Politik

Oberst Reisner bei ntv.de "Der Durchbruch bei Balaklija dürfte in die Geschichte eingehen"

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Zerstörte Panzer in der Nähe von Balaklija im Oblast Charkiw. Hier gelang der Ukraine ein Durchbruch.

(Foto: picture alliance / AA)

Markus Reisner gehört zu den Experten, die Erfolge und Erfolgsaussichten der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland eher zurückhaltend bewerten. Jetzt sagt der Oberst des österreichischen Bundesheeres, der den Krieg seit seinem Beginn im Februar analysiert, die Offensive in Charkiw sei "ein wirklich durchschlagender Erfolg" der Ukraine. Der Krieg sei damit in eine neue Phase eingetreten. Von einem Wendepunkt will er aber noch nicht sprechen.

ntv.de: Die Ukraine hat schon mehrfach Gegenoffensiven angekündigt, aber meist waren die Erfolge überschaubar. Was passiert da seit einer Woche im Donbass?

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Oberst Markus Reisner ist Militärhistoriker sowie Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt.

(Foto: Screenshot)

Markus Reisner: Ich denke, man kann nach den Erfolgen der Ukrainer davon sprechen, dass wir eine neue Phase des Kriegs sehen. Zur Einordnung: Die erste Phase war der Angriff der Russen und der Abwehrerfolg der Ukrainer vor allem bei Kiew, mit der Folge, dass die Russen sich in den Donbass zurückgezogen haben. Die zweite Phase war der Kampf um den Donbass: Im Juli konnten die Russen Lyssytschansk erobern, die letzte größere Stadt der Region Luhansk.

Und nun hat die dritte Phase begonnen?

Ja. Die dritte Phase ist der Übergang der Initiative auf die ukrainische Seite mit den beiden Operationen in Charkiw und Cherson, wobei sich die Operation in Charkiw zu einem wirklich durchschlagenden Erfolg entwickelt hat. Die Russen mussten große Gebietsverluste hinnehmen und auf die nächste Verteidigungslinie zurückgehen, hinter den Fluss Oskil östlich von Charkiw.

Was waren die Gründe für den ukrainischen Erfolg?

Beide Operationen, die im Oblast Cherson und die im Oblast Charkiw, wurden von der Ukraine sorgfältig im Hintergrund vorbereitet. Es gab seit Wochen Gerüchte, dass Vorbereitungen laufen - die ukrainische Seite hat ja auch immer auf eine anstehende Offensive im Süden hingewiesen. Das hat sicherlich dazu geführt, dass die Russen begonnen haben, dort Kräfte zusammenzuziehen. Zu den Vorbereitungen seitens der Ukraine gehörte das Zerstören der Brücken über den Dnipro mit HIMARS-Raketenwerfern, auch Angriffe auf russische Militärbasen auf der Krim. Die Offensive in Cherson ist aber im Artilleriefeuer der Russen liegengeblieben. Dann kam am 6. September, völlig überraschend, das Losschlagen bei Charkiw. Da hatte es im Vorfeld ebenfalls Gerüchte gegeben, dass die Ukraine hier Kräfte zusammenzieht, auch in russischen sozialen Netzwerken. Russland hat darauf aber nicht reagiert, sondern sich weiter auf den Kampf im Donbass konzentriert. Angeblich wollte Russland aus Isjum Richtung Süden vorstoßen; sie haben dazu Berichten zufolge das neu aufgestellte sogenannte Dritte Armeekorps in Marsch gesetzt. Dabei handelt es sich um einen Großverband von Bodentruppen, der erst im August für den Krieg in der Ukraine gebildet worden war.

Isjum ist nach Angaben von Präsident Selenskyj mittlerweile zurückerobert worden.

Weil die Ukraine den Russen zuvorgekommen ist. Sie haben das sehr geschickt gemacht: Sie haben bei Balaklija angegriffen, am schwächsten Punkt der dortigen Stellungen - Russland hatte dort nur untergeordnete Truppen im Einsatz. Und dann ist etwas passiert, was es in der Geschichte immer wieder gab, was aber stets schwer voraussagbar ist: Auf russischer Seite ist Panik ausgebrochen. Die Russen haben noch versucht, Reserven heranzuholen, aber der Vorstoß der Ukrainer war zu schnell.

Welche Rolle spielten die Waffenlieferungen an die Ukraine bei den Offensiven?

Eine große. Da sind zum einen die HIMARS-Systeme, die wir im Süden gesehen haben, im Norden auch Raketen vom Typ AGM-88 HARM, mit denen die Ukrainer gezielt russische Radarsysteme angreifen und zerstören konnten. Gerade im Norden hat die Ukraine eine ganze Reihe von Waffensystemen eingesetzt, die es ihnen erlauben, hochmobil zu sein. Wir haben nicht nur die Kombination von Kampf- und Schützenpanzern sowie mobiler Artillerie gesehen, sondern auch viele kleine hochmobile Einheiten, die sehr schnell vorstoßen konnten. Diese stießen vor allem rasch in die Ortschaften vor und hissten dort die ukrainische Flagge. Diese Bilder verstärkten die Panik der Russen.

Die russische Armee scheint Panzer und Munition zurückgelassen zu haben. Sehen Sie Anzeichen für eine überstürzte Flucht?

Die Bilder in den sozialen Netzwerken sehen in der Tat sehr danach aus. Es gibt hier mehrere historische Beispiele, auf die man verweisen kann. Eines ist der Durchbruch der alliierten Streitkräfte in der Normandie 1944 - das Unternehmen COBRA, das dazu führte, dass die deutsche Wehrmacht in Frankreich im Kessel von Falaise eingeschlossen wurde. Die Deutschen versuchten damals, den Kessel überstürzt zu verlassen, mussten dabei allerdings eine Vielzahl an Geräten zurücklassen. Auch die Russen hatten offenbar Angst, von den Ukrainern eingekesselt zu werden, haben ihr schweres Gerät deshalb zurückgelassen und sind mit leichten Fahrzeugen so rasch wie möglich Richtung Osten ausgewichen.

Sie haben von einem durchschlagenden Erfolg gesprochen. Ist das schon ein Wendepunkt?

Nein, soweit würde ich nicht gehen. Wir haben taktisch-operativ auf dem Gefechtsfeld die Einleitung einer neuen Phase gesehen, und der Durchbruch bei Balaklija wird vermutlich in die Geschichte eingehen. Aber die Angriffe der Russen auf Umspannwerke und andere Einrichtungen der Stromversorgung haben gezeigt, was da noch auf die Ukraine zukommen kann. Und wir sollten nicht vergessen, dass der Krieg auch auf einer strategischen Ebene geführt wird, die in der aktuellen Euphorie nicht untergehen darf. Russland versucht über den Wirtschaftskrieg ganz gezielt, die Achillesferse der Ukraine zu treffen: Ohne die Unterstützung des Westens kann die Ukraine den Krieg nicht weiterführen. Dabei geht es nicht nur um die Lieferung von Waffen, auch von anderen Gütern, vor allem im Hinblick auf den Winter.

Wie will Russland den Westen davon abhalten, die Ukraine zu unterstützen?

Indem es Angst schürt: Russland suggeriert uns, dass es durch die Unterbrechung von Getreideexporten zu Hungersnöten kommen könnte, oder durch die Verringerung der Energieexporte zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch im Westen. Ein drittes Element ist das Schüren der Angst vor einer nuklearen Eskalation. Deshalb wird entscheidend sein, wie sich die nächsten Wochen und Monate entwickeln. Die Ukraine muss 35 Millionen Menschen durch den Winter bringen.

Benötigt die Ukraine nun andere Waffen aus dem Westen als bislang?

Bei den Angriffen auf die Infrastruktur sehen wir, dass die Ukraine immer noch darunter leidet, dass sie keine nachhaltig funktionierende Fliegerabwehr hat. Sie hat zwar bodengebundene Fliegerabwehr für den Nahbereich, die auch jetzt bei der Offensive geholfen hat - vor allem schultergestützte Manpads. Aber sie braucht auch Systeme für die Abwehr von ballistischen Raketen und Marschflugkörpern. Präsident Selenskyj hat vor einigen Wochen gesagt, Russland habe schon 3700 Marschflugkörper und Raketen abgefeuert. In ihrer täglich erscheinenden Erfolgsübersicht nennt die Ukraine aber nur eine geringe Zahl solcher Systeme, die abgeschossen werden - viele werden offensichtlich nicht abgeschossen. Eine funktionierende Fliegerabwehr würde es möglich machen, den Schutz des Hinterlandes zu gewährleisten. Der ist wichtig, um sicherstellen zu können, dass Versorgungsdepots, Treibstoffdepots und Infrastruktur nachhaltig gegen die russischen Angriffe geschützt werden.

Riskiert die ukrainische Armee bei Ihren Vorstößen, selbst eingekesselt zu werden oder ihre Logistik zu überfordern, also ohne Nachschub dazustehen?

Das ist eine Herausforderung, deren Ende man schwer voraussagen kann. Die ukrainischen Streitkräfte müssen diesen Erfolg jetzt nachhaltig absichern. Sie brauchen funktionierende Versorgungslinien und genügend Kräfte, um die Gebiete abzusichern. Im Moment scheint es so, dass die Ukraine das durch den Einsatz vieler mobiler Einheiten gut schaffen kann. Es ist auch derzeit nicht erkennbar, dass die russische Seite im großen Stil Kräfte für einen Gegenangriff bereitstellen kann.

Die ukrainische Armee sagt, sie habe seit Anfang September mehr als 3000 Quadratkilometer zurückerobert. Ist das plausibel?

Das ist durchaus plausibel, weil sich das mit Aussagen in den russischen sozialen Netzwerken deckt - man muss ja immer beide Seiten betrachten. Es gab nicht nur einen Vorstoß Richtung Kupjansk und nach Süden abdrehend Richtung Isjum, sondern der ganze Bereich nordwestlich von Kupjansk bis zur russischen Grenze ist unter Kontrolle der ukrainischen Streitkräfte.

Moskau hat am Samstag von einer "Neuaufstellung" seiner Truppen gesprochen. Ist das Rhetorik, um einen Rückschlag zu verschleiern?

Im Moment ist es irrelevant, was Moskau sagt, denn der Erfolg der Ukraine überwiegt. Der Krieg wird ja auch im Informationsraum geführt - hier ist die Botschaft, die von der Ukraine ausgeht: Wir können erfolgreich sein, wenn wir die richtigen Waffensysteme bekommen.

Wie geht es jetzt weiter?

Im Frühjahr werden wir mehr wissen. Ich habe zwei historische Beispiele genannt, ein weiteres wäre die Sommeroffensive der sowjetischen Truppen 1944, die Operation Bagration, die zu einem kompletten Zusammenbruch der deutschen Wehrmacht an der Ostfront führte. Aber vielleicht ist die historische Parallele die deutsche Ardennenoffensive Ende 1944: ein anfänglicher militärischer Erfolg, der die Niederlage dennoch nicht abwenden kann. Möglich ist auch, dass wir, wenn die russische Führung es nicht schafft, wieder Erfolge vorzuweisen, Ereignisse wie die Oktoberrevolution von 1917 sehen, auch wenn momentan nichts dafür spricht. Aber dieser Krieg hat uns schon mehrfach überrascht, das wird auch in Zukunft nicht anders sein.

Mit Markus Reisner sprach Hubertus Volmer

(Dieser Artikel wurde am Montag, 12. September 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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