt konnten die Russen tatsächlich Erfolge verbuchen. Die Armee rückte mit massiver Artillerieunterstützung langsam vor, dadurch wurden die ukrainischen Truppen an einigen Stellen abgenutzt. Dann jedoch schaffte es die Ukraine, mit Hilfe schwerer Waffen aus dem Westen eine Gegenoffensive zu starten - Phase 3 und die zweite Überraschung, die viele Beobachter nicht für möglich gehalten hatten.

Oberst Markus Reisner ist Militärhistoriker sowie Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.
(Foto: Screenshot)
Ganz kurz, weil Sie die Waffen aus dem Westen erwähnen: Wäre es ohne HIMARS zum Beispiel gar nicht zur Phase 3 gekommen?
HIMARS, der Mehrfachraketenwerfer aus den USA, war ein Teil davon und hat sehr nachhaltig gewirkt, indem wichtige Munitionsdepots zerstört und so die Logistik der Russen schwer geschädigt wurde. Entscheidend für den Erfolg der Ukraine waren und sind aber auch die nachrichtendienstlichen Informationen der USA. Diese Aufklärung befähigt Kiews Truppen, die Situation der russischen Streitkräfte am Boden zu analysieren und die Räume zu definieren, wo sie am verwundbarsten sind. Charkiw war so eine erkannte Schwachstelle der Russen, wo die Ukrainer dann angegriffen haben.
In Phase 3 befinden wir uns noch immer?
Diese Phase dauert an, und die Frage ist, ob sie vor dem Winter noch mit einem entscheidenden Erfolg für die Ukraine abgeschlossen werden kann.
Wie und wo könnten sie den erreichen?
Ein entscheidender Erfolg wäre es in Cherson, die Russen vom West- und Nordufer des Dnipro über den Fluss auf die andere Seite, das Ostufer, zurückzudrängen. Dafür müssten sie den Raum um die Stadt Cherson einnehmen. Dort erleben wir gerade die ukrainischen Versuche, nachhaltig anzugreifen und den Teilrückzug russischer Elemente auf das andere Ufer, wo durch sie Stellungen vorbereitet werden. Dazu entwickelt sich das Wetter ungünstig, die Schlammperiode beginnt. Bis die Böden einfrieren, wird es darum wohl zu einer Art Patt-Situation kommen. Neben diesem Patt auf der operativen Ebene gibt es aber noch die strategische Ebene, und dort hat Russland wieder die Initiative ergriffen.
Sie meinen die massiven Angriffe aus der Luft.
Seit Mitte Oktober greifen sie Ziele in der Ukraine Welle für Welle mit ballistischen Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen an. Präsident Selenskyj hat dazu drastische Zahlen genannt: 40 Prozent der kritischen Infrastruktur wurden bereits getroffen.
Wie gefährlich ist das für den Winter?
In der Ukraine gibt es das 750 kvA-Netz, das den Strom von den Atomkraftwerken zu den Umspannwerken leitet. Die Umspannwerke transferieren die Leistung herunter auf 330 kvA und schicken den Strom weiter in Richtung der großen Städte. Dort wird nochmals transferiert auf die Leitungen, die zu den Haushalten gehen.
Wie gehen die Russen vor - zerschießen sie Leitungen oder zielen sie auf die Umspannwerke?
Es gibt von den Russen gezielt zerstörte Hochspannungsleitungen wie zum Beispiel bei Cherson. Aber häufiger und entscheidender sind die Angriffe auf die wichtigen Umspannwerke und Transformatoren. Es gibt über 23.300 Kilometer Leitungen und circa 140 große Transformatoren im Land. Diese Transformatoren sind sehr große Geräte, einmal getroffen lassen sie sich kaum ersetzen. Sie zu reparieren, ist enorm aufwändig.
Gelingt es denn trotzdem?
Die ukrainischen Versorger versuchen derzeit meistens, den Strom an Schadstellen vorbei umzuleiten, also über andere Leitungen zu schicken. Wenn die Leitungen jedoch zunehmend überlastet sind, die wichtige Basisnetzfrequenz immer instabiler wird, droht der Blackout. Schon jetzt zeigen Satellitenbilder der Ukraine, wie häufig dort der Strom ausfällt und es einfach dunkel ist.
Vor einem Blackout warnt auch Kiews Bürgermeister Wladimir Klitschko.
Ziel der Russen ist, die Bevölkerung zum einen in die Flucht nach Europa zu treiben, und zum anderen gegen die Regierung aufzuwiegeln. Mit dem Vorwurf, sie tue nicht genug, um die Versorgung der Menschen sicherzustellen.
Zeigt diese Strategie bereits Wirkung?
Im Gegenteil. Unter den immer schwierigeren Bedingungen steht die Bevölkerung, so scheint es zumindest, noch enger zusammen. Ein solches Kalkül gab es auch seitens der Alliierten im Zweiten Weltkrieg, zum Beispiel gezielte britische Luftschläge auf die Zivilbevölkerung, das sogenannte "moral bombing", um die Moral der Deutschen zu zerstören. Spätere Studien haben gezeigt, dass es die Menschen noch verbissener gemacht hat.
Hat die Ukraine auch eine Chance, die Angriffe auf das Versorgungsnetz besser abzuwehren?
Dazu müsste die Ukraine in die Lage kommen, die Tiefe, also den rückwärtigen Raum ihres riesigen Landes, mit Fliegerabwehrsystemen zu schützen. Solche Systeme hat die Militärführung im Sommer an vielen Stellen aus den Städten abgezogen, um damit ihre für die Offensiven bereitgestellten Kräfte gegen russische Raketen zu verteidigen. Das war sinnvoll, aber dadurch sind die Städte nun gegenüber solchen Angriffen auf die Versorgung teilweise schutzlos.
Ein Fliegerabwehrsystem Iris-T-SLM hat Deutschland bereits geliefert, weitere sollen bald folgen. Reicht das, was der Westen an Hilfe plant?
Wenn man die Ukraine in die Lage versetzen möchte, sich nachhaltig gegen solche Angriffe zu schützen, müssen Fliegerabwehrsysteme schneller geliefert werden, und die Ukraine braucht auch mehr davon. Das Problem dabei: In Europa sind kaum derartige Systeme vorhanden, und die Fertigung braucht Zeit. Wir erleben gerade einen Wettlauf: Die Russen bekommen immer mehr Drohnen und Raketen aus dem Iran, während Europa und die USA versuchen, die Ukraine mit den nötigen Abwehrsystemen auszustatten.
Es gibt die Befürchtung, Russland könnte solche Drohnen bald selbst produzieren.
Damit ist zu rechnen, ja, denn die Herstellung ist nicht schwierig. Es ist eine Frage der Zeit, ab wann Russland es schaffen wird, die ukrainische Abwehr qua Masse zu überfordern. Denn leider ist das bestehende ukrainische Abwehrsystem nicht so entwickelt wie zum Beispiel in Israel, wo neben dem wichtigen Iron Dome noch weitere Systeme das gesamte Spektrum abdecken.
Was macht den Unterschied aus?
Wenn die Hamas 300 Raketen gebündelt aus dem Gaza-Streifen abschießt, um das Abwehrsystem zu überfordern, dann erkennt der Iron Dome die 30 Raketen, die aufgrund ihrer Flugbahn in bebautes Gebiet einschlagen würden. Auf die fokussiert er, den Rest lässt er durch.
Iris-T kann das nicht?
Das Iris-T-SLM-Fliegerabwehrsystem kann Raketen und Drohnen früh als Ziel erkennen und rechtzeitig angreifen. Aber es unterscheidet nicht zwischen gefährlichen und ungefährlichen Raketen.
Wenn es auch in Zukunft kaum Schutz gegen russische Luftschläge gibt, wird Putin sein Ziel erreichen, die Menschen in die Flucht zu treiben?
Selenskyj hat diejenigen, die schon im Ausland sind, aufgefordert, dort zu bleiben, um die Versorgung nicht weiter zu belasten. Außerdem ist damit zu rechnen, dass Landbewohner in die Städte flüchten werden, Kiew etwa hat 1000 Wärmestuben eingerichtet. Letztlich werden die Menschen versuchen, dorthin zu fliehen, wo es warm ist. Einfach, weil sie überleben müssen. Wenn das im eigenen Land nicht mehr möglich ist, gerade mit Kindern, werden sie das Land verlassen. Darum ist es wichtig zu verstehen, dass die Unterstützung der Ukraine notwendig ist, um eine noch größere humanitäre Katastrophe zu verhindern. Es ist eindeutig Russland, das hier Terrorangriffe durchführt, nicht die Ukraine.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
+++ Das Interview wurde vor der russischen Ankündigung des Rückzugs aus Cherson geführt +++
Quelle: ntv.de