
Einen Tag vor dem Krieg konnten sich trotz vielen Hinweisen nur wenige vorstellen, was am nächsten Morgen passiert.
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Zwei Tage vor Kriegsbeginn sprach ntv.de mit drei jungen Frauen aus Kiew über ihr Leben in einer Stadt, die jederzeit angegriffen werden kann. Nur eine von ihnen hielt einen Überfall damals für möglich. Ein Jahr später blicken sie auf den Tag zurück, der alles änderte.
An den 23. Februar 2022 kann sich die Kiewerin Natalia Adamowitsch gut erinnern. Bei einem abendlichen Spaziergang fiel ihr auf, wie leer die Stadt ist. "Überall war Polizei, in der Luft lag Spannung und das Gefühl, dass eine Katastrophe unvermeidbar ist", erinnert sich die 29-Jährige ein Jahr später. Sie hatte recht - am nächsten Morgen wurde sie von Explosionen aus dem Schlaf gerissen. Der Krieg begann.
Adamowitsch (Name geändert) ist eine von drei jungen Frauen aus Kiew, mit denen ntv.de am 22. Februar 2022, zwei Tage vor Beginn des Krieges, darüber sprach, wie sie mit der Gefahr eines möglichen russischen Angriffs umgehen. Alle drei sind Belarussinnen, wegen der Repressionen in ihrer Heimat verließen sie das Land und fanden in der Ukraine ein zweites Zuhause. "Vor Diktatur geflohen, im Krieg gelandet?" hieß der Artikel, der am 24. Februar hätte erscheinen sollen, wegen des Überfalls der Kreml-Truppen aber nie erschien, weil er nicht mehr aktuell war.
In dem nicht veröffentlichten Interview bezeichnete Natalia ihren Umzug nach Kiew vor rund vier Jahren als die beste Entscheidung ihres Lebens. "Ich habe hier viel Schönes erlebt, Freunde kennengelernt, coole Jobs gefunden und meine Liebe getroffen", schwärmte die Medien-Producerin damals. Ein Jahr später sitzt Natalia in einem Berliner Café und blickt auf die vergangenen zwölf Monate zurück. "Es fühlt sich an, als ob ich in nur einem Jahr zehn Jahre älter geworden bin", sagt sie. Ihr Partner ist in Kiew geblieben. Er kann und will nicht weg aus seinem Land. Seit zwölf Monaten führt das Paar nun eine unfreiwillige Fernbeziehung.
"Ich bin zwar physisch in Berlin, mental aber lebe ich woanders", sagt die 29-Jährige. Sie behielt zwar ihren Job bei einem ukrainischen Medium und arbeitet von Zuhause aus. Mit dem Gehalt von etwas mehr als 1000 Euro kommt sie in Deutschland aber nur schwer über die Runden. "Mein Leben ist auf Pause gestellt. Es fühlt sich an, als ob ich eingefroren wurde und nur noch abwarten kann, bis der Krieg vorbei ist", beschreibt Natalia ihren Alltag in Berlin - einer Stadt, in der sie früher eigentlich leben wollte, jedoch nicht als Flüchtling. "So werden Träume wahr", lacht sie bitter.
"Wenn dein Zuhause von deinem anderen Zuhause angegriffen wird"
Als am 24. Februar die ersten Raketen einschlugen, herrschten in Kiew Panik und Ungewissheit. Es war unklar, was sicherer ist - zu bleiben oder Richtung Westen aufzubrechen. Natalia und ihr Freund entschieden sich schließlich für das Letztere. "Im Auto habe ich die ganze Zeit geweint", erinnert sie sich. "Wir ließen alles zurück in der Wohnung: Kleidung, Lebensmittel, Blumen in der Vase." Sie habe das Gefühl gehabt, sie sei in einem Kriegsfilm, "nur dass es kein Film ist". Nach wenigen Tagen im Westen der Ukraine musste Natalia sich von ihrem Freund verabschieden und allein die EU-Grenze nach Polen passieren. Nach weiteren zwei Tagen kam sie schließlich in Berlin an.
"Mein größter Erfolg in diesem Jahr ist, dass ich noch nicht wahnsinnig geworden bin", sagt Natalia. "Manchmal denke ich, wie traurig es ist, dass ich meine jungen Jahre so verbringe: ohne Freunde, ohne meinen Partner, in Einsamkeit in einem fremden Land." Natalia kann auch nicht nach Belarus zu ihren Eltern zurück: Das Regime des dortigen Machthabers Alexander Lukaschenko geht mit Gewalt und Festnahmen gegen Kriegsgegner und Oppositionelle vor. Belarus ist Teil der russischen Aggression gegen die Ukraine. Lukaschenko stellt Putins Streitkräften Militärbasen, Technik und das Staatsgebiet für Angriffe auf die Ukraine zur Verfügung. "Es ist ein sehr schmerzhaftes Gefühl, wenn dein Zuhause von deinem anderen Zuhause angegriffen wird. Wenn du weißt, dass deine Stadt, in der deine Freunde und deine Lieben leben, von deinem Heimatland aus beschossen wird."
"Mein Glaube an Gerechtigkeit verschwand für immer"
Von den drei jungen Frauen, mit denen ntv.de vor einem Jahr sprach, war Natalia die einzige, die an die Möglichkeit eines großangelegten Krieges geglaubt hatte. Russland hatte bereits seit Ende 2021 seine Truppen an den ukrainischen Grenzen zusammengezogen. Natalias Freundin Iryna Leutschanka sprach damals zwar davon, dass man in Kiew eine ständige Unruhe spüre. Das Szenario eines plötzlichen Angriffs auf Kiew schien ihr jedoch unwahrscheinlich. "Ich glaube nicht, dass es zu einem ausgewachsenen Krieg kommt", sagte die 33-Jährige damals. "Ich hatte es so satt, mich in meinem Land zu fürchten, und habe absolut keine Lust, auch hier in Angst zu leben", begründete sie mit Blick auf Verfolgung von Oppositionellen in Belarus ihre relative Gelassenheit. Zwei Tage später begann der Krieg.

Iryna Leutschanka verlor bei einem russischen Raketenangriff in den ersten Kriegstagen eine Freundin.
(Foto: privat)
"Ich hatte manchmal Alpträume, dass ich von einer Explosion aufgeweckt werde. Und dann passierte es wirklich", erinnert sich jetzt die Journalistin an den ersten Tag des Kriegs in einem Telefonat mit ntv.de. Heute lebt Iryna in Warschau - ihr Arbeitgeber richtete in der polnischen Hauptstadt ein Büro für seine geflohenen Mitarbeiter ein. Den ersten Monat nach dem Angriff verbrachte sie aber in Lwiw. "Ich habe nur die ganze Zeit Nachrichten gelesen, als Ehrenamtliche gearbeitet und Spenden gesammelt." Für das gesammelte Geld kaufte sie Ausrüstung für Krankenhäuser und Luftschutzbunker. In dieser Zeit starb eine Freundin von Iryna bei einem Raketenangriff auf den Kiewer Fernsehturm. "Sie war übrigens Russin", ergänzt Iryna.
Seit nunmehr elf Monaten lebt die 33-Jährige in Polen. "Ich merke, dass ich keine Kraft habe, mich zu integrieren und die Sprache zu lernen", bedauert sie. Langsam gehe es ihr besser, "weil ich Antidepressiva nehme". Bei Iryna wurden Depression und Angststörung diagnostiziert. Auch ihr Freund ist in der Ukraine geblieben - "so richtig zur Ruhe kommen klappt deswegen nicht". Durch die Herausforderungen und Schrecken, die sie erleben musste, sei sie in diesem Jahr ein anderer Mensch geworden. "Mein Glaube an Gerechtigkeit verschwand für immer. Die Illusion, dass das Leben planbar ist, ist auch weg", sagt sie. "Ich habe aber verstanden, dass ich viel stärker bin als ich dachte - oder ist das nur die Wirkung der Antidepressiva?"
"Ukrainische Tiktok-Videos sind fast das Einzige, was mich aufmuntern kann"
Die ebenfalls 33-jährige Natascha Kavaleva erzählte vor einem Jahr, wie der Humor ihr dabei half, mit der Gefahr eines möglichen russischen Angriffs umzugehen. Um der Angst Herr zu werden, machten sie und ihre Freunde Witze über die Situation. "Das nimmt mir die Nervosität. Ich finde es gut, dass die Menschen optimistisch in die Zukunft blicken", sagte sie zwei Tage vor Kriegsbeginn. Auch ein Jahr später setzt Natascha auf das bewährte Mittel: "Ukrainische Tiktok-Videos sind fast das Einzige, was mich aufmuntern kann. Die Ukrainer haben einen unglaublichen Humor, sehr subtil und ansteckend. Es ist unglaublich, wie sie selbst in schrecklichsten Situationen Wege finden, optimistisch zu bleiben und zu lächeln. Das ist sehr inspirierend und ermutigend", sagt sie nun.
Natascha lebt inzwischen auch in Warschau. In der friedlichen polnischen Hauptstadt erinnert sie sich aber immer wieder an die Explosionen, die sie am ersten Tag des Krieges von ihrer Kiewer Wohnung aus gehört hatte. "Dieses Geräusch ist schwer zu vergessen. Genauso wie man die Militärkolonnen nicht vergessen kann, die in die Stadt fahren. Und die Kampfjets, die über die im Stau stehenden Autos hinwegbrausen, und den feurigen Sonnenuntergang irgendwo bei Hostomel".
Auch in Nataschas Leben hat sich vieles geändert. "Ich bin wütender geworden", sagt sie am Telefon. "Ich bin weniger tolerant geworden. Im Moment habe ich absolut keine Lust, zu versuchen, Standpunkte zu verstehen, die Russland in irgendeiner Weise rechtfertigen würden", erklärt die 33-Jährige. Auch die russische Sprache sei aus ihrem Alltag nahezu verschwunden. "Ich habe mir vorgenommen, Belarussisch zu sprechen", sagt Natascha, die 2020 wegen der Teilnahme an den Protesten gegen Diktator Lukaschenko zuerst in Haft sitzen und dann in die Ukraine fliehen musste.
Eins bleibt aber erhalten. Vor einem Jahr äußerte Natascha im Interview ihren größten Wunsch: "Ich möchte, dass Putins Russland für immer aus dem Leben von Belarus, der Ukraine und einem Dutzend weiterer Länder verschwindet, die es daran hindert, sich weiterzuentwickeln, und sie endlich in Ruhe lässt." Daran hat sich nichts geändert.
Quelle: ntv.de