Wahlen in der Türkei Erdogan zittert um die Macht
14.05.2023, 06:09 Uhr Artikel anhörenExperten erwarten ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Noch nie war die türkische Opposition so nah dran, Präsident Erdogan aus dem Amt zu vertreiben. Die hohe Inflation, die schlechte wirtschaftliche Lage könnten den Amtsinhaber den Job kosten. Doch kampflos wird er das nicht zulassen.
Die wirtschaftliche Lage im Land ist mies, die eigene Gesundheit schwächelt und der Herausforderer führt in den Umfragen: Vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen läuft es nicht gut für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Doch der Mann, der die Türkei seit 20 Jahren zunehmend autoritär regiert, mag angeschlagen sein, K. o. ist er noch nicht.
Zwei bis zehn Prozentpunkte liegt Erdogans Herausforderer, der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu, in den meisten Umfragen vorn. Der Rückzug des ehemaligen CHP-Politikers Muharrem Ince, der für die Vaterlandspartei in den Wahlkampf gezogen war, könnte den Abstand noch vergrößern. Auch wenn Ince trotzdem auf den Wahlzetteln stehen wird, erwarten Experten ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Ohnehin wird nur Präsident, wer am Sonntag mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereint. Möglich ist, dass es in zwei Wochen eine Stichwahl mit den beiden Bestplatzierten gibt - das wären wohl Erdogan und Kilicdaroglu.
Erdogan weiß, dass seine Macht, die in den vergangenen Jahren immer mehr zunahm, noch nie so gefährdet war wie bei dieser Wahl. Mit der Verfassungsreform von 2017 hat er das Land zum Präsidialsystem umgebaut und sich weitreichende Befugnisse gesichert. Als Präsident, Premier und Vorsitzender der islamisch-konservativen Partei AKP regierte Erdogan das Land zunehmend autoritär. Im Falle eines Wahlsiegs könnte er versuchen, seine Macht weiter zu zementieren.
Kilicdaroglu, der für ein Bündnis aus sechs Oppositionsparteien antritt, hat dagegen einen "Frühling in der Türkei" angekündigt, sollte er die Wahl gewinnen. Von Erdogan durchgesetzte Reformen will er zurückdrehen, zum Beispiel das Präsidialsystem wieder abschaffen, politische Gefangene sollen freikommen und die Meinungsfreiheit garantiert werden. Allerdings ist völlig unklar, wie eine Regierung aus Sozialdemokraten, Nationalisten und gemäßigten Islamisten aussehen könnte - oder ob das Bündnis zerfällt, wenn es erstmal an der Macht ist.
Erstwähler lehnen Erdogan mehrheitlich ab
Für einen Sieg des 74-jährigen Kilicdaroglu sprechen etwa die mehr als fünf Millionen Erstwähler. Laut einer Umfrage wollen nur 20 Prozent der Jungwähler bis 25 Jahre für den 69-jährigen Amtsinhaber stimmen - sie sind frustriert von der wirtschaftlichen Misere und der nach wie vor hohen Inflation. "Die Zustimmung zu Erdogan unter jungen Leuten ist gering", sagte der Meinungsforscher Erman Bakirci vom Umfrage-Institut Konda der Nachrichtenagentur AFP. "Erstwähler sind moderner und weniger religiös als der Durchschnittswähler und über die Hälfte von ihnen sind unzufrieden mit ihrem Leben."
Unterstützung erhält Kilicdaroglu auch von vielen Kurden. Die pro-kurdische Partei HDP gehört zwar nicht dem Oppositionsbündnis an, hat sich aber - wenn auch zögerlich - für Kilicdaroglu ausgesprochen. Viele Kurden hoffen auf ein Ende der Repressionen unter Erdogan, der Oppositionskandidat wird als das kleinere Übel gesehen. Für ihn spricht zudem sein alevitischer Glauben, zu dem sich auch viele Kurden bekennen.
Erdogans größtes Problem ist die wirtschaftliche Lage der Türkei. Nach seinem Amtsantritt 2003 begann eine Zeit schnellen Wachstums, in der Bruttosozialprodukt und Lebensstandard stiegen. Doch die türkische Lira verfällt bereits seit Jahren, befeuert durch Erdogans Politik niedriger Zinsen. Etliche Rücklagen wurden vernichtet, viele Menschen in die Armut getrieben - 2022 lag die Inflation zeitweise bei 85 Prozent.
"In der Vergangenheit konnte Erdogan seinen Anhängern viel bieten, aber die Wirtschaftskrise hat ihm geschadet", sagt Seda Demiralp, Vorsitzende der Abteilung für internationale Beziehungen an der Isik-Universität in Istanbul, Reuters. "Seine Anhänger mögen ihn immer noch, sie lieben ihn sogar. Aber sie sind unglücklich darüber, dass sie den Preis dafür zahlen müssen." Zuletzt sorgte zudem der Umgang der Regierung mit dem Erdbeben mit 50.000 Toten im Osten des Landes für Kritik. Nicht zuletzt, weil das Beben die Schattenseite des jahrelangen Bau-Booms verdeutlichte: Viele Gebäude stürzten wegen missachteten Baustandards ein.
Erdogan setzt auf Angriff
Weil er die Wahl zu verlieren droht, ging Erdogan zuletzt in die Offensive. Seinen Herausforderer nannte er einen "Säufer und Betrunkenen", rückte ihn in die Nähe von Terroristen - ohne Beweise dafür zu liefern. Innenminister Süleyman Soylu verglich die Wahl mit einem "politischen Putschversuch" gegen Erdogan. Dabei nutzt der Präsident seine Macht, um den Wahlkampf der Opposition zu torpedieren. Diese warf den Behörden zum Beispiel vor, einen Wahlkampfauftritt des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu von der CHP zu verhindern, dieser könnte bei einem Wahlsieg Vizepräsident werden.
Daneben verschärfte Erdogan auch den Druck auf die Kurden. Ende April wurden mehr als hundert kurdische Aktivisten, Journalisten und Anwälte im Rahmen eines von der Regierung als "Anti-Terror-Operation" bezeichneten Einsatzes verhaftet. Die Razzien seien eine Botschaft an den - überwiegend sunnitischen - Westen der Türkei gewesen, sagte Nahit Eren, der Vorsitzende der Anwaltskammer von Diyarbakir, AFP. Den Beamten des Landes versprach Erdogan derweil eine Lohnerhöhung von 45 Prozent.
Die brisante Gemengelage lässt Befürchtungen wachsen, dass es zu Wahlbetrug kommt. Deshalb schickt die Opposition 300.000 Beobachter in die Wahllokale. Hinzu kommen Wahlbeobachter der Nichtregierungsorganisation und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Unsicher sind aber vor allem die Wahlbedingungen im Erdbebengebiet: Betrüger könnten in den Trümmern gefundene Dokumente zur Stimmabgabe nutzen. "Wir wissen nicht wirklich, was mit den Ausweisen der Toten und Vermissten passiert ist", sagte der Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe von der SPD, der die 40-köpfige Wahlbeobachtungsmission des Europarats in der Türkei leitet. Da durch das Beben vertriebene Menschen zur Wahl in ihre ehemaligen Wohnorte zurückkehren müssen, organisiert die Opposition sogar Busreisen.
Für Unsicherheit sorgt aber auch, was passiert, wenn Erdogan tatsächlich abgewählt werden sollte. Wird er das Wahlergebnis anerkennen oder von Wahlbetrug sprechen? Wird er seine Anhänger und Anhängerinnen mobilisieren, um gegen die Wahl vorzugehen - wie es die USA bei Donald Trump erlebt haben? Der im Berliner Exil lebende türkische Journalist und Oppositionelle Can Dündar fürchtet, dass Erdogan am Wahlabend zu Protesten aufrufen könnte. "Und dann wäre unsicher, auf welcher Seite Polizei und Militär stehen würden", warnte er. CHP-Vize Oguz Kaan Salici ist da zuversichtlicher: "Wir leben nicht in einer Bananenrepublik", sagte er. "Die Macht wird genauso übergeben werden wie 2002", als die AKP siegte. "Niemand wird das verhindern."
Quelle: ntv.de, mli/AFP/rts