Politik

DDR-Historiker im Interview "Die Russlandnähe der Ostdeutschen ist Kokolores"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Teilnehmer einer AfD-Demonstration mit den Flaggen der DDR und der Russischen Föderation. (Archivbild)

Teilnehmer einer AfD-Demonstration mit den Flaggen der DDR und der Russischen Föderation. (Archivbild)

(Foto: picture alliance/dpa)

"Zwei Drittel der Ostdeutschen haben ein Problem mit Demokratie und Freiheit", sagt Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch mit ntv.de. Diese Ablehnung mache vielen Ostdeutschen Russland und Wladimir Putin sympathisch, nicht die eigene Erfahrung mit der Sowjetunion. "Nichts war in der DDR so verhasst wie alles, was sowjetisch oder russisch aussah", sagt der Historiker. In seinem Buch "Freiheitsschock" sucht Kowalczuk Erklärungen für die politische Stimmung im Osten - und räumt darin unter anderem auf mit dem "Märchen", dass im Osten Deutschlands ein "besonders revolutionäres Völkchen" lebe.

ntv.de: Sie schreiben in Ihrem am Mittwoch erschienenen Buch "Freiheitsschock" über 'die Ostdeutschen' und ihr Verhältnis zur Demokratie. Wie kann man über rund 13 Millionen Menschen sprechen, ohne unzulässig zu pauschalisieren?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Wenn wir über Gesellschaftsgruppen sprechen, bleibt uns nichts anderes übrig, als verschiedene Personengruppen begrifflich zusammenzufassen. Das wird immer ein bisschen unscharf. Unzulässig wäre aber, zu sagen, 'die Ostdeutschen' seien so und so. Man kann und muss auch bei der Beschreibung großer Gruppen differenzieren.

In den drei Ost-Landtagswahlkämpfen ist der Ukraine-Krieg das dominierende Thema. Rund jeder zweite Befragte will mit AfD oder BSW eine Partei wählen, die die militärische Unterstützung der Ukraine ablehnt. Blicken diese Ostdeutschen anders auf Russland?

Die unterstellte Russlandnähe der Ostdeutschen ist Kokolores. Die meisten DDR-Bürger haben sich nie für Russland interessiert - trotz der aufgezwungenen Nähe zur Sowjetunion, dem Russischunterricht und den staatlich organisierten Kulturveranstaltungen. Nichts war in der DDR so verhasst wie alles, was sowjetisch oder russisch aussah. Das hatte eine lange Tradition. Die antislawischen Ressentiments gab es ja schon vor 1933 und wurden danach von den Nazis extrem befördert.

Zur Person
476311402.jpg

(Foto: picture alliance/dpa)

Ilko-Sascha Kowalczuk ist Historiker und Publizist. Der 57 Jahre alte Ost-Berliner gilt als einer der renommiertesten deutschen Experten für die Geschichte der DDR und des Kommunismus. Im vergangenen Jahr erschien Kowalczuks zweiteilige Biografie über Walter Ulbricht.

Rührt daher auch eine gewisse Empathielosigkeit für das Schicksal der Ukrainer? Man hört von Ostdeutschen oft: "Was geht uns das an?"

Für die meisten Menschen in der DDR waren Ukrainer, Weißrussen, Russen, Balten alles eine Soße. Das waren alles Russen. Die wurden so genannt und die wurden alle gleichermaßen abgelehnt. Das hat sich erst mit Michail Gorbatschow verändert. Dessen Reformpolitik hat die Hoffnungen vieler DDR-Bürger auf Veränderungen entflammt. Die Revolution wurde nur möglich, weil er die Panzer in den Kasernen gelassen hat. Dass er gegen die eigenen Leute sehr wohl Gewalt angewendet und viele Menschenleben auf dem Gewissen hat, wurde in der ganzen Gorbi-Manie meist übersehen. Aber mit fremden Leben gehen wir Deutschen in der Regel sehr großzügig um.

Woher rührt dann diese vermeintliche Russland- und Putinaffinität, die wir heute im Osten beobachten?

Die meisten Menschen in den Ostbundesländern interessieren sich weder für Russland noch für die Ukraine. Diese Sympathie für Putin und Russland speist sich aus zwei Quellen: Erstens lehnen immer mehr Menschen das westliche liberale Staatssystem ab. Da macht man sich dessen Feinde zum Freund. Zweitens steht Putin für ein autoritäres Staatssystem, das auch AfD und BSW anstreben. Im Osten gab es immer eine große Neigung zu autoritären Staatsvorstellungen. Das schwankt zwar je nach Jahr und Umfrage, aber man kann davon ausgehen, dass das auf zwei Drittel der Menschen im Osten zutrifft.

Das ist ja eine zentrale These Ihres neuen Buches: Viele Ostdeutsche seien nie wirklich in der Demokratie angekommen. Womit begründen Sie das?

Die Ostdeutschen sind 1989/1990 von einer Minderheit aus einer Diktatur befreit worden, die sie mehrheitlich gar nicht mehr als Diktatur wahrgenommen haben. Die Dynamik hat eine sehr kleine Gruppe von Bürgerrechtlern losgetreten. Dann waren vielleicht 300.000 bis 400.000 Menschen auf der Straße. Und ein paar Hunderttausend sind abgehauen - die waren wichtig für die Revolutionsdynamik. Der Rest hat hinter den heimischen Gardinen geschaut, wohin sich der Wind dreht, abgewartet und sich hinter den Siegern eingereiht. Das ist auch völlig normal, das muss man niemandem vorwerfen.

Und was folgte daraus?

Freiheit und Demokratie sind von einer Mehrheit nicht als inneres Bedürfnis angesehen worden. Die Mehrheit wollte Mercedes statt Trabant fahren. Das hatte mit dem Staatssystem erstmal wenig zu tun. Und dieses Fremdeln mit Freiheit und Demokratie ist dann in den Transformationsjahren auch noch befördert worden. Helmut Kohls Versprechen von den "blühenden Landschaften" hat Demokratie mit Wohlstand gleichgesetzt, obwohl das per se nichts miteinander zu tun hat. Das war die Erfahrung der Westdeutschen zur Zeit des Wirtschaftswunders. Die Ostdeutschen dagegen haben ihre Befreiung vor allem als einen Fall in große persönliche Unsicherheit erlebt. Dabei sind sie ja weich gefallen, gerade im Vergleich zu den Menschen in den osteuropäischen Ländern.

Das sehen viele anders: Der Rückstand bei Einkommen und Wohlstand auf den Westen der Republik gilt allerorten als Haupterklärung für den Frust im Osten.

Die Transformationsprobleme gibt es. Dennoch sagen seit 20 Jahren rund 80 Prozent der Ostdeutschen: "Mir persönlich geht es gut." Fragt man dann, wie es Ostdeutschland geht, heißt es: "total schlecht". Da ist ein Widerspruch zwischen Wahrnehmung und Realität. Ich teile diese 'Haupterklärung' nicht.

Gab es Versäumnisse in den 90er-Jahren, das neue Staatssystem zu vermitteln?

Die politische Bildung nach der Wiedervereinigung war ein Problem und ist es teilweise noch immer. Hinzu kommt: Helmut Kohl oder auch Ministerpräsidenten wie Kurt Biedenkopf in Sachsen, Bernhard Vogel in Thüringen und Manfred Stolpe in Brandenburg haben das vorhandene paternalistische Staatsverständnis zementiert. Die haben - sicher nicht in böser Absicht - gesagt: "Vertraut mir. Lasst mich mal machen." Das war rückblickend fatal.

Weil?

Ich gehe davon aus, dass zwei Drittel der Ostdeutschen ein Problem mit Demokratie und Freiheit haben. Nicht mit den Begriffen, sondern mit den Konsequenzen. Das sehen wir an der niedrigen Beteiligung an demokratischen Aushandlungsprozessen. Viele Menschen im Osten haben bis heute nicht begriffen, dass wir in einer Kompromissgesellschaft leben, nicht in einer Konsensgesellschaft.

ANZEIGE
Freiheitsschock: Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute
157
22,00 €
Zum Angebot bei amazon.de

Ist es nicht verständlich, dass die meisten Menschen nach Jahren der allgegenwärtigen SED vor allem in Ruhe gelassen werden wollten?

Tatsächlich haben viele nach der Wende über Politik gesagt: "Die haben mich in der DDR alle so verarscht, ich mach jetzt gar nichts mehr." Was haben die denn vorher gemacht? Nichts, die sind mitgelaufen! Vor allem aber waren die Menschen nach 1990 erstmal mit sich selbst beschäftigt; damit, beruflich irgendwie anzukommen. Das war eine große Überforderung. 80 Prozent der Arbeitnehmer im Osten haben 1994 in einer anderen Institution als noch 1989 gearbeitet. Was sich in vielen Familien abgespielt hat, war dramatisch.

Freiheit als Verlusterfahrung?

Für viele, und zwar nicht nur ökonomisch. Das Leben in einer Diktatur gibt den Menschen ein klares Geländer. Es gibt vorgegebene Regeln, die man von klein auf beigebracht bekommt. In Demokratie und Freiheit dagegen muss man ständig Entscheidungen treffen und sich in die eigenen Angelegenheiten einmischen. Die SED hat immer gegen eine Mehrheit im Land regiert. Die DDR-Führung hat schon 1953 geschätzt, dass sie sich nur auf 200.000 bis 300.000 Menschen wirklich verlassen könne. Das war auch exakt die Zahl an Menschen, die in der Partei geblieben sind, als sich die SED zur PDS umwandelte. Das heißt: Der allergrößte Teil der Menschen hat einfach nur mitgespielt.

Gibt es eine Sehnsucht nach dieser Übersichtlichkeit des Lebens von gestern, die die politische Stimmung im Osten prägt?

Zumindest wird das Leben in der DDR mit wachsendem Abstand immer mehr verherrlicht. Dabei will ja niemand die DDR selbst zurück. Was aber auch daran liegt, dass die Leute schon vor der Revolution die Diktatur nicht als solche wahrgenommen haben und rückblickend erst recht nicht. Wie oft wurde mir als Historiker entgegengehalten: 'Aber mir hat die Stasi doch nichts getan!' Dann frage ich, ob die Menschen am Telefon oder in der Schule immer zu allem ihre Meinung gesagt hätten. Das haben sie nämlich nicht, sondern sich so verhalten, wie es erwünscht war.

Das erklärt aber nicht die DDR-Verklärung der nach 1980 Geborenen im Osten.

Der heimische Abendbrottisch bleibt die wichtigste Sozialisationsinstanz. Eltern und Großeltern prägen die Werte durch ihre Erzählungen - und durch ihr Schweigen. Das gilt erst recht dort, wo die Menschen nie weg waren aus ihrer Geburtsregion. Die Menschen im Osten wurden über Jahrzehnte einer ideologischen Dauerbeschallung unterzogen. Es braucht als Individuum sehr viel Reflexion, das zu überwinden, das abzulegen, sich das überhaupt auch erst bewusst zu machen.

Das passt alles so gar nicht zur offenbar sehr erfolgreichen AfD-Wahlkampfparole, man müsse die Wende vollenden.

In jeder Sonntagsrede ist den Ostdeutschen seit Jahrzehnten eingeredet worden, sie seien ein besonders revolutionäres Völkchen. Diesen Schmarren hat vom Dorfbürgermeister über die Bundeskanzler bis zu den Bundespräsidenten kein Politiker in den Sonntagsreden ausgelassen. An diese Märchenerzählung knüpft die AfD erfolgreich an. Ihre Behauptung, die Revolution von 1989 sei auf halber Strecke stehengeblieben, stimmt aber nicht. Freiheit und Demokratie wurden von der friedlichen Revolution erreicht.

Sie sagten, auch das Bündnis Sahra Wagenknecht bediene die ostdeutsche Sehnsucht nach einem autoritären Staatssystem. Woran machen Sie das fest?

Die nach ihr benannte Partei ist eine Führerpartei. Wie bei den Berufsrevolutionären um Lenin ist das BSW hierarchisch organisiert, eine Kaderpartei mit ganz kleinem Führungszirkel. Mitmachen darf, wer sich dieser Führung unterwirft. Wagenknecht steht für eine Diktatur der Mehrheit. Das macht den autoritären Staat aus, während sich die liberale Demokratie für Minderheitsinteressen stark macht, was weder AfD noch BSW wollen.

Beide Parteien kennzeichnet auch eine explizite Ablehnung von USA und NATO. Bis zur Wende gab es doch für viele Ostdeutsche kaum eine größere Sehnsucht als Zugang zur US-amerikanisch geprägten Pop- und Konsumkultur. Woher nun diese Ablehnung?

Diese Verklärung und Verherrlichung des Westens, als er noch unerreichbar schien, hat sich nach der Wende ins Gegenteil verkehrt. Viele Menschen fühlten sich in den 90er-Jahren getäuscht vom Westen. Und für die NATO-Mitgliedschaft oder den militärischen Beistand für die Ukraine oder auch Israel gab es im Osten zu keinem Zeitpunkt eine gesellschaftliche Mehrheit. Antiamerikanismus und NATO-Skepsis prägen daher die Sicht auf den Krieg in der Ukraine, mehr noch als die vermeintliche Zuneigung zu Russland.

Beide Parteien sind auch im Westen erfolgreich, wo all das Besprochene nicht gilt.

Weil sich das Ansehen von Freiheit und Demokratie im Westen der Republik den Werten im Osten annähert. Die Menschen im Osten sind nämlich nicht so besonders, wie viele in ihrer Ostdeutschtümelei meinen. Ostdeutschland ist den Entwicklungen im Westen, auch Westeuropas, immer nur ein bis zwei Legislaturperioden voraus. Der Osten ist eine Art Laboratorium der Moderne und der Globalisierung. Hier lässt sich erkennen, wohin die Reise geht, wenn man nicht gegensteuert. Das macht die Beschäftigung mit dem Osten Deutschlands so interessant.

Mit Ilko-Sascha Kowalczuk sprach Sebastian Huld

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen