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Person der Woche: Kais Saied Europas neuer Türsteher ist ein erschreckend übler Autokrat

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Besuch in Tunis: Giorgia Meloni, Ursula von der Leyen und Kais Saied.

Besuch in Tunis: Giorgia Meloni, Ursula von der Leyen und Kais Saied.

(Foto: dpa)

Ursula von der Leyen, Giorgia Meloni und Mark Rutte reisen eigens nach Tunis, um ein Migrationsabkommen auszuhandeln. Die EU-Spitzen bieten Präsident Saied viel Geld. Doch der Autokrat tönt, er wolle nicht Europas Grenzpolizei spielen. In Wahrheit pokert er nur hoch, will Israel vernichten und beschimpft Flüchtlinge als "migrantische Horden".

Die Massenflucht über das Mittelmeer nimmt gewaltige Züge an. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind im vergangenen Jahr 159.410 Bootsflüchtlinge gezählt worden, in diesem Jahr sind bis zum 11. Juni bereits weitere 71.342 hinzugekommen. Die Dunkelziffer ist erheblich, auch bei den Toten. Das UNHCR zählt offiziell 1037 Ertrunkene allein in diesem Jahr.

Trotz der humanitären Katastrophe stürzen sich derzeit jeden Tag 400 bis 500 weitere Migranten in die Meeresfluten, um Europas Küsten zu erreichen. Die Allermeisten brechen derzeit in Tunesien auf, dort warten Zehntausende auf eine Gelegenheit zur Überfahrt nach Italien oder Malta. Italien hat darum bereits den nationalen Notstand ausgerufen.

Seit Monaten wirbt die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni um ein Grenzschutzabkommen mit Tunesien. Die EU solle Staaten wie Tunesien dafür bezahlen, die Flüchtlingsboote wieder sicher in die tunesischen Häfen zurückzubringen und so den Massenexodus zu beenden. Die Flüchtlinge würden es dann gar nicht mehr versuchen. Ähnliches hatte die EU im Jahr 2016 mit der Türkei vereinbart. Meloni hatte den tunesischen Präsidenten bereits Anfang der Woche besucht, um die Chancen für ein Abkommen zu sondieren.

Nun ist die EU mit einer bemerkenswert hochkarätigen Delegation angereist. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte neben Meloni auch den niederländischen Regierungschef Mark Rutte dabei. Dass gleich drei Staatenlenker auf einmal persönlich anreisen, zeigte die Dringlichkeit der Angelegenheit für die Europäische Union. Tunesiens Präsident wird plötzlich zu einer Schlüsselfigur Europas.

Saied treibt den Preis nach oben

Von der Leyen stellte Tunesien eine "verstärkte Partnerschaft" und Finanzhilfen in Höhe von über einer Milliarde Euro in Aussicht. 150 Millionen Euro könnten "sofort" für den tunesischen Staatshaushalt zur Verfügung gestellt, weitere 900 Millionen als langfristige Unterstützung verwendet werden. Von der Leyen schlug Saied ein Fünfpunkteprogramm vor, das neben den Finanzhilfen vor allem EU-Unterstützung für Tunesiens Kampf gegen irreguläre Migration umfasst. Ein Abkommen soll möglichst bis zum kommenden EU-Gipfel unterzeichnet werden, der Ende Juni geplant ist.

Doch Saied weiß um den Handlungsdruck der Europäer - und pokert. Sein Land werde keine Grenzpolizei für Europa sein, ließ er als Reaktion auf von der Leyens Angebot verlautbaren. Unter Diplomaten war sofort klar, dass Saied den Preis für ein Abkommen nach oben treiben wolle. Im Grundsatz aber will er durchaus weiterverhandeln. Meloni sprach daher von einem "wichtigen ersten Schritt" zur Schließung der Mittelmeer-Route. Die Unterhändler verhandeln nun weiter. Ein Brüsseler Diplomat beschreibt die Lage so: "Faktisch wollen wir Saied als neuen Türsteher Europas anheuern. Und der lässt sich das so teuer wie möglich bezahlen."

Rassist und Antisemit

Ein Problem für die Brüsseler Strategie liegt darin, dass Saied ein reichlich unzuverlässiger Partner werden dürfte. Zum einen ist die innenpolitische Lage in Tunesien so angespannt, dass Saied um seine Macht schwer ringt und immer brutaler regiert. Zum anderen ist Saied nicht gerade ein Menschenrechtsfreund und Demokrat. Der Präsident gilt als übler Schwulenverfolger, Israelhasser und Islamist im Anzug. Er spricht sich für die Todesstrafe aus und gegen die Gleichberechtigung von Frauen im Erbrecht. Saied lehnt die Normalisierung der Beziehungen zu Israel nicht nur ab, bezeichnet sie sogar als "Verrat". "Wir sind in einem Kriegszustand mit dem Zionismus, und Normalisierung ist Verrat", sagte er. Bei der Einweihung der palästinensischen Vertretung in Tunesien posierte er mit Mahmud Abbas vor eine Karte, auf der Israel getilgt ist. Als im Mai fünf Personen bei einem Attentat auf die Synagoge von Djerba umgebracht wurden, spielte Saied das Attentat herunter und verbat sich Kritik. Der Westen messe mit zweierlei Maß, wenn er von einem antisemitischen Anschlag spreche, während "Palästinenser jeden Tag getötet werden und niemand darüber spricht".

Die meist aus dem südlichen Afrika stammenden Flüchtlinge attackiert Saied offen rassistisch und schimpft sie "migrantische Horden". Saied befeuert die fremdenfeindliche Stimmung in Tunesien aktiv und verbreitet sogar die Verschwörungstheorie von einem "schwarzafrikanischen Plan". Es gebe einen "seit Beginn des 21. Jahrhunderts ausgeheckten kriminellen Plan". Dieser habe das Ziel, die "demografische Zusammensetzung Tunesiens" zu verändern. Die Afrikanische Union (AU) hat die Äußerungen des tunesischen Präsidenten über Migranten als "schockierend" zurückgewiesen. AU-Kommissionspräsident Moussa Faki Mahamat forderte von Saied offiziell, die "rassistische Hassrede" zurückzunehmen. Doch Saied zeigt sich unbeeindruckt. Er schürt rassistische Stimmungen gegen Minderheiten, um die eigene Bevölkerung abzulenken. Daher kommt es regelmäßig zu gewalttätigen Übergriffen auf schwarze Menschen.

Wie Robespierre ohne Guillotinen

Mit diesem Präsidenten dürfte eine humanitäre Lösung der Migration moralisch heikel werden. Saied hat 2021 in einem kalten Staatsstreich das Parlament entlassen und regiert seither als Autokrat per Verordnungen. Stück für Stück beseitigt der Präsident die letzten Errungenschaften des Arabischen Frühlings. Reihenweise werden Oppositionelle, Journalisten und Gewerkschafter inhaftiert. Die wirtschaftliche Lage ist miserabel, Massenarbeitslosigkeit kennzeichnet die Lage, selbst Engpässe bei Nahrungsmitteln und Medikamenten sind Alltag und die Inflation verschärft die Lage zusätzlich. Neben den Flüchtlingen aus Mali, Tschad und Niger wollen daher auch immer mehr Tunesier nach Europa fliehen.

Jura-Professor Saied stilisiert sich in der heimischen Presse als Mann der Bescheidenheit, der in einer einfachen Beamtenwohnung lebt und mit Bus und Bahn umherfährt. Er spricht bewusst Hocharabisch und gibt sich als Bildungsislamist, der konservativ-muslimische Werte verteidigt. Seine Gefolgsleute in Tunesien beschreiben ihn als redlichen Arzt eines an Korruption erkrankten Volkes. Die Arzt-Metapher spielt auf seinen Onkel väterlicherseits, Hicham Saied an. Der war der erste Kinderarzt in Tunesien, der in den 1970er Jahren durch die Trennung Siamesischer Zwillinge weltweite Bekanntheit erlangte. Um Tunesien zu kurieren, braucht Saied die Wirtschaftshilfe aus Europa also dringend. Das Land hat nur noch für drei Monate Devisenreserven. Finanzminister Siham Nemsieh warnt bereits öffentlich, dass der "Bankrott des Staates" drohe. Ohne ein Rettungsabkommen mit dem IWF scheint die Zahlungsunfähigkeit unvermeidlich. Die Zahlungen der EU sind für das wirtschaftlich angeschlagene Land daher eine Rettung in letzter Minute. Saied könnte damit seine wankende Macht retten. Die Menschenrechte von Flüchtlingen bis Oppositionellen sind ihm dabei ziemlich egal. Das französische Magazin "Le Point" beschreibt die Strategie des rücksichtslosen Juristen, der zur Verteidigung der Republik eine Terrorherrschaft begründet, so: Saied sei "wie Robespierre, nur ohne Guillotinen".

Quelle: ntv.de

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