Mehrheit gegen geplanten Kanal Erdogans Istanbul-Kanal sorgt für Streit
17.07.2021, 15:17 Uhr
Laut der türkischen Regierung braucht der Bosporus eine Entlastung. Die Statistik sagt jedoch etwas anderes.
(Foto: picture alliance / NurPhoto)
In der Türkei kämpft die Regierungspartei AKP für den Bau einer zweiten Wasserstraße durch Istanbul, um den Bosporus zu entlasten. Die Opposition kritisiert, es gehe Präsident Erdogan nur ums Geld. Und das sieht ein großer Teil der Bevölkerung genauso.
Recep Tayyip Erdogan duldet eher selten andere Meinungen. Das dürfte mittlerweile bekannt sein. So stört es den türkischen Präsidenten auch wenig, dass es für sein neuestes Mega-Bauprojekt viel Kritik gibt. Es geht um den sogenannten Istanbul-Kanal. Die türkische Regierung will am westlichen Rand der Metropole einen Kanal bauen, um die Bosporus-Durchfahrt vom Marmarameer zum Schwarzen Meer zu entlasten. Ende Juni hat Präsident Erdogan den Grundstein für das Projekt gelegt, indem er den ersten Spatenstich für den Bau einer ersten Brücke über den geplanten Kanal getätigt hat. Bis 2026 will die Regierung den gesamten Kanal fertigstellen.
Bereits seit 2011 wirbt Erdogan für das Projekt, jetzt hat er Fakten geschaffen. Auch, weil die Kritik an dem Vorhaben immer größer wird, sagt Türkei-Expertin Tuba Eldem im ntv-Podcast "Wieder was gelernt". Die Forscherin der Stiftung Wissenschaft und Politik bezeichnet den geplanten Kanalbau als "eines der umstrittensten Projekte in der jüngeren türkischen Geschichte", das von vielen verschiedenen Experten vehement kritisiert werde. "Umweltschützer, Geologen, pensionierte Militärs, ehemalige Botschafter und führende Ökonomen, sie alle stellen sich gegen die wirtschaftlichen und ökologischen Kosten sowie die geologischen und geopolitischen Risiken, die das Projekt mit sich bringen könnte."
Harte Kritik der Opposition
Die Wissenschaftlerin beobachtet das umstrittene Kanal-Projekt seit geraumer Zeit. Und sie stellt fest, dass nicht nur das mediale Echo in Deutschland sehr negativ ist. Auch in der Türkei gebe es viele Vorbehalte gegen den Kanal. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung sei gegen den Bau. Das habe eine Umfrage im April gezeigt. "49 Prozent der Befragten haben sich gegen das Projekt ausgesprochen, nur 38 Prozent dafür. Die restlichen 13 Prozent hatten keine Meinung dazu. Parteipolitisch betrachtet, haben 13 Prozent der regierenden AKP gesagt, dass sie den Kanalbau ablehnen. Beim Koalitionspartner MHP waren es 37 Prozent", berichtet Eldem, die das Umfrageergebnis als Votum gegen den Kanal wertet: "Mindestens die Hälfte der türkischen Bevölkerung ist gegen das Projekt."
Derzeit dominiere ohnehin die türkische Opposition die Debatte. Man werde sich von jedem Land, dass das Projekt finanziert, distanzieren, kündigten die Gegner des Kanals an. Der Regierung gehe es nur darum, Geld zu verdienen, kritisiert Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu. Der CHP-Politiker sei zwar einer der führenden Kanal-Kritiker, aber er könne auf viele Mitstreiter bauen, sagt Expertin Eldem. "Auch die Gewerkschaftskammer türkischer Ingenieure und Architekten sowie mehrere prominente Ökonomen gehen davon aus, dass die Mieten und Lizenzen für Bauvorhaben der eigentliche Treiber des Projekts sind." Das gebe sogar das Ministerium für Infrastruktur und Verkehr zu, führt Eldem aus. "Laut des Ministeriums wird erwartet, dass der Großteil der Einnahmen aus dem Projekt aus Immobiliengeschäften kommen wird."
Teure Wohnungen am Kanalufer
Am Ufer des neuen Kanals sollen teure Wohnungen für etwa eine halbe Million Menschen gebaut werden, außerdem sind neue Geschäftszentren und Gewerbegebiete, ein Containerhafen und ein Yachthafen geplant.
Neben Gebühren für die Kanaldurchfahrt soll das der Türkei frisches Geld bringen, erklärt Eldem. "In den vergangenen Jahren ist der Anteil der Immobilienerlöse an den ausländischen Direktinvestitionen deutlich gestiegen - von 13 Prozent im Jahr 2007 auf 57 Prozent im Jahr 2020." Gleichzeitig würden ausländische Direktinvestitionen in die Türkei insgesamt weniger, betont Eldem. "Der Immobiliensektor ist aktuell der vielversprechendste Weg, um ausländisches Geld in die Türkei zu holen und die wirtschaftliche Situation zu stärken."
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
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Doch die Pläne sind ein großes Problem für die Umwelt. Dort, wo in einigen Jahren Schiffe durch Istanbul fahren sollen, liegt heute unter anderem der Sazlidere-Stausee, der Istanbul mit Wasser versorgt. Experten warnen deshalb vor den ökologischen Folgen des Riesenprojekts. "Umweltschützer und Umweltingenieure argumentieren, dass der Kanal die fragliche Wasserversorgung Istanbuls gefährdet und das umliegende Ökosystem zerstören könnte", sagt Eldem. Laut Umweltexperten könnten bis zu 20 Prozent des Istanbuler Trinkwasserreservoirs verloren gehen. Zwar soll im Gegenzug ein neuer Staudamm 200 Kilometer östlich von Istanbul gebaut werden, doch dadurch würden die Wasserpreise stark ansteigen, hieß es zuletzt in einem Bericht der "Deutschen Welle". Außerdem müssten für den 45 Kilometer langen Kanal über 200.000 Bäume gefällt werden.
"Schiffsverkehr ist zurückgegangen"
Die türkische Regierung hält trotz der Kritik an ihrem Vorhaben fest. Als offiziellen Grund für den Kanalbau nennen Erdogan & Co. immer wieder, dass der Bosporus überlastet sei. Doch das stimmt überhaupt nicht. Laut einer Statistik der Direktion für Küstensicherheit sind in den vergangenen Jahren sogar immer weniger Schiffe durch den Bosporus gefahren. "Der Schiffsverkehr ist in den letzten 15 Jahren um 43 Prozent zurückgegangen, weil größere Schiffe zum Einsatz kommen, die mehr Ladung transportieren. Aber auch der Rückgang der Ölreserven sowie Russlands Verlagerung von Ölexporten in die Ostseehäfen spielt eine Rolle", sagt Eldem.
Die türkische Regierung rechtfertigt den Kanalbau mit der Reduzierung von Risiken und Gefahren im Zusammenhang mit der Überlastung des Seeverkehrs im Bosporus. Aber auch das stimme nicht, betont Eldem im Podcast: "In den letzten 15 Jahren ist die Zahl der Unfälle um 39 Prozent gesunken, dank einer Reihe von Maßnahmen, die die türkischen Regierung seit 1994 eingeführt hat."
Der türkische Präsident will sich von niemandem in sein Lieblingsprojekt reinreden lassen. Schon 2019 hat er ein Machtwort gesprochen und in Richtung Bürgermeister Imamoglu gesagt: "Nicht du entscheidest über den Kanal. Die Befugnis darüber zu entscheiden, liegt bei mir."
Nicht ganz - zumindest hat die türkische Bevölkerung noch ein Wörtchen mitzuentscheiden. Nämlich darüber, ob Erdogan überhaupt an der Macht bleibt. 2023, übernächstes Jahr, sind gleichzeitig Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Und Erdogans AKP hat deutlich an Zustimmung verloren. Und wer nicht regiert, der kann auch nicht so leicht einen Kanal bauen.
Quelle: ntv.de