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Historiker Kowalczuk ist wütend Dirk Oschmanns "Osten"-Bestseller wird zu Kreml-Propaganda

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Seine Wut-Analyse verkaufte sich hunderttausendfach: Dirk Oschmann.

Seine Wut-Analyse verkaufte sich hunderttausendfach: Dirk Oschmann.

(Foto: picture alliance/dpa)

Der Bestseller von Dirk Oschmann über Ostdeutschland wird auch in Russland verlegt. Einige Teile werden jedoch geändert und in die Erzählung des Kremls eingepasst. Für Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk mehr als ein Affront: Verlag und Autor verrieten Meinungsfreiheit und Menschenrechte.

Russland führt seit über zweieinhalb Jahren einen von imperialen Gelüsten getriebenen Angriffskrieg in der Ukraine. Bei der Analyse verweisen Experten jedoch immer wieder darauf, dass der Kreml sich nicht nur kriegerischer Mittel in seinem Kampf gegen den gesamten Westen bediene. "Hybride Kriegsführung" ist das Zauberwort. Die beinhaltet neben Spionage und Sabotage auch das Streuen von Falsch- und Desinformation. Das Ziel dabei ist der Transport russischer Narrative, also Sichtweisen oder Erzählungen, in die westliche Welt. Das bekommen nun auch ein deutscher Verlag und der Erfolgsautor Dirk Oschmann zu spüren.

Der Literaturprofessor Oschmann, gebürtiger Gothaer, hat mit seinem Buch "Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung" hohe Wellen geschlagen. Es landete auf dem Spitzenplatz der "Spiegel"-Bestsellerliste, verkaufte sich allein bis Ende 2023 laut Angaben des Ullstein-Verlags 174.000 Mal. Es erscheint mittlerweile in der 16. Auflage. Die Kritiken waren nicht nur im Osten positiv. Oschmann sprach mit seiner wütend vorgetragenen Analyse der Wiedervereinigung und der folgenden Jahre offenbar vielen Menschen aus der Seele. Nun gibt es erneut große Aufregung um das Buch, und die hat mit seiner Übersetzung ins Russische zu tun.

Ostdeutsche werden zu "Orks"

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Denn dort wurde der allgemeine Tenor der Oschmann'schen Kritik, der Westen sei an allen Fehlentwicklungen in Ostdeutschland schuld, nur zu gern aufgenommen. Darauf hingewiesen hat der ebenfalls in Ostdeutschland geborene Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Auf X echauffierte er sich massiv über Oschmann und den Ullstein-Verlag. Der Grund ist die russische Übersetzung, und die beginnt bereits mit dem Titel. Beim staatlichen Kolibri-Verlag heißt das Buch nämlich: "'Orks' aus dem Osten. Wie der Westen das Bild des Ostens prägt. Das deutsche Szenario."

Der Begriff "Orks" ist zunächst durch die Fantasy-Reihe "Der Herr der Ringe" des britischen Autors J.R.R. Tolkien weltweit berühmt geworden. Dort sind es geknechtete, einst menschenähnliche Wesen, die letztlich bewusst gezüchtet werden, um marodierend durch die Welt von Mittelerde zu ziehen. In der Gegenwart wird der Begriff jedoch auch verwendet - von Ukrainern. Sie bezeichnen damit russische Soldaten und Söldner, die in das Land einfallen. Für Kowalczuk ist das ein Verrat, wie er auf X schreibt. Ostdeutsche würden so gewissermaßen zwangssolidarisch gemacht, in die gleiche "Opfer"-Kategorie wie die Russen gezwängt, schreibt die "Leipziger Volkszeitung". Die teils spezifische Kritik Oschmanns wird zur Generalkritik "des Ostens" am "kollektiven Westen" übersteigert - und damit perfekt in das Kreml-Narrativ eingefügt.

Begriff "Krieg" verschwindet

Aber nicht nur mit dem Titel hat Kowalczuk Probleme. So schreibt Oschmann etwa: "Vor knapp zwanzig Jahren konnte man das noch denken und schreiben. Putins Krieg hat auch das zerstört." Daraus wird in der russischen Übersetzung: "Vor zwanzig Jahren war es noch möglich, auf diese Weise zu schreiben und zu denken. Der Februar 2022 hat auch das ruiniert." Von Krieg ist keine Rede mehr. Der Kreml hat seine Invasion in der Ukraine von Beginn an als "militärische Spezialoperation" verbrämt. Die Verwendung des Begriffs Krieg wurde in Russland gar unter Strafe gestellt. Auch in der Oschmann-Übersetzung soll er offenbar nicht auftauchen. Das zeigt sich auch am Halbsatz: "... Konflikt zwischen Russland und der Ukraine". Der Satz heißt bei Oschmann ursprünglich: "Wie wir inzwischen ... sehen müssen, ist es nicht die Pandemie, die unser Leben komplett verändert, sondern Putins Krieg gegen die Ukraine."

Dies lässt Kowalczuk schäumen. Er wirft Oschmann und dem Ullstein-Verlag vor, "völlig inakzeptable Zensureingriffe hingenommen" zu haben. Wer sich der Sprachpolitik des Kreml unterwerfe, verrate Grundprinzipien der Meinungsfreiheit und der Menschenrechte, so der Historiker. "In diesem Fall macht man sich auch zum Komplizen russischer Geschichtspolitik, russischer Tagespolitik und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine."

Der Autor selbst ist ebenfalls ungehalten über diese Form des Geschichtsrevisionismus. Oschmann sagt der "Sächsischen Zeitung": "Ich finde es sehr bedauerlich, wenn der Sinn meines Buches derart entstellt worden wäre." Und weiter: "Ich bin davon ausgegangen, dass ich meinem Verlag vertrauen kann. Meine Russischkenntnisse sind nur rudimentär." Daher habe er es schon sprachlich nicht leisten können, die Übersetzung "Satz für Satz" zu kontrollieren.

Wut über faule Ausreden

Diese Entschuldigung lässt Kowalczuk allerdings nicht gelten. "Das Buch ist seit einigen Monaten auf dem Markt. Natürlich hätten Verlag und Oschmann sehen müssen, dass bereits der Titel drastisch verändert worden ist." Und er verweist darauf, dass Oschmann die russische Übersetzung in der Bibliografie auf seiner Website aufführte. Zumindest bis zum Dienstag. Dann, so Kowalczuk am Abend, verschwand sie plötzlich - offenbar ohne Kommentar.

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Den gibt es mittlerweile aber auch vom Ullstein-Verlag zur Causa. Weder der Verlag noch Oschmann hätten dem russischen Vertragspartner gegenüber irgendwelchen Änderungen am Text zugestimmt. Von der Gegenseite seien auch keine Änderungen vorgeschlagen worden, heißt es. "Da die vertragliche Verpflichtung missachtet wurde, wird die Lizenz mit Azbooka-Atticus gekündigt und der weitere Vertrieb der russischen Ausgabe untersagt", so Ullstein laut "Leipziger Volkszeitung". Wütend über diese vermeintlich bequeme Antwort ist Autorin Anne Rabe. Auf X schreibt sie: "Die Ausrede des Autors und des Verlags, man hätte keiner (sic!) Änderungswünsche erhalten und könne ja kein Russisch, sind faul."

Die "Leipziger Volkszeitung" verweist in diesem Zusammenhang auf einen ähnlich brisanten Fall, der erst wenige Monate zurückliegt: den US-Bestseller "Hillbilly Elegy" von J.D. Vance. Der hatte sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet und ist nunmehr Vize-Präsidentschaftskandidat des Republikaners Donald Trump. Viele Aussagen, nicht nur im Wahlkampf, rücken seinen Bestseller mittlerweile in ein anderes Licht. Aus diesem Grund und weil er heute "eine aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik" vertrete, verlängerte der Ullstein-Verlag den Lizenz-Vertrag über den autobiografischen Roman nicht. Das geschah seinerzeit offenbar aus eigenem Antrieb und nicht erst auf Kritik hin. Im Falle Oschmann stellt sich das offenbar anders dar.

Quelle: ntv.de

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